65 Jahre Parität. Die Geschichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin e.v. Den Wandel im Blick offen und innovativ.



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Transkript:

Hollweg Franke Witten Den Wandel im Blick offen und innovativ. 65 Jahre Parität Die Geschichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin e.v.

Hollweg Franke witten Den wandel im blick offen und innovativ. 65 Jahre Parität Die Geschichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin e.v.

8 Vorwort kapitel 1 10 Der Fünfte Wohlfahrtsverband (Die Jahre 1924-1934) Wer unten ist, fordert Gleichheit. Wer oben ist, behauptet, sie sei erreicht. 12 Herausbildung von Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik 18 Gründung und Ausbau des Fünften Wohlfahrtsverbandes 21 Landesverband Berlin im Fünften Wohlfahrtsverband 23 Übergang des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (nsv) 27 Der Paritätische Wohlfahrtsverband als Opfer des Nationalsozialismus? 36 Hat der Fünfte Wohlfahrtsverband ein gemeinsames Ideal? Ein Exkurs kapitel 2 42 Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin e.v. Gründung und erste Jahre (Die Jahre 1950-1953) 49 Anfänge der Wohlfahrtspflege in West-Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg 54 Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin als Träger sozialer Maßnahmen 60 Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin als Dachverband seiner Mitgliedseinrichtungen 63 Ausschluß von Selbsthilfeverbänden 64 Festigung der inneren Struktur 67 Stefanie Hirt, geb. Kirsch (1890-1972) Ein Portrait 2 3 inhaltsverzeichnis Lothar Schmidt (*1922), deutscher Politologe und Hochschullehrer

kapitel 3 72 Jahre der Stabilität (Die Jahre 1953-1970) 73 Wird die Freie Wohlfahrtspflege einmal überflüssig? 81 Entwicklung im Berliner Landesverband Gesundheitsfürsorge Offene Fürsorge Altenarbeit Das Jugendwerk im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin Finanzierung und Liga-Schlüssel kapitel 4 96 Umbruch und Ausbau Die siebziger Jahre 97 Der Verband, ein sympathischer Liliputaner 100 Generationswechsel 103 Ausbau der Landesgeschäftsstelle Ausbau zum Dachverband 111 Der Berliner Landesverband als Träger von Eigeneinrichtungen oder als Dachverband seiner Mitglieder? 114 Erste Öffnung für neue Ansätze sozialer Arbeit kapitel 5 120 Die Selbsthilfebewegung bringt grundlegende Veränderungen im Verband Die achtziger Jahre 134 Selbsthilfe und die Krise des Sozialstaats 136 Kritik an Wohlfahrtsverbänden 139 Neue Subsidiaritätspolitik und Berliner Modell 142 Sparmaßnahmen und Wachstumskrise des Berliner Landesverbandes 145 Strukturelle Anpassungen kapitel 6 154 Maueröffnung und gesellschaftliche Krise führen zur Flucht nach vorn Die neunziger Jahre 159 Die Öffnung der Mauer Folgen für den Paritätischen 169 Gestalten statt verwalten Die Freiheit der Wohlfahrtspflege als Programm 186... der Verband wird sehr ernst genommen und geschätzt Der Paritätische entwickelt sich zum Meinungsführer 192 Fitmachen für den Wettbewerb paritätische Dienstleistungen für die Mitgliedsorganisationen 201 Vorsorge und Modellentwicklung Der Paritätische geht neue Wege 206 Ausblick kapitel 7 210 Startposition des Verbandes für das erste Jahrzehnt (Die Jahre 2000-2004) 215 Der Paritätische in den ersten zehn Jahren des dritten Jahrtausends 215 Paritätischer fordert Wende in der Finanz- und Sozialpolitik 217 Der Paritätische als Akteur in der Berliner Bildungsreform 1 218 Verhandlungen zu einer neuen Finanzierungssystematik Entgelte (2000) 219 Der Paritätische im Kampf um die Landeshaushaltsmittel 222 Erste Liga-Kampagne Berlin bleibt sozial! Gemeinsam gegen Sozialkürzungen, Herbst 2002 224 Stadtstaatenvergleich zur Versorgung von Menschen mit Behinderung 227 Solidarpakt im Öffentlichen Dienst (2003-2009) 228 Berliner Rahmenvertrag für Jugendhilfe und neue Entgeltvereinbarung 229 Zweite Liga-Kampagne Berlin bleibt sozial! 232 Paritätisches Konzept zum Budget Jugendhilfe 233 Führungswechsel in der Verbandsspitze des Paritätischen Berlin (2003) 234 Treuhänderische Vertragsfinanzierung 2001-2005 4 5 inhaltsverzeichnis inhaltsverzeichnis

kapitel 8 238 Der Paritätische als Akteur in der Berliner Bildungsreform 2 (Die Jahre 2005-2009) 238 Umstrukturierung von Kita, Hort und Schule 240 Neue Aufgaben durch Hartz iv 242 Verkauf des Paritätischen Unternehmensverbunds an die Sana Kliniken GmbH (2005) 244 Gründung der Stiftung Parität Berlin 247 Dritte Liga-Kampagne: Glücksspiel Zukunft! (2005) 250 Paritätische Initiative für ein Netzwerk Kinderschutz 2005/06 251 Stadtstaatenvergleich Jugendhilfe Wende in der Jugendhilfepolitik 253 Treuhänderische Vertragsfinanzierung (2006-2010) 255 Kampagne gegen Rechtsextremismus 257 Neues Verbandslogo 259 Bürgerschulen für Berlin 263 Transparenz und Pflegequalität 267 un-konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung 268 Der Paritätische als Akteur in der Berliner Bildungspolitik 3 kapitel 9 270 Kritik und Wandel (Die Jahre 2010-2014/15) 270 Der Paritätische zum Treberhilfe-Skandal 276 Berliner Modell der Treuhandverträge beendet 279 Rahmenfördervertrag für Sozial- und Gesundheitsprojekte 280 Bundesfreiwilligendienst anstelle von Zivildienst ab 1. Juli 2011 282 Nueva Innovation und Inklusion bei der Erfassung von Qualität 283 Virtuelles Mahnmal für die ns- Euthanasie -Opfer 284 Prof. Barbara John Ombudsfrau für die Opfer und Hinterbliebenen der nsu-mordserie 285 Paritätische Engagementstudie 2013 288 Tarifanpassungen im Entgelt- und Zuwendungsbereich 290 Berliner Rahmenvertrag Soziales und Entgelte 293 Bezahlbaren Wohnraum schaffen! 295 Häuser der Parität 299 Paritätische Akademie Berlin ggmbh 301 Paritätische Beteiligungen 303 Paritätischer beim 15. Deutschen Kinder- und Jugendhilfetag 304 Flüchtlingsarbeit unter dem Dach des Paritätischen Berlin 306 Sozialwirtschaft und soziale Innovation 309 Zur Erinnerung an Georg Zinner 310 Zur Erinnerung an Käte und Harry Tresenreuter 311 Fazit und Ausblick anhang 316 Vorstände des Berliner Landesverbandes seit 1950 321 Liste der Mitgliedsorganisationen nach Aufnahmejahr 342 Anmerkungen 349 Literatur- und Abbildungsnachweise 352 Impressum Die Kapitel 1 bis 5 des vorliegenden Werkes wurden aus dem Buch von Gerlinde Hollweg»40 bewegte Jahre. Die Geschichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Landesverband Berlin«(Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin 1990; Eigenverlag) übernommen und teilweise aktualisiert. Das 6. Kapitel über die neunziger Jahre wurde von Martin Franke verfasst, der langjähriger Redakteur des Paritätischen Rundbriefs gewesen ist. Über die letzten 15 Jahre schrieb Elfi Witten, die von 1991 bis 2013 Pressesprecherin des Paritätischen Berlin war. Autorinnen und Autor haben vielfältige Unterstützung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Mitgliedsorganisationen sowie andere, dem Paritätischen verbundene Persönlichkeiten erfahren und möchten sich dafür an dieser Stelle herzlich bedanken. Abkürzungen: adw = Archiv des Diakonischen Werkes, Berlin; dzi = Deutsches Zentralinstitut für soziale Fragen. Sonstige Fundorte sind in den Anmerkungen vollständig angegeben, sofern es sich nicht um Unterlagen han delt, die beim Paritätischen, Berlin, vorliegen. 6 7 inhaltsverzeichnis inhaltsverzeichnis

Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, 65 Jahre Paritätischer Berlin lassen sich nicht schnell erzählen. Das merken Sie ja schon am Umfang unserer Chronik. Und nach einer so langen Wirkungszeit in Berlin dürfen, ja müssen bereits am Anfang einige grundsätzliche Fragen gestellt werden. Erstens: Welches Paritätische Denken und Handeln hat das soziale Leben und die sozialpolitischen Strukturen der Stadt geprägt? Zweitens: Welchen Einfluss hatte die Stadt auf die Arbeit des Paritätischen? Und drittens: Was müssen wir ändern, um der Stadt und ihren Bewohnern noch besser zu dienen? Was in der Nachkriegszeit die Stadt bewegte, bewegte auch den Paritätischen: Zuerst die politische Spaltung, dann der Mauerbau soziale, familiäre Bindungen wurden gekappt, der Verband half, die Folgen abzumildern. Danach entwickelte sich das alte Westberlin zum gesellschaftlichen Konflikt- und Experimentierfeld. Der Verband gewann auch viele zugezogene männliche und weibliche Mitarbeitende, die frischen Wind mitbrachten. Dann endlich die wiedervereinigte Bundeshauptstadt. Die musste in der sozialen Arbeit fast völlig neu aufgestellt werden. Kaum schien ein Problem halbwegs gelöst, tauchte ein neues auf. Solche Herausforderungen haben den Paritätischen in seinem grundlegenden Denken und Handeln aber nur bestärkt. Sozialarbeit braucht einen staatlichen Rahmen, doch Eltern wollten beispielsweise die Erziehung ihrer Kinder zwar gemeinschaftlich, aber nicht unbedingt staatlich organisieren. So entstanden die Eltern-Initiativ-Kindertagesstätten. Die vielen Projekte der gesundheitlichen Selbsthilfe, in denen gleichbetroffene Menschen zusammen Wege suchten, mit schweren Krankheiten zu leben. Die vielen Ausländerprojekte, die vor Jahrzehnten schon die sozialen Folgen der Migration angepackt haben. Die Elterninitiativen von Menschen mit Behinderungen, die ihre Angebote immer mehr professionalisierten, dabei aber die eigenen Vorstellungen erhalten wollten. Organisationen von Schwulen und Lesben, die endlich die Horizonte weiteten für partnerschaftliches Zusammenleben. Viele Selbsthilfegruppen, die zu Beginn der achtziger Jahre über einen politisch geschaffenen Experimentier-Topf die Chance bekamen, ihre Arbeit nachhaltiger zu gestalten und zu beweisen, dass Selbsthilfe Menschen stärkt. Und dann, nach der Wiedervereinigung, die Organisationen aus dem Ostteil der Stadt Berlin, die in diesem tiefgreifenden Transformationsprozess ihre Eigenständigkeit behaupten und ihre Erfahrungen einbringen wollten. Die Projekte der Nachbarschafts- und Stadtteilarbeit, die schon lange bevor der Begriff überhaupt geprägt wurde, das Zusammenleben im Sozialraum, im Kiez gestalteten. Aus der Sicht anderer Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, mit ihren geschlossenen, hierarchischen Organisationen und Kulturen war und ist der Paritätische ein Gemischtwarenladen, ein Omnibus, in dem jeder, jede Platz nehmen konnte. Ein Nachteil? Ganz und gar nicht, im Gegenteil: Das ist und bleibt die große Stärke des Verbandes, gerade in einer Stadt wie Berlin, die nie fertig ist. Für alle diese Entwicklungen, die manchmal ganz klein begannen und doch zukunftsweisende Anstöße für unser Erziehungs-, Gesundheits- und Sozialwesen gaben, war der Paritätische der Ansprechpartner, die verbandliche Heimat, ihr Anwalt und ihr Förderer. Vielfalt in der sozialen Arbeit sollte nicht nur ermöglicht, sondern ausdrücklich herausgefordert und gefördert werden! Dazu gehört das gesellschaftliche Engagement jedes einzelnen Bürgers, das zur Gründung von Vereinen und Initiativen und zur ehrenamtlichen Mitarbeit führt. 30.000 Ehrenamtliche machen mit beim Paritätischen. Mit zwölf Mitgliedsorganisationen hat sich der Verband vor 65 Jahren auf den Weg gemacht. Heute sind es mehr als 700. Sie alle sind das Rückgrat und der Motor des Verbandes. Mehr noch: Ihre Arbeit entscheidet mit, wie zuverlässig und stark das soziale Herz Berlins schlägt. Ihre Barbara John 8 9 vorwort vorwort

D i e J a H r e 1 9 2 4-1 9 3 4 Der Fünfte Wohlfahrtsverband In seinem historischen Verständnis, wie es in den Selbstdarstellungen des Verbandes und den Veranstaltungen und Publikationen zu Gründungsjubiläen zum Ausdruck kommt, bezieht sich der Paritätische Wohlfahrtsverband auf zwei unterschiedliche Gründungsdaten. 1989 wurde in einer Festveranstaltung in der Frank fur ter Paulskir che das 40-jährige Bestehen des Gesamtverbandes gefeiert. Diese Ver anstaltung nahm Bezug auf den 1949 erfolgten Zusammenschluss der zuvor auf Länderebene gegründeten Paritätischen Wohlfahrtsverbände zum Deutschen Paritätischen Wohl fahrts ver band. Aufgrund der besonderen politischen Verhältnisse in Berlin in der unmittelbaren Nachkriegszeit konnte der Berliner Landesverband erst 1950 etabliert werden, sodass sein 50. Geburtstag 2000 begangen wird. Aber bereits 1964 hatte der damalige Vorsitzende des Gesamtverbandes, Erwin Krämer, in einer kleinen Fei er stunde im Wilhelm-Polligkeit- Institut auf die 40. Wiederkehr des Gründungstages verwiesen. Diese zweite Tradi tionslinie, die mit Veranstaltungen zum 50-jährigen Jubiläum 1974, zum 60-jährigen 1984 und zum 75-jährigen 1999 fortgesetzt wurde, bezieht sich auf die Gründung der Verei ni gung der freien privaten gemein nützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands am 7. April 1924 im Kaiserin-Auguste-Viktoria-Kinderkrankenhaus in Berlin. Diese Vereinigung änderte ihren umständlichen Namen bald in Fünfter Wohlfahrtsverband, da sie in der Reihenfolge der Spitzenverbände der freien Wohlfahrts pflege üblicherweise an fünfter Stelle genannt wurde. Aus der Zu sam menzie hung einer römischen Fünf mit einem W und einem V als Abkürzung für Wohl fahrts verband wurde um 1925/26 das heute noch gültige Verbandsabzeichen entwickelt. 10 11 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934 Der Fünfte wohlfahrtsverband, Seite 1

Herausbildung von Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik Die Gründung des Verbandes erfolgte vor dem Hintergrund eines allgemeinen Pro zesses der Organisierung und Konzentrierung im Bereich der Wohlfahrtspflege und der Herausbildung von Spitzenverbänden während der Weimarer Republik. Hatten die Vereine der freien Wohlfahrtspflege vor dem Ersten Weltkrieg eher in einem bun ten Nebeneinander und vorrangig auf lokaler Ebene gewirkt, so hatte ihre Ein bin dung in die Kriegswohlfahrtspflege schon eine stärkere Zentralisierung hervor ge bracht. Die Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges hatte ein enges Zusammenwirken von öffentlicher und freier Wohl fahrt und eine Tendenz zur stärkeren Organisierung und Kontrolle durch öffent liche Stellen bedingt. Der Krieg hatte mit den Kriegsversehrten und -hinter bliebenen neue Grup pen von Hilfsbedürftigen hervorgebracht. In der auf den Krieg folgenden und durch ihn be dingten Inflation verarmten mittelständische Bevölkerungsgruppen, die nicht zur klas sischen Klientel der Ar men fürsorge gehörten, und wurden von der Fürsorge abhängig. Die Entwicklung einer leistungsfähigen Fürsorge wurde notwendig. Der Staat übernahm die Verantwortung für die soziale Sicherung der Bevölkerung, und Rechtsansprüche auf staatliche Sozialleistungen wurden entwickelt. Die staatliche Fürsorge drang in Bereiche vor, die bislang freien Trägern vorbehalten waren; sie übernahm die Initiative und Pionierfunktion in Bereichen der Wohlfahrtspflege, die im Kaiserreich von den freien Wohltätigkeitsvereinen abgedeckt worden waren. Dadurch sahen sich die freien Träger in ihrer Existenz bedroht. Durch Krieg und Infla tion hatten sie darüber hinaus ihr Vermögen verloren, die Geldentwertung redu zierte die Einnahmen aus den Pflegesätzen. Viele ehemalige Spendengeber waren durch Krieg und Kriegs folgen verarmt, sodass wesentliche Einnahmequellen ausfie len. Frauen aus bürgerlichen Familien waren auf Gelderwerb und Berufs tätigkeit angewiesen und standen als ehrenamtliche Helferinnen der freien Wohlfahrt nicht mehr zur Verfügung. Neben die ser exi sten ziellen wirtschaftlichen Bedrohung fürchte ten die freien Träger die Kommuna li sie rung und Sozialisierung ihrer Anstalten. Die Gefahr der Übernahme in öffentliche Trägerschaft wurde in den ersten Jahren der Weimarer Republik immer wieder herausgestellt, letztlich aber wohl überbewertet. Es kam zu Kommunalisierungen infolge der 12 13 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934 Der Fünfte Wohlfahrtsverband, Seite 2

