Unfallbedingte Gefährdung, die Harmlosigkeitsgrenze



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Transkript:

E. Ludolph Das sogenannte Schleudertrauma der Halswirbelsäule Aktuelle Rechtsprechung und sich daraus ergebende Fragen an den ärztlichen Gutachter Rechtsprechung Die Rechtsprechung bestimmt die Grenzen, innerhalb derer Ansprüche nach einem Verkehrsunfall durchgesetzt werden können. Der ärztliche Gutachter, unterstützt durch die Unfallanalytik und Biomechanik, entwickelt dafür die Grundlage. Die Diskussion zum sogenannten Schleudertrauma der Halswirbelsäule in der Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland setzt an 1. bei der unfallbedingten Gefährdung ( Harmlosigkeitsgrenze, Out-ofposition-Haltung ), 2. beim Beweis des unfallbedingten Erstschadens (Vollbeweis des ersten Verletzungserfolgs) und 3. beim Zurechnungszusammenhang von Folgeschäden (Schutzzweckzusammenhang geklagter Beschwerden). Die zur Heckkollision entwickelten Grundsätze zum sog. Schleudertrauma werden von der Rechtsprechung dabei nicht nur auf diese angewandt, sondern auch auf weitere Kollisionstypen mit Beschwerden ohne