Rede Sigmar Gabriel Bundesminister für Wirtschaft und Energie Anlass Gedenkveranstaltung der Bundesregierung zum 61. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 am 17. Juni 2014 11.00 bis 11.45 Friedhof Seestraße 92, 13347 Berlin Redezeit: ca. 10 Minuten Es gilt das gesprochene Wort! Sperrfrist: Beginn der Rede!
- 1 - Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin Pau [Deutscher Bundestag] sehr geehrter Herr Vizepräsident Gram [Abgeordnetenhaus von Berlin] Exzellenzen [es haben 8 Botschafter (AUT, ESP, ITA, IRL, LTU, LUX, MLT, PRT) zugesagt] sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister Wowereit, sehr geehrter Herr Bundesminister Altmaier, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete [des Deutschen Bundestages und des Abgeordnetenhauses von Berlin], sehr geehrter Herr Fritsch [offizieller Vertreter der Vereinigung 17. Juni 1953 e.v.], liebe Angehörige der Opfer und Vertreter von Opferorganisationen,
- 2 - liebe Schülerinnen und Schüler der Ernst-Schering-Oberschule aus Berlin-Wedding, sehr geehrte Damen und Herren wir ehren heute elf Opfer der Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, die hier in dieser Gedenkstätte begraben liegen. Wir ehren sie stellvertretend für viele andere, die bei diesem Aufstand am 16. und 17. Juni 1953 ihr Leben gelassen haben oder ihre Freiheit verloren.
- 3 - Die genaue Zahl der Menschen, die während des Aufstandes umkamen oder anschließend inhaftiert wurden, wird sich wohl nie genau ermitteln lassen. Die DDR hatte kein Interesse daran, das wahre Ausmaß des Aufstandes sichtbar werden zu lassen. Hunderte, vielleicht Tausende waren es, die in die Gefängnisse gehen mussten. Viele haben ihr Leben und ihre Freiheit riskiert für die Freiheit aller Menschen in der DDR. Sie haben einen hohen Preis bezahlt. Dennoch: Heute wissen wir, dass sie sich langfristig durchgesetzt haben.
- 4 - Wir verneigen uns vor denen, die 1953 Leben und Freiheit riskiert haben, im Namen aller Demokratinnen und Demokaten in Deutschland und danken Ihnen noch heute für ihren Mut! Sehr geehrte Damen und Herren, die Erinnerung an den Aufstand ist auf eine paradoxe Weise zweigeteilt. Dort, wo der Aufstand stattfand und das heißt: überall in der DDR tat die SED alles, um den beinahe erfolgreichen Volksaufstand vergessen zu machen.
- 5 - Sie hatte damit einigen Erfolg: Die Protagonisten schwiegen aus Angst, oder sie verließen die DDR, bis die Mauer diesen Ausweg verbaute. Im demokratischen Westdeutschland schaute man in den Junitagen des Jahres 1953 hilflos zu, wie sowjetische Panzer und DDR-Gerichte einen demokratischen Aufstand erbarmungslos niederschlugen. Aber gerade hier wurde der 17. Juni zu einem nationalen Gedenktag, der die Forderungen der Aufständischen lebendig hielt.
- 6 - Klar ist: Die meisten Menschen, die sich an den jährlichen Tag der deutschen Einheit am 17. Juni noch deutlich erinnern können, haben das vierzigste Lebensjahr hinter sich. Für die Jungen, so wie die Schülerinnen und Schüler der Ernst-Schering-Oberschule aus dem Wedding, die heute an dieser Gedenkveranstaltung teilnehmen, muss man immer wieder an den Mut der Aufständischen vom 17. Juni 1953 und an die Gründe für ihren Widerstand erinnern.
- 7 - Der Tag der deutschen Einheit hielt in Westdeutschland die Vorstellung von einem freien Leben für alle Deutschen lebendig. Er erinnerte auch an die Einheit Deutschlands. Aber erst in den turbulenten Novembertagen des Jahres 1989 und in der sich anschließenden friedlichen Revolution zeigte es sich, dass die DDR auch nach 1953 niemals ein gefestigter Staat geworden ist. Die Geschichte lehrte 1989 ein weiteres Mal, dass sich mit Panzern, Geheimpolizei und Sondergerichten eben kein stabiler Staat errichten lässt.