Inflation, wenn insbesondere Stiftungen nach dem Verlust ihres Stiftungsvermögens ihre Arbeit nicht aufrechterhalten konn ten. So be richtete die Geschäftsführerin des Ar chivs für Wohlfahrtspflege, Siddy Wronsky, 1927 von der Auflösung oder Kommunalisierung zahlreicher Einrichtun gen der freien Wohlfahrtspflege als einer Folge der Geldentwertung. 1 In den Gemeinden, besonders in den sozialdemokratisch regierten, haben die dor ti gen politischen Repräsentanten sicher versucht, die konfessionellen Anstal ten zurück zudrängen oder auf deren Selbstverwaltungsgremien Einfluss zu nehmen. Bei Fragen der Finanzierung oder Belegung wurden vermutlich auch kommunale Einrichtungen bevorzugt. Maßnahmen zur Kommunalisierung von Einrichtungen aus freier Träger schaft aufgrund politischer Motive sind nicht bekannt. 2 Angesichts der sozialen Notlagen der Nachkriegszeit wäre es auch problematisch gewesen, noch funktionsfähige Einrichtungen aufzulösen oder umzu struktu rie ren. Da die konfessionellen Kranken an stalten auf Ordensschwestern als Kran ken pflege per sonal zurückgreifen konn ten, die nicht den sonst üblichen Lohn bekamen, und freie Träger eher in der Lage waren, Spenden zu erhalten, hätte die Übernahme von An stalten in öffentliche Trägerschaft deren Unterhalt verteuert. Die traditionellen Wohlfahrtsverbände wie der Centralverband für die Innere Mission, der Caritasverband und das Deutsche Rote Kreuz bauten ihre innere Orga nisation aus und begannen als Spitzenverbände aufzutreten. Neue Spit zen ver bände wurden gegründet, unter ihnen der V. Wohlfahrtsverband. Nachdem sozialdemokratische Frauen in der Kriegsfürsorge aktiv geworden waren, wurde 1919 der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt ins Leben gerufen, obwohl freie Wohlfahrtsarbeit dem Konzept der Sozialdemokratie widersprach. In der spd bestanden Aversionen gegen die bürgerliche Wohlfahrtspflege, deren Almosenverteilen für die Empfänger als diskriminierend empfunden wurde. Sie strebte den Ausbau öffentlicher Fürsorge auf der Basis von Rechtsansprüchen der Bür gerinnen und Bürger an den Staat an. Die Arbeiterwohlfahrt wurde während der Weimarer Republik nicht Mitglied in der Liga der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, sondern sah ihre Ansprechpartner in den kommunalen Fürsorgestellen. Die jüdische Wohlfahrtspflege, bislang auf der Ebene der Gemeinden ehrenamtlich organisiert und durch einen eigenen Armenetat finanziert, gründete 1917 die Zen tralwohlfahrtsstelle der Deutschen Juden e.v. 14 15 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934 Der Fünfte Wohlfahrtsverband, Seite 3

Als weiterer Spitzenverband wurde 1922 der Zentralwohlfahrtsausschuss der christlichen Arbeiterschaft in betonter Absetzung von der sozialdemokra tischen Arbeiterwohlfahrt gegründet. In dieser Vereinigung waren sowohl evangeli sche als auch katholische Gruppen vertreten. Die Gremien auf Landes-, Bezirks- und Ortsebene waren je zur Hälfte mit Vertretern der christlichen Gewerkschaften und solchen der konfessionellen Standesorganisationen besetzt. Als sich am 22. Dezember 1924 die Spitzenverbände in der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege zur gemeinsamen Interessenvertretung zusammenschlossen, war der Prozess der Organisierung und Konzentrierung der freien Wohlfahrts pflege auf seinem Höhepunkt und zugleich in seiner Struktur abgeschlossen. Entgegen den anfänglichen Befürchtungen der freien Wohlfahrt, von staatlicher Seite zugunsten des Ausbaus öffentlicher Fürsorge zurückgedrängt zu werden, wur den die freien Verbände von dem für sie zuständigen Reichsarbeitsministerium als Gegengewicht zur kommunalen Fürsorge gefördert und unterstützt. Das Reichsar beitsministerium wurde von der katholischen Zentrumspartei geführt. Der Minister und ranghohe Beamte waren Katholiken und folgten der katholischen Soziallehre mit ihrer Betonung des wohltätigen privaten Engagements. Seit 1923 fanden im Ministe rium regelmäßige Gesprächsrunden mit den Vertretern der Spitzenverbände statt. Das Reichsarbeitsministerium reagierte mit staatlichen Zuwendungen auf die finan zielle Misere der freien Verbände, sodass diese ihren Bestand an Einrichtungen nicht nur sichern, sondern ausbauen konnten. Die Verteilung der Subventionen über die Verbände und deren Einbeziehung in die ministeriellen Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozesse förderte die Organisierung zu Spitzenverbänden und wertete diese auf. In der Gesetzgebung wurde die Position der Verbände abgesichert und festgeschrieben. Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1922) und der Reichsfürsorgepflichtverordnung (1924) wurde den Wohlfahrtsverbänden auf Gemeindeebene in den entsprechenden Ausschüssen Mitspracherecht eingeräumt. Von entscheidender Bedeutung aber war die Formulierung des Subsidiaritätsprinzips in der Reichsfürsorgepflichtverordnung, wonach nur dann öffentliche Einrichtungen geschaffen werden sollten, wenn keine entsprechenden Einrichtungen freier Träger vorhanden seien. Die Befürworter der Subsidiaritätsregelung, wie sie auch für die Bestimmung des Verhältnisses von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege in der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik prägend wurde, berufen sich auf die Defi nition des Begriffs, wie ihn die katholische Soziallehre entwickelt hat: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. 3 Dieses Verständnis von Subsidiarität betont den Vorrang von Selbsthilfe des Einzelnen und von gegenseitiger Hilfe in kleinen sozialen Einheiten wie Familie, Nachbar schaft oder Verwandtschaft vor gesellschaftlichen und staatlichen Instanzen. In der Gesetzgebung der Weimarer Zeit begründete das Subsidiari täts - prinzip aber eine Vorrangstellung der freien Verbände vor öffentlichen Maßnahmen bei allerdings letztlicher Verantwortung der staatlichen und kommunalen Träger. Subsidiarität, wie die Fürsorgegesetzgebung der zwanziger Jahre sie festlegte, zielte also nicht primär auf Eigenverantwortung der Betroffenen und ihrer unmittel baren Umgebung i.s. altliberalen Gesellschaftsdenkens und der katholischen Soziallehre. Sie beinhaltet faktisch ein Prinzip der Zuständigkeitsverteilung innerhalb des Gesamtkomplexes öffentlicher Wohlfahrt, der als neokorporatistisches Verhand lungssystem treffend umschrieben wurde. 4 In der 3. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Ablösung öffentlicher Anleihen von 1926 wurden die sieben Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege namentlich aufgeführt und anerkannt. Die Weimarer Republik bildete den modernen Sozialstaat aus mit einem entspre chend hohen Organisationsgrad, einer umfassenden Zentralisierung, Verrechtlichung und Bürokratisierung. Die freie Wohlfahrtspflege bildete zu diesem Prozess kein Gegengewicht, sondern vollzog ihn mit. Die Furcht vor der Kommunalisierung von Einrichtungen zu Beginn der Weimarer Republik, die Praxis des Reiches, die Sub ventionen an die Wohlfahrtspflege über die Spitzenverbände zuzuteilen, und die soziale Gesetzgebung mit ihrer Vorrangstellung freier Wohlfahrtsvereinigungen brachten die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege hervor und bewirkten, dass freie Träger sich den Verbänden anschließen mussten, wenn sie in den Genuss finanzieller Mittel kommen wollten. Das gute Einvernehmen zwischen freier Wohlfahrtspflege und staatlichen Stellen, insbeson- 16 17 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

dere dem Reichsarbeitsministerium, hat zum einen die Arbeit sicher effektiviert, zum anderen aber auch den Eindruck der Undurchsich tigkeit und Unüberschaubarkeit verstärkt. Von einer Zeitgenossin wurde angesichts dieser Entwicklung eine modern anmutende Kritik formuliert: Das ganze Programm gemahnt in nahezu erschreckender Weise an die großen Kar telle der Wirtschaft. Auch hier in den Spitzenorganisationen der freien Fürsorge ist die Rationalisierung wenigstens der Idee und Absicht nach im Fortschreiten begriffen. Fast überkommt einen das Gefühl: Wo bleibt hier noch das der freien Fürsorge Eigentümliche? Man kann bereits von einer Art Riesenvertrustung der freien Wohlfahrtspflege sprechen, einem enormen Apparat, dessen Schaltwerk nur wenige Sachkundige kennen und zu bedienen vermögen... 5 Als sich in der Weltwirtschaftskrise herausstellte, dass der Wohlfahrtsstaat Weimarer Prägung nicht mehr bezahlbar war, waren die freien Verbände von der Krisenhaftig keit der Entwicklung in gleicher Weise betroffen. Sie konnten auf sozialem Gebiet dem Abbau der Republik nichts entgegensetzen. Gründung und Ausbau des Fünften Wohlfahrtsverbandes Dem Zusammenschluss von Einrichtungen der Gesundheits-, Erziehungs- und Wirt schaftsfürsorge im Fünften Wohlfahrtsverband waren verschiedene Initiativen und Gruppenbildungen vorangegangen. Von 23 Frankfurter Krankenanstalten, die in freier Trägerschaft standen, sich aber keinem der bereits existierenden religiös oder weltanschaulich geprägten Verbände zuordnen konnten, wurde die Initiative gestartet, die nicht-öffentlichen Krankenanstalten auf regionaler Ebene zu organisie ren und diese lokalen Vereinigungen zu einem Reichsverband zusammenzuschlie ßen, um so die gemeinsamen Interessen besser vertreten zu können. Die beiden kon fessionellen Verbände, der Verband deutscher Pflegeanstalten vom Roten Kreuz und der in der Entstehung begriffene Verband jüdischer Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands lehnten einen regional gegliederten Fachverband ab. Sie befür wor te ten einen Zusammenschluss, in dem die bereits bestehenden Verbände ihre Kran ken pflegeeinrichtungen vertreten sollten. So waren die bislang nicht einem Spitzen ver band zugehörigen Krankenanstalten gezwungen, einen Zusammenschluss zu bilden. 1920 wurde die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands gegründet, damit die weltanschau lich neutralen Einrichtungen der stationären Gesundheitsfürsorge neben den Einrich tungen der anderen Spitzenverbände im Reichsverband der privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands ver treten werden konnten. Innerhalb des Reichsverbandes gab es aber nun ein Ungleichgewicht. Während die schon bestehenden Spitzenverbände hier als solche auftraten und auch in den Sitzungen im Reichsarbeitsministerium eine Stimme hat ten, hatte die Vereinigung keine Einflussmöglichkeiten, die über den Reichsverband der Kranken- und Pflegeanstalten hinausgingen. Sie musste ein Interesse daran ent wickeln, von einem Krankenhaus-Fachverband zu einem Spitzenverband der freien Wohlfahrspflege zu avancieren. Die allgemeine Tendenz zur Organisierung und Zentralisierung der freien Wohl fahrtspflege, die durch die Praxis des Reiches, die Subventionen über die Spitzenver bände zu verteilen, verstärkt wurde, betraf auch die Einrichtungen der Erziehungs - und Wirtschaftsfürsorge. Die staatliche Sozialpolitik hatte sich auch in diesen Berei chen so weit entwickelt, dass die hier tätigen Vereine einen Zu sammenschluss und eine gemeinsame Interessenvertretung brauchten. Die Vereinigung der weltanschau lich ungebundenen Kranken- und Pflegeanstalten weitete ihr Aufgabengebiet 1924 auf die Wohlfahrtseinrichtungen der Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge aus. Diese Gründung der Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands ist diejenige, die der heutige Paritätische Wohlfahrtsverband als seine erste Gründung ansieht und auf die er sich in seinem Selbstverständnis bezieht. Die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands soll alle Wohlfahrts einrichtungen der geschlossenen und offenen Fürsorge, die nicht konfessioneller Natur sind oder dem Roten Kreuz angehören, umfassen. Die Bezeichnung frei besagt, daß die zugehörigen Anstalten und Einrichtungen weder konfessionell sind, noch dem Roten Kreuz angehören. Die Bezeichnung privat drückt aus, daß sie weder öffentlich oder staatlich noch städtisch sind. Für die Mitgliedschaft ist der gemeinnützige Zweck Voraussetzung. Unter Gemeinnützigkeit ist be kanntlich zu verstehen, daß die betreffende Anstalt resp. Einrichtung nicht auf Erwerb ausgeht, ihre Wirtschaftsführung nach einem geregelten Haushaltplan eingerichtet hat und keine höheren Pflegesätze erhebt, als die Selbstkosten betragen. 18 19 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

Die Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands stellt sich damit den großen Spitzenverbänden: Deutscher Caritasverband, Zentralausschuß für Innere Mission. Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden und dem Deutschen Roten Kreuz an die Seite. Derjenige Teil der Vereinigung, der die Kranken- und Pflegeanstalten umfaßt, bildet zur Zeit mit 1. dem Verband der katholischen Kranken- und Pflegeanstalten Deutsch lands (Fachorganisation des Deutschen Caritasverbandes), 2. dem Kaiserswerther Verband deutscher Diakonissen-Mutterhäuser, 3. dem Verband deutscher Krankenpflegeanstalten vom Roten Kreuz, 4. dem Bund der jüdischen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands als 5. Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands (5. Verband), den Reichsverband der privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands. 6 Der Reichsverband der Krankenanstalten blieb als Fachverband erhalten. Im Vorfeld dieser Verbandsgründung und parallel zu den Zusammenschlüssen im Krankenpflegebereich hatte es schon ähnliche Vereinigun gen für die Einrichtungen der Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge gegeben. Anna von Gierke, die Gründerin und Leiterin des Vereins Jugendheim, hatte in Berlin einen Humanitas-Verband für Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge ins Leben gerufen. In München hatte Frau Stadtrat Kiesselbach einen paritätischen Wohlfahrtsverband als Zusammenschluss bayerischer Wohlfahrtseinrichtungen gegründet; einen ähnlichen Zusammenschluss gab es im Rheinland. Mit der Entwicklung der Vereinigung der Krankenanstalten zum Wohlfahrtsverband wurden diese parallel entstandenen Zusammenschlüsse eingegliedert. Der paritätische Verband wurde zum bayerischen Landesverband des Fünften Wohlfahrtsverbandes. Frau von Gierke und Frau Kiessel bach wurden Vorstandsmitglieder des neuen Spitzenverbandes. Die Mitgliederzahl des Verbandes hatte stagniert, solange er nur die Kran kenanstal ten zusammengefasst hatte. Mit der Ausdehnung der Zuständigkeit auf die Erzie hungs- und Wirtschaftsfürsorge stieg die Mitgliederzahl deutlich an, wie sich aus einer Aufstellung im Handbuch des Fünften Wohlfahrtsverbandes von 1927 deutlich ablesen lässt: Dem Verbande schlossen sich an: im Jahre: 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 Einrichtungen 23 2 9 108 93 271 281 89. 7 Als Zusammenschluss der Übrig-Gebliebenen ohne spezifische Gründungs idee und ohne Namen, der ein Programm hätte ausdrücken können, musste sich der Verband gegen Widerstände aus den Reihen der etablierten Verbände durchsetzen, die zum einen befürchteten, dass ihnen durch die Ansprüche des Neulings Zuwen dun gen geschmälert würden, und zum anderen einem Wohlfahrtsverband misstrauisch gegenüberstanden, der sich ohne weltanschauliche Grundlage aus dem Bestreben gegründet hatte, wirtschaftliche Vorteile zu erlangen. Er setzte sich gegen den erklärten Widerstand von Caritas und Deutschem Verein durch, wobei Prälat Kreuz sich darüber sorgte, daß damit eigentlich den Altver bän den zustehende Gelder mit der neuen Organisation geteilt werden müßten, während Polligkeit kritisierte, der 5. Verband vertrete keine leitende Idee und sei nur als Geld verteilungsorganisation zustande gekommen. 8 Das Fehlen einer weltanschaulichen Bindung, die als notwendige Grundlage wohl fahrtspflegerischen Engagements angesehen wurde, wurde auch innerhalb des Ver bandes als Mangel empfunden. So übernahm er 1930 von seinem bayerischen Lan desverband den Namen Paritätischer Wohlfahrtsverband, um so eine ideo lo gisch-inhaltliche Bestimmung zum Ausdruck bringen zu können. Landesverband Berlin im Fünften Wohlfahrtsverband Nach Einschätzung des Vorstandes war 1927 der äußere Aufbau des Verbandes abgeschlossen, und der innere Ausbau sollte durch die Förderung von Landesverbänden vorangetrieben werden. Bereits 1924 hatte die Geschäftsführung verschie dene Länder und preußische Provinzen bereist, um die lokalen Vereine und Ein rich tungen in Landes- und Provinzialverbänden zusammenzuschließen. Während sich nach 1945 zuerst die Landesverbände des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes gründeten, um 1949 gemeinsam den Dachverband auf Bundesebene zu bilden, hatte die Entwicklung des Vorgängers auf Reichs ebene mit 20 21 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