- 8 - Daran wurde übrigens auch bei der letzten Feierstunde aus Anlass des Tags der deutsche Einheit im Deutschen Bundestag erinnert: Am 17. Juni 1989 hielt Erhard Eppler dort eine große Rede. Unvergessen ist seine fast prophetische Warnung an die SED-Führung, dass sie mit ihrer Starrheit den eigenen Untergang heraufbeschwöre. So kam es auch, schneller als Erhard Eppler oder irgendjemand sonst es vorhersehen konnte. Weder die Rote Armee noch der riesige Apparat der Staatssicherheit konnte den Kollaps der Diktatur in der DDR verhindern, die nie ihre Bürger ganz für sich gewinnen konnte.
- 9 - Im Herbst und Winter 1989 erreichten die Demonstranten in Leipzig, Berlin und vielen anderen Orten der DDR, womit die Aufständischen 1953 noch scheiterten. Am 17. Juni 1953 hatten hunderttausende von Menschen in der DDR gegen erhöhte Arbeitsnormen und schlechte Löhne demonstriert. Aber es ging nicht allein um eine bessere materielle Lage.
- 10 - Es ging bei den Streiks, Betriebsbesetzungen und friedlichen Demonstrationen vor allem um fundamentale Menschen und Bürgerrechte. Es ging sofort auch um Freiheit, Einheit und Demokratie. Der Volksaufstand in der DDR gehört damit in die demokratische Tradition Deutschlands. Im Herbst 1989 lauteten die Forderungen der protestierenden Menschen in der DDR ganz ähnlich: Auch sie forderten eine bessere Versorgung, gerechte Löhne, gute Arbeitsbedingungen, individuelle Reisefreiheit, aber auch volle Bürgerrechte, freie Wahlen und eine demokratische Republik.
- 11 - Die Voraussetzungen für ein freies Leben in Sicherheit hat Deutschland zumindest für die meisten mit der friedlichen Revolution geschaffen. Sicher: Es bleibt noch viel zu tun. Die Lebensverhältnisse in Ost und West sind immer noch nicht angeglichen. Längst nicht alle Menschen leben frei von Not und Zwängen. Aber es besteht kein Zweifel, dass Deutschland auf einem guten Weg ist, auch die innere Einheit in Freiheit zu vollenden.
- 12 - Freiheit genießen aber längst nicht alle Menschen in Europa, schon gar nicht im weltweiten Maßstab. Die Ungleichheit wächst, und Arbeit bedeutet für immer mehr Menschen, in vollständiger Abhängigkeit bis hin zur Sklaverei zu leben. Wenn wir diese Welt etwas gerechter und freier machen wollen, brauchen wir ein starkes und einiges Europa. Denn einzeln werden wir in der Welt nicht gehört.
- 13 - Aber: Wenn wir heute des Aufstands gegen schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen und für Freiheit und Demokratie in der DDR am 17. Juni 1953 gedenken, dann tun wir das in dem Wissen, dass diese Forderungen weltweit nur für eine Minderheit von Menschen eingelöst ist. Manchmal hört man sogar, dass mit Blick auf den Erfolg die Zahl der Menschen zunimmt, die glauben, Demokratie sei für eine moderne Wirtschaft nur ein Hindernis.
- 14 - Denen, die so denken, kann ich die deutsche Erfahrung nach dem 17. Juni 1953 entgegenhalten. Wohlstand, wirtschaftlicher Erfolg und eine demokratische Ordnung gehören eng zusammen. Ohne sie gibt es keine verlässliche, alle Menschen gut versorgende Wirtschaft, und auch keinen gesellschaftlichen Frieden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir werden auch in Zukunft Freiheit und Demokratie als universelle Werte verteidigen, die auch die Voraussetzungen für nachhaltig wirtschaftlichen und sozialen Erfolg sind. Das ist die Mahnung, die von den Gräbern an dieser Gedenkstätte ausgeht.
- 15 - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!