einem stärker zentralistischen Aufbau begonnen, die Landes- und Pro vin zial verbände wurden anschließend ausgebaut. Wie für den gesamten Verband hatten auch für den Berliner Landesverband das Wachstum und der innerverbandliche Ausbau mit der Eingliederung der Einrich tun gen aus der Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge begonnen, besonders denen, die im Humanitas-Verband zusammengeschlossen gewesen waren. 1926 führte der Ber liner Verband drei Konferenzen durch. An den Themenstellungen ist zu erkennen, dass sich der Verband von einem Krankenhausverband zu einem für alle Wohlfahrts einrichtungen entwickelt hatte, mit einem Schwerpunkt auf der Erziehungsfürsorge. So stand die erste Tagung unter dem Thema Das Pflegekind, die zweite und dritte unter den Themen Familienleben und Fürsorge und Hort und Schule. 9 Von den 63 Mitgliedsorganisationen mit 207 Einrichtungen gehörten 1927 34 Ein richtungen zur Gesundheitsfürsorge, 152 zur Erziehungs- und 21 zur Wirtschafts für sorge. 1927 existierte der Landesverband seit zwei Jahren. In dieser kurzen Zeit hatte die Arbeit bereits so zugenommen, dass die Geschäftsführung nicht mehr ehrenamtlich durchgeführt werden konnte und für das folgende Jahr die Einstellung einer hauptamtlichen Geschäftsführerin beschlossen wurde. Elisa bet von Harnack, die nach 1945 die Wiedergründung des Berliner Landesverbandes förderte, war die erste hauptamtliche Geschäftsführerin des Berliner Landesverbandes im V. Wohl fahrtsverband. Der Landesverband Berlin kann mit einer gewissen Befriedigung auf diese erste Zeit seines Bestehens zurückblicken. Es ist ihm gelungen, die große Zahl der Einrichtun gen, die ihre Arbeit in gleichem Geiste und in gleicher Gesinnung leisten, auch in persönliche Fühlung zu bringen und in manchen Fragen einen Erfahrungsaustausch einzuleiten. Er hat einzelnen seiner Mitglieder materielle Sorgen erleichtern können. Er konnte ihnen wirtschaftliche Vorteile durch Beteiligung am Wibu [Wirtschafts bund, g.h.], an der Pensionskasse, durch Rechtsberatung und Vermittlung von Dar lehen verschaffen. Noch liegt ein großes Arbeitsfeld vor ihm. Es fehlt noch an dem festen inneren Zusammenschluß, den andere Verbände aufzuweisen haben, noch an genügender Vertiefung der Arbeit an manchen Stellen. 10 Die auch im Vergleich zu heute recht große Anzahl von Frauen in der sozialen Arbeit und in leitenden Verbandspositionen verweist darauf, in welch enger Verflechtung bürgerliche Frauenbewegung und soziale Arbeit standen. Insbesondere die Ausbil dung von Frauen für soziale Berufe wurde von Frauen, die oft zugleich Funktionen in den Vereinen der bürgerlichen Frauenbewegung hatten, vorangetrieben. Auch der Fünfte Wohlfahrtsverband arbeitete mit dem Bund Deutscher Frauenvereine zusam men. 11 Der Paritätische Wohlfahrtsverband München, der als bayerischer Landesver band in den V. Wohlfahrtsverband eingegliedert wurde, war aus einer Arbeitsge meinschaft hervorgegangen, die vom Stadtbund Münchener Frauenvereine gegrün det worden war. Einzelne Teilnehmerinnenlisten von gemeinsamen Sitzungen des Stadtverbands Berliner Frauenvereine und des Landesverbandes Berlin des V. Wohl fahrtsverbandes sind noch vorhanden. 12 Übergang des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (nsv) Da das Wohlfahrtshaus, in dem die Geschäftsstelle des V. Wohlfahrtsverbandes untergebracht war, im Krieg ausgebombt wurde und die dort gesammelten Unterla gen verbrannt sind, ist es schwierig, diesen Abschnitt der Verbandsgeschichte zu rekonstruieren. Es bedürfte einer aufwendigen Materialsuche, um die vermutlich ver streut vorhandenen Quellen aufzufinden und auszuwerten. Im Rahmen dieser Arbeit kann diese wichtige Phase nur umrissen werden; viele Fragen müssen offen bleiben. Bis 1933 verfügte die nationalsozialistische Partei über kein in sich geschlossenes wohlfahrtspflegerisches oder sozialpolitisches Konzept. Begriffe wie Wohlfahrt oder Wohlfahrtsstaat wurden der Weimarer Republik zugeordnet und negativ bewertet. In vielen Punkten wurde an konservative Modelle der vorangegangenen Zeit ange knüpft. So griff die nationalsozialistische Rassenlehre auf rassehygienische Theorien zurück, die in der Weimarer Zeit entwickelt worden waren. Erst die Kombination ver schiedener Elemente der Rassenlehre, der sozialdarwinistischen Weltanschauung und des Führerprinzips bildeten die Spezifik der nationalsozialistischen Ideologie, aus der Zwangssterilisierungen, die Unterbringung in Konzentrationslagern und der Massenmord an Kranken, Behinderten, Juden, Homosexuellen, Roma und Sinti, an für rassisch minderwertig oder 22 23 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

asozial erklärten Menschengruppen abgeleitet wurde. Obwohl die gesetzlichen Grundlagen der Weimarer Republik zur Wohl fahrtspflege und zum Verhältnis von öffentlichen und freien Trägern nach 1933 im Wesentlichen bestehen blieben, bedeutete die Machtübernahme der nsdap eine Umkehrung wohlfahrtspflegerischer Prinzipien. Die nsv kennt keine Betreuung des einzelnen um seiner selbst willen. Sie denkt auch nicht an das Seelenheil des Spenders. Mitleid, Humanität, Wohltätigkeit Cari tas im überkommenen Sinne sind Begriffe, die ihr fernliegen. Der Spender gibt kein Almosen. Andererseits hat auch der Betreute als einzelner Mensch, als Individuum, keinen Anspruch auf Hilfe. Alles, was die Freie Wohlfahrtspflege geradezu als Grundlage ihrer Tätigkeit ansah, fällt bei der nsv weg. 13 Die Orientierung an der Volksgemeinschaft als zentralem nationalsozialistischem Begriff führte dazu, dass sich die zuerkannte Hilfe nicht mehr an der Notlage des Ein zelnen, sondern an der Einschätzung seines Nutzens für das Volk orientierte. Bei voller Würdigung der Kontinuität zwischen der staatlichen Fürsorgepolitik in der Weimarer Republik und im Dritten Reich soll nicht übersehen werden, daß die Nazis in einem sehr wichtigen Punkt mit der Tradition der europäischen Wohlfahrtspflege radikal gebrochen haben: dem von christlich-humanistischen Vorstellungen abgelei teten Prinzip, nach dem jedem ein menschenwürdiges Dasein zuseht. Die Ablehnung dieses Grundsatzes muß in ihrer brutalen Konsequenz als Eigentümlichkeit des ns Regimes angesehen werden. 14 Die Existenz freier Wohlfahrt wurde von den Nationalsozialisten nicht infrage ge stellt. Die öffentliche Fürsorge sollte auf den unbedingt notwendigen Lebens bedarf beschränkt sein. Vorstellungen von Selbsthilfe und vom Vorrang freier Wohlfahrtspflege wurden formuliert. Allerdings sollte der Bereich freier Wohlfahrtsarbeit vereinheitlicht, effektiviert, entsprechend den nationalsozialistischen Vor stellungen gleichgeschaltet und dem Führerprinzip unterworfen werden. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt e.v., zunächst für die Betreuung von nsdap-mitgliedern gegründet, wurde im Mai 1933 von Hitler als Organisation in der Partei anerkannt und erhob den Führungsanspruch gegenüber den anderen freien Wohlfahrtsverbänden und gegenüber der öffentlichen Fürsorge. Die bisherigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege wurden aufgelöst, in die nsv integriert oder in ihren Arbeitsbereichen eingeschränkt. Der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt wurde als sozialdemokratische Organisation aufgrund des Gesetzes über die Einziehung volks- und staatsfeindli chen Vermögens aufgelöst; ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Helferinnen und Helfer wurden ver folgt, verhaftet oder mussten ins Exil gehen. Der Zentralwohlfahrtsausschuss der christlichen Arbeiterschaft löste sich selbst auf und übergab seine Einrichtungen dem Caritasverband oder der Inneren Mission. Dass diese Auflösung des gemischt-konfessionellen Wohlfahrtsverbandes auf Initiative des Präsidenten der Liga der Spitzenverbände erfolgte, verweist auf das Entgegenkommen vonseiten der Liga gegenüber den Forderungen der National sozialisten. 15 Die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden wurde aus der deut schen Wohlfahrtspflege ausgeschlossen. Der Geschäftsführer der Liga der Spitzenverbände während der zwanziger und dreißiger Jahre stellte in einem Rückblick von 1944 Zur Geschichte der Deutschen Liga der freien Wohlfahrtspflege fest, daß schon im Frühjahr 1933 die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden in vorneh mer Weise aus der Liga ausgeschieden war um der Liga ihren weiteren Weg durch ihre Zuge hörig keit nicht zu erschweren. 16 Einen Widerstand von Seiten der ande ren Verbände oder Versuche, den jüdischen Partner zu unterstützen, scheint es nicht gegeben zu haben. Selbsthilfeeinrichtungen jüdischer Deutscher bestanden zunächst fort und weiteten ihre Tätigkeiten in den ersten Jahren des Nationalsozialismus mit der zunehmenden Verfolgung von Juden noch aus. Das Deutsche Rote Kreuz gab seine Aufgaben als Wohlfahrtsverband auf, die Einrichtungen gingen an die nsv über. Der Verband wurde zur Wahrnehmung mili tärischer Aufgaben, insbesondere des Sanitätsdienstes im Kriegsfall, umstruk turiert. Caritasverband und Innere Mission blieben bestehen, wurden in ihren Auf gaben aber auf die Versorgung von den Personengruppen zurückgedrängt, die nach natio nal sozialistischen Vorstellungen als minderwertig galten. Sie wurden auf die geschlossene Unterbringung Kranker und Behinderter verwiesen. Der Handlungs rah men der konfessionellen Verbände wurde zunehmend eingeengt, auch über Ein schränkungen und Kontrollen der finanziellen Zuwendungen. Die Krise am Ende der Weimarer Republik hatte auch die freie Wohlfahrtspflege tiefgreifend erfasst, auch hier schien eine grundlegende Neuordnung 24 25 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

nötig. Diese Stim mung wirkte sich zugunsten der nsv aus. Die Liga der Spitzenverbände in ihrer Prä gung durch die beiden großen konfessionellen Verbände setzte ihrer Liquidierung nichts entgegen. Von den sieben Spitzenverbänden, die sich in der Weimarer Zeit herausgebildet hatten, blieben Innere Mission, Caritas und das umstrukturierte Rote Kreuz übrig, die gemeinsam mit der nsv als viertem Spitzenverband mit Führungs anspruch den anderen und der öffentlichen Wohlfahrtspflege gegenüber die freie Wohlfahrtspflege des Dritten Reiches darstellten. Da freie Wohlfahrtsarbeit in den Verlautbarungen der nsdap zunächst nicht angegriffen, sondern sogar aufgewertet wurde, glaubte man, sich mit den Nationalsozialisten arrangieren zu können und mit der nsv einen Partner in der praktischen Arbeit zu bekommen. Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband blieb zunächst bestehen und wurde korporatives Mitglied der nsv. Im Juni 1934 wurde der Verband aufgelöst, seine Mitgliedseinrichtungen dem Hauptamt für Volkswohlfahrt bei der Reichsleitung der nsdap unterstellt. Zum Übergang des Paritätischen Verbandes in die National sozialistische Volkswohlfahrt sei an dieser Stelle aus einem Manuskript Otto von Hol becks zitiert, des Geschäftsführers des V. Wohlfahrtsverbandes von dessen Grün dung bis zur Auflösung, der an der Überleitung in die nsv beteiligt war und um 1948/49 seine Erinnerungen festhielt: Das Jahr 1933 brachte durch die Verordnung vom 3. Mai 1933, nach der die Füh rung der freien Wohlfahrtsplege der nsv e.v. zufiel, auch für den dpw große Ver änderungen. Der Verband als solcher blieb fürs erste bestehen, wurde aber korporatives Mitglied der nsv mit einem Jahresbeitrag von rm 600,-. Die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege wurde in Reichsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege umbenannt und erhielt einen neuen Präsidenten. Die nsv wurde Mitglied der Reichsgemein schaft. Im Frühjahr 1933 trat der bisherige Vorsitzende des dpw, Prof. Langstein, von seinem Posten zurück und übergab ihn dem Landesvertreter für Bayern, Oberst a.d. Albrecht Freiherr von Pechmann. Anfang des Sommers starb Prof. Langstein. In der letzten Nummer des Nachrichtenblattes konnte noch ein warmer Nachruf für ihn veröffentlicht werden. Über das weitere Schicksal des dpw war man sich in der nsv-verwaltung noch nicht einig. Es bestand der Plan, den dpw als selbständigen Verband bestehen zu lassen. Langwierige Verhandlungen, die von Herrn von Pechmann und Dr. von Holbeck mit der nsv geführt werden mußten, folgten. Mit Hilfe des Syndikus des Ver bandes wurde der Entwurf eines Vertrages zwischen der nsv und dem dpw ausge arbeitet. Aber es kam zu keinem Abschluß des Vertrages, der vor allem die finan zielle Lage berücksichtigte, sondern die Eingliederung in die nsv, d.h. Auflösung des dpw als e.v., wurde beschlossen. Im Juni 1934 fand die letzte Vorstands- und Mitgliederversammlung statt, und zwar wieder in Frankfurt/Main, wo der schöne Palmensaal der Schauplatz des betrüben den Aktes wurde. Auf der Mitgliederversammlung versprach der Leiter der nsv Herr Erich Hilgenfeld, den Mitgliedsanstalten und Einrichtungen wohlwollende Hilfe. 17 Der Paritätische Wohlfahrtsverband als Opfer des Nationalsozialismus? Nach seiner Wiedergründung 1949 berief sich der dpwv immer wieder darauf, 1934 aufgrund seiner christlich-humanistischen Weltanschauung zerschlagen wor den zu sein. So heißt es im zweiten Heft der Schriften des Paritätischen Wohl fahrts verbandes 1949: Deshalb wurden durch die ns-gewalt die Liga und die Spitzenverbände, zuerst der Paritätische Wohlfahrtsverband (V. Wohlfahrtsverband), zerschlagen. [...] Es galt der Grund satz vom Primat der Partei in allen Dingen. Damit ist verständlich, daß unse rem Paritätischen Wohlfahrtsverband ein Ende bereitet wurde, denn für uns galt und gilt der Grundsatz: Nächstenliebe zu üben an Menschen aller Nationen, über den Parteien, über den Konfessionen. Über allem die christli che Tat!. 18 In seiner Selbstdarstellung als Opfer des Nationalsozialismus ging der Verband sogar so weit, sich auf gleiche Stufe mit Arbeiterwohlfahrt und jüdischer Wohlfahrts pflege zu stellen: Während der ns-zeit wurde der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband wegen seiner Weltanschauung aufgelöst, ebenso wie die Arbeiterwohlfahrt und die Jüdi sche Wohlfahrtspflege. 19 Joachim Merchel weist in seiner Arbeit über den Deutschen Paritätischen Wohl fahrts verband darauf hin, dass diese offizielle Darstellung im Zusammen 26 27 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

hang mit den Bestrebungen zu interpretieren [ist], Wiedergutmachungszahlungen für Kriegs-, Besatzungs- und Plünderungsschäden zu erhalten und Ansprüche aus dem Vermö gen der nsv geltend zu machen. 20 Das Interesse an Aus gleichsund Wiedergutma chungszahlungen war sicherlich ein wesentlicher Grund für diese Art der Selbstdar stellung. Zum anderen ist zu bedenken, dass die Selbststilisierung zum Opfer des Nationalsozialismus wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch die Funk tion hatte, Personen und Einrichtungen zu entlasten und in die Arbeit des Neuauf baus nach dem Zweiten Weltkrieg integrieren zu können, die an der Ausmerze kranker oder andersrassiger Personen beteiligt waren, wie sie zum Alltag für sor ge rischer Institutionen im Nationalsozialismus gehörte. 21 Ehemalige Mit glieds ein rich tungen des V. Wohlfahrtsverbandes hatten über die Zeit des Nationalsozialismus fort bestanden. Die Heil- und Ausbildungsstätten für Körperbehinderte, die Mitglied im V. Wohlfahrtsverband gewesen waren, hatten innerhalb der nsv sogar eine Arbeits gruppe unter der Leitung Otto von Holbecks bilden können. 22 Im Laufe der Zeit wurde das Verhältnis des Verbandes zum Nationalsozialismus moderater beurteilt und die Tatsache, dass er seiner Auflösung keinen Widerstand entgegengestellt hatte, auf die fehlende gemeinsame weltanschauliche Grundlage zurückgeführt. Da dem Verband keine nach außen hin erkennbare Weltanschauung und keine lange Tradition zugrunde lag wie den anderen Spitzenverbänden der Freien Wohl fahrtspflege, war es für die damaligen Machthaber nicht sehr schwer, den Paritäti schen Wohlfahrtsverband bald der Gleichschaltung zu unterwerfen. 23 In der Informationsschrift des Gesamtverbandes von 1989 ist diese Phase der Geschichte folgendermaßen zusammengefasst: Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten führte dazu, daß die Natio nalsozialistische Volkswohlfahrt (nsv) in der Liga der Freien Wohlfahrtspflege die führende Stellung übernahm. Leitende Persönlichkeiten des Paritätischen Wohl fahrtsverbandes legten von sich aus ihre Ämter nieder oder wurden gezwungen, aus ihren Positionen in den Verbandsorganen auszuscheiden. 1934 blieb der damaligen Mitgliederversammlung keine andere Wahl, als den Verband aufzulösen. 24 Möglicherweise hatte die Mitgliederversammlung von 1934 tatsächlich keine andere Möglichkeit mehr, als die Selbstauflösung zu beschließen, aber auch diese Darstellung muss hinterfragt werden, da sie die Ereignisse 1933/34 nur unter dem Aspekt des äußeren Zwanges beschreibt, dem der Verband und seine Funktionäre unterworfen waren. Es gab leitende Persönlichkeiten, die von sich aus ihre Stellung niederlegten oder dazu gezwungen wurden. Dazu gehörte der Kinderarzt und Verbandsvorsitzende Leo Langstein, zugleich Vizepräsident der Liga. Er hatte als Leiter des Kaiserin- Auguste-Viktoria-Hauses vom preußischen Innenministerium die Weisung erhalten, sich pensionieren zu lassen, da er als Jude diese Funktion nicht weiter ausfüllen könne. Vermutlich war er auch aus seinen anderen Funktionen als Mitglied des Reichs- und preußischen Landesgesundheitsrats und als Präsidiumsmitglied des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose verdrängt worden. Mögli cherweise durch eine Krankheit zusätzlich belastet, beging er im Juni 1933 Selbst mord. Nach 1945 wird Langstein kaum mehr erwähnt, der Umstand seines Todes über haupt nicht angesprochen. Es entsteht in den Schriften der Eindruck, Langstein sei aus weltanschaulichen Gründen zurückgetreten und dann gestorben. Als Stefanie Hirt, die Gründerin des Landesverbandes Berlin, sich in den fünfziger Jahren für die päda gogische Zusatzausbildung von Säuglings- und Kinderkrankenschwestern einsetzte, nahm sie immer wieder Bezug darauf, dass diese Problematik bereits ein Arbeits schwerpunkt des V. Wohlfahrtsverbandes gewesen war, ohne den Namen Lang steins zu erwähnen, obwohl gerade er wesentlichen Anteil an der Schaffung des Berufsbildes der Säuglingsschwester und der Gesundheitspflegerin hatte. 25 Auch Anna von Gierke, Vorstandsmitglied seit der Integration des von ihr gegründe ten Humanitas-Verbandes in den V. Wohlfahrtsverband und Provinzialvertreterin für Berlin, musste 1933 ihre Ämter und Funktionen aufgeben. Aus dem von ihr aufgebau ten und geleiteten Verein Jugendheim, einer Mitgliedseinrichtung des V. Wohlfahrts verbandes, ist bekannt, dass die Einrichtung Widerstand gegen die Übernahme in die nsv geleistet hat. Über das Schicksal des Jugendheims Charlottenburg berichtet Rüdeger Baron in Auswertung von Materialien aus dem Archiv des Pestalozzi-Fröbel- Hauses Folgendes: 28 29 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934 Prof. Dr. Leo Langstein (1876-1933). Von 1924-1933 Vorsitzender des V. Wohlfahrtsverbandes

Die Leitung des Jugendheimes Charlottenburg wird der Halbjüdin Anna von Gierke, die die Einrichtung in wesentlichen Teilen selbst aufgebaut und über zwan zig Jahre geleitet hat, weggenommen; sie wird einem sa-mann übertragen, offen bar mit der Absicht, die Ausbildungsstätte in eine nsv-einrichtung umzuwandeln. Dagegen erhebt sich Protest von seiten der Schülerinnen und Mitarbeiter. In einer Versammlung im Herbst 1934, auf der der Leiter des Berliner Wohlfahrts- und Jugendamtes, Karl E. Spiewok, seine Maßnahmen zu rechtfertigen versucht, wird die Ablehnung der ns-ideologie von Mitarbeitern so offen vorgetragen, daß die Nazis auch diese Ein richtung schließen. Die Kindertagesstätten und Horte des Jugendheimes gehen an das Pestalozzi-FröbeI-Haus in Schöneberg über. Die Schüle rinnen der Wohlfahrtsschule führen ihr Ausbildung an der von Alice Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule zu Ende. 26 Alice Salomon durfte ihre Schule zu diesem Zeitpunkt nicht mehr betreten. Da in der nicht-konfessionellen freien Wohlfahrtspflege relativ viele Jüdinnen und Juden engagiert waren, werden vermutlich sie zunächst zum Rücktritt von ihren Funk tionen gezwungen gewesen sein. Im Gegensatz dazu gab es aber auch Verbands funktionäre, die ihre Karriere nach der Machtübernahme fortsetzen konnten. Otto von Holbeck, der ehemalige Geschäftsführer des V. Wohlfahrtsverbandes, wurde geschäftsführendes Vorstandsmitglied des weiter bestehenden Reichsverbandes der freien gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands. 1934 wurde er Referent beim Hauptamt für Volkswohlfahrt, einer Gliederung der nsdap. 1949 bekam er vom Frankfurter Gesamtverband eine Pension und wurde gegen Honorar mit Archivarbeiten beschäftigt. 27 Zu seinem 80. Geburtstag 1951 wurden die Glückwünsche über den Verband gesammelt und zugestellt. 28 Überlegungen, eine vergleichbare Rente an die Witwe Langsteins zu zahlen, die im englischen Exil über lebt hatte, sind nicht nachzuweisen, ebenso wenig wie eine posthume Ehrung oder Auszeichnung des Gründungsvorsitzenden. Es hätte zum Beispiel die Möglichkeit bestanden, das Fortbildungsinstitut des Paritätischen nach ihm zu benennen, statt nach Wilhelm Polligkeit, der zwar die Wiedergründung des Wohlfahrtsverbandes nach 1945 maß geblich unterstützt hat, ansonsten aber als Geschäftsführer und Vorsitzender des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge hervorgetreten ist. 29 Trotz der schlechten Quellenlage lässt sich zeigen, dass der Paritätische Wohl fahrts verband nicht als Opfer des Nationalsozialismus angesehen werden kann, sondern dass leitende Funktionäre an der Auflösung des Verbandes und der Überfüh rung in die nsv beteiligt waren und dieser Entwicklung zumindest teilweise zu stimmten. Der Vorsitzende der nsv, Erich Hilgenfeldt, verfügte im August 1933 bezüglich der Eingliederung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in die nsv: Grundsätzlich wird noch bemerkt, daß ich wert darauf lege, daß mit den Vertretern des 5. Verbandes die Besprechungen in gutem Einvernehmen geführt werden und daß auch, soweit die Persönlichkeiten für die nsvolkswohlfahrt e.v. tragbar sind, dieselben zur Weiter- und Mitarbeit herangezogen bezw. übernommen werden. 30 Der hier angedeutete einvernehmliche und kooperative Umgang zwischen nsv und Vertretern des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes lässt sich mit weiteren Quellen belegen. Nachdem im Juni 1934 der Verband aufgelöst worden war, bedankte sich Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess bei dem Vorsitzenden des Wohlfahrtsverbandes, Oberst von Pechmann, für die segensreiche Tätigkeit. Von Pechmann gab dieses Dankesschreiben und die Anerkennung, die ihm darin gezollt wurde, an die anderen Funktionäre und die Mitglieder des Verbandes weiter. Eine zumindest partiell zustimmende Beteiligung von führenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verbandes bei der Eingliederung in die nsv lässt sich auch für den Lan des ver band Berlin nachweisen. Einige Namen der bisherigen Provinzialvertreterinnen sind nach 1933 nicht mehr in den ohnehin nur lückenhaft vorhandenen Quellen aufzufin den. Als neue Vertreterin des Landesverbandes Berlin zeichnet E. Jablonowski. Frau Eni Jablonowski war bereits vor 1933 Provinzialvertreterin für Berlin und Branden burg; in der Zeitschrift Freie Wohlfahrtspflege berichtete sie 1932 aus der Arbeit des Verbandes. In ihrem Schreiben an die Mitgliedsvereine des Landesverbandes Berlin des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom 18.8.1933 nimmt sie Bezug auf den erfolgten korporativen Anschluss an die nsv. Die folgende Formulierung lässt sich eher als Zustimmung zu diesem Schritt denn als Distanzierung interpretieren: Durch den korporativen Anschluss unseres Verbandes an die n.s.v.w. (Reichslei tung) sind alle unsere angeschlossenen Vereine und Einrichtungen Mitglieder der n.s.v.w. geworden. Für die zukünftige Arbeit der freien Wohlfahrtspflege in Deutsch land ist das von grosser Bedeutung, und wir hoffen, dass für unsere Mitgliedsvereine sich dieser Anschluss in der erfreulichsten Weise auswirken wird. 30 31 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

Sicherlich bedeutet für manchen unserer Mitarbeiter und Vereine dieser Anschluss manchen Verzicht auf frühere Selbständigkeit. Die Opfer müssen aber für die Volks ge mein schaft auf sich genommen werden. Sie können auch desto freudiger gebracht werden, als die der n.s.v.w. angegliederten Einrichtungen sich in dem grossen, das ganze deutsche Volk umfassenden Verbande wohl geborgen fühlen und ihre bisher bewährte Arbeit weiterführen können. 31 Es bedürfte umfassender Quellensuche und -auswertung, um den Übergang des Paritätischen Verbandes in die nsv genau beschreiben und bewerten zu können. Dass führende Persönlichkeiten aufgrund ihrer Weltanschauung ihre Positionen nie derlegten, als die Überführung in den nationalsozialistischen Verband erkenn bar war, müsste im Einzelnen überprüft und nachvollzogen werden. Dass jüdische Mitar beiterinnen und Mitarbeiter zurücktraten, beziehungsweise treten mussten, lässt sich belegen. Ebenso ist aber auch nachzuweisen, dass es Zusammenarbeit mit nationalsozialistischen Institutio nen gab und diese auch von Verbandsfunktionären gefördert wurde. Eine spezifische Paritätische Welt anschauung, aus der ein Gegensatz zum national sozialistischen Denken und Handeln ableitbar wäre, ist nicht erkennbar. So wie 1934 die Eingliederung des paritätischen Verbandes in die nsv weder aus schließlich unter Zwang von außen noch unter Unterbrechung aller Traditions stränge erfolgte, sowenig war 1945 die Stunde Null des unbelasteten Neubeginns. Bei Neugründung der Landesverbände und des Gesamtverbandes waren viele Per sonen beteiligt, die auch vor 1934 im Verband oder in ihm angeschlossenen Einrich tungen tätig waren. Es bedürfte einer Fülle biografischer Studien, um die Lebensdaten und Lebensumstände rekonstruieren zu können. Es kamen Leute in die Ver bandsarbeit zurück, die im Nationalsozialismus fliehen mussten oder aus ihren Funk tionen entlassen worden waren. Dr. Ellen Simon, 1947 aus dem Exil zurückgekehrt und seit 1953 im Pestalozzi- Frö bel-haus tätig, arbeitete von 1958 bis 1970 in Beirat und Vorstand des Berliner Lan desverbandes; sie vertrat den Berliner Verband im Beirat des Gesamtverbandes. Auch Stefanie Hirt, die maßgeblich an der Wiedergründung des Berliner Landesver bandes 1950 beteiligt war, hatte 1936 ihre Stellung als Leiterin eines Kindererho lungsheims aufgegeben, als dieses der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt ange gliedert wurde, ohne dass die näheren Umstände bislang bekannt wären. 32 33 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934 Danksagung an Oberst von Pechmann

Auf der anderen Seite war eine nationalsozialistische Vergangenheit kein Hinderungsgrund, nach 1945 führende Positionen im Verband einnehmen zu können. 1949 wurde Karl Mailänder zum stellvertretenden Vorsitzenden des Gesamt verban des gewählt, 1959, ein Jahr vor seinem Tod, zum Vorsitzenden. Seine Tätigkeiten im Nationalsozialismus fassen Barbara Hüppe und Christian Schrapper in ihrer Doku mentation zur Geschichte des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen folgenderma ßen zusammen: Schon vor Hitlers Machtantritt hatten die Vertreter der Landesfürsorgeverbände die strafrechtliche Verfolgung der asozialen Wanderer gefordert. Als im Herbst 1933 eine Razzia gegen die Nichtseßhaften geplant wurde, setzte sich Karl Mailänder, der von 1935 bis 1960 Vorsitzender der Württembergischen Arbeiterkolonien war, in seiner Funktion als Chef der Zentralleitung für Wohltätigkeit in Württemberg für eine Zusammenarbeit von Polizei, Öffentlicher und Freier Wohlfahrtspflege ein. Karl Mailänder beteiligte sich auch an der sogenannten Aktion Arbeitsscheu Reich, bei der 1938 etwa 11.000 sogenannte Arbeitsscheue von der Gestapo verhaftet und in Konzentrationslager gebracht wurden. Er sorgte in Württemberg dafür, daß lager fähige asoziale Wanderer der Kriminalpolizei gemeldet wurden. In einem Schrei ben beschwerte sich Mailänder im September 1938 darüber, daß von den Hinwei sen zuwenig Gebrauch gemacht werde. 32 Auch im Verständnis von sozialer Arbeit und den Inhalten von Wohlfahrtspflege gab es Kontinuitäten. So schrieb derselbe Karl Mailänder als stellvertretender Vor sitzen der des Gesamtverbandes 1957 in den dpwv-nachrichten, dass man auf Arbeits häuser nicht ganz verzichten könne, man solle auf einwandfrei als arbeitsscheu festgestellte Menschen nicht zu viel Rücksicht nehmen und nötigenfalls auch ihre Ein weisung in eine Beschäftigungsanstalt verfügen. 33 Die Juristin Dr. Käthe Petersen, Vorstandsmitglied des dpwv-gesamtverbandes von 1967 bis 1979, mit Bundesverdienstkreuz und anderen Auszeichnungen hoch geehrt, war in der Zeit des Nationalsozialismus in der Hamburger Sozialbehörde maßgeblich daran beteiligt, Frauen aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erb kran ken Nachwuchses der Zwangssterilisierung zuzuführen. Sie hat die gesetzlichen Vorschriften und Möglichkeiten besonders streng angewendet und muss als ranghohe Vertreterin ihrer Behörde darüber unterrichtet gewesen sein, was mit den Frauen, die unter ihrer Pflegschaft standen und in Konzentrationslager eingewiesen wurden, pas sieren würde. Nach 1945 hat sie ihre Karriere in steilem Verlauf fortgesetzt. 34 Da diese Phase der Verbandsgeschichte bislang wenig erforscht ist und die Quellensu che ausgesprochen schwierig ist, können hier nur einzelne Ausschnitte aufgezeigt werden. Die Auswahl der hier genannten Namen ist zufällig. Eine Erforschung der Biografien von Verbandsfunktionären wäre, sowohl auf der Ebene der Landesver bände als auch auf Gesamtverbandsebene, eine wichtige und lohnende Aufgabe. Erste Schritte dazu erfolgten im Rahmen einer bisher unveröffentlichten Dissertationsarbeit, die der dpwv-gesamtverband unterstützt. Die Quellenlage zeigt, dass Wilhelm Polligkeit, seit 1949 Ehrenvorsitzender des Verbandes, in seinen verschiedenen Funktionen ab Mitte der dreißiger Jahre eine Forschungsarbeit förderte und betrieb, die durchaus weltanschaulichen und politischen Vorgaben des Nationalsozialismus entsprach und zuarbeitete. Der Verbandsrat beschloss daraufhin 1999, dass die zentrale Fortbildungseinrichtung des Gesamtverbandes, das Wilhelm-Polligkeit-Institut, in Haus der Parität umbenannt und die Wilhelm-Polligkeit-Plakette nicht mehr verliehen wird. 35 Die Tatsache, dass der Verband 1934 aufgelöst und seine Einrichtungen der Nationalso zialistischen Volkswohlfahrt eingegliedert wurden, scheint Grund genug gewesen zu sein, nicht mehr nach den Bedingungen und Umständen zu fragen und sich selbst als Opfer zu sehen. Es wäre wichtig, diese Phase der Verbandsgeschichte über die biografischen Aspekte hinaus aufzuarbeiten. Aufgrund der vorliegenden Materialien und Untersuchungen lässt sich zeigen, dass die Selbstsicht als Opfer des Nationalso zialismus zu eng greift. Führende Persönlichkeiten des Verbandes mussten ihre Posi tionen aufgeben, aber nicht aufgrund ihrer Tätigkeit für den Verband oder ihrer spe zifischen Paritätischen Weltanschauung, sondern weil sie Juden waren oder wegen ihrer persönlichen Weltanschauung. Vonseiten des Verbandes war zumindest eine partielle Zusammenarbeit mit nationalsozialistischen Institutionen und deren Funktio nären möglich. 34 35 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934

Ein Exkurs Hat der Fünfte Wohlfahrtsverband ein gemeinsames Ideal? Hat der Fünfte Wohlfahrtsverband ein gemeinsames Ideal? Diese Frage stellte der Landesvertreter für Braunschweig des Fünften Wohl fahrts ver bandes 1927 in der Zeitschrift Freie Wohlfahrtspflege ; und er beantwortete sie dahingehend, dass die Grundlage des verbandlichen Zusammenschlusses und seine erste Aufgabe in der wirtschaftlichen Absicherung seiner Mitglieder und der gemeinsamen Inte ressenvertretung gegenüber staatlichen Stellen bestanden habe, dass aber trotzdem eine ideelle Gemeinsamkeit vorhanden sei, nämlich der Geist der bedingungslosen Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit. 36 Hier wurde ein Problem angesprochen, das sowohl den V. Wohlfahrtsverband in der Weimarer Republik als auch die Entwicklung des Paritätischen seit 1949 begleitete, die Frage nach der weltanschaulichen Legitimierung Paritätischer Wohlfahrtsarbeit. Der Verband war als Zweckverband zur ökonomischen und politischen Interes sen ver tretung entstanden. Dass die Motive der Verbandsbildung so offensichtlich wirtschaft licher und politischer Natur waren, wurde als unangenehm empfunden. Während heute im Paritätischen viele Vereine Mitglied sind, in denen sich Betroffene zur gemeinsamen Vertretung ihrer Interessen zusammengefunden haben, waren die tra ditionellen Wohlfahrtsvereine Gründungen von Nicht-Betroffenen, von Gesunden und häufig Begüterten, um anderen, die in Not geraten waren, zu helfen. Sie konn ten ihr Engagement nicht aus den unmittelbaren Interessen der Vereinsmitglieder begründen, sondern mussten andere Motive benennen. Das gemeinsame religiöse Grundverständnis oder die Tradition genossenschaftlicher Selbsthilfe in der Arbei ter bewegung waren Motive freier Wohlfahrtsarbeit, auf die sich die anderen Spitzenverbände berufen konnten. Der V. Wohlfahrtsverband als religiös und parteipolitisch ungebundener Verband war notwendig geworden, weil die anderen Spitzenver bände sich weltanschaulich definierten und somit eine Gruppe von Einrichtungen übrig blieb, die sich in ihnen nicht integrieren konnte. Dieser Mangel an weltanschaulicher Bindung wurde aber als Makel empfunden. So schrieb der Verbandsvorsitzende, Leo Langstein, 1927: Für eine Reihe von Anstalten waren es in erster Linie wirtschaftliche Gesichtspunkte, die ihnen den Zusammenschluß wünschenswert machten. Nicht die Frage: Welche Zwecke und Ziele verfolgt der Fünfte Wohlfahrtsverband, welche Gesinnung ist die Voraussetzung für den Eintritt in den Verband?, sondern eine andere: Was bietet der Fünfte Wohlfahrtsverband den ihm angeschlossenen Anstalten und Ein richtun gen? ist es gewesen, die für die Anstalten bestimmend war, sich dem Verbande anzuschließen oder ihm fernzubleiben.[...] Dachten auch keineswegs alle Anstalten so materiell, es bleibt doch eine nicht geringe Reihe übrig, welche auf Grund wirtschaftlicher Vorteile den Anschluß erstrebte. Diese Tatsache ist lediglich damit zu entschuldigen, daß die betreffenden Anstalten und Einrichtungen nicht die Muße hatten, sich in den Geist des Fünften Wohlfahrtsverbandes zu vertiefen. 37 In Zeitschriftenartikeln und in Diskussionen auf den Mitgliederversammlungen begaben sich die Verbandsvertreter auf die Suche nach dem Geist des Fünften Wohl fahrtsverbandes. Auf der Mitgliederversammlung 1926 wurde die Einrichtung einer Kommission vorgeschlagen, die sich mit diesen grundsätzlichen Fragen beschäftigen sollte. Die Losung einer für alle und alle für einen, 38 das Gefühl der menschlichen Ver pflichtung, den Mitmenschen zu helfen, 39 Humanität und Nächstenliebe wur den bemüht, um ein verbandliches Selbstverständnis zu benennen. 1930 wählte man den Namen Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, um mit dem Begriff der Parität das Ideale, die inhaltliche Legitimation zu benennen. Aufgrund prag matischer Nützlichkeitserwägungen zustande gekommen, konnte der Verband die ideelle Grundlage seiner Wohlfahrtsarbeit erst im Nachhinein for mulieren. Zugleich musste das Selbstverständnis so weit und allgemein gefasst 36 37 Die Jahre 1924-1934 Die Jahre 1924-1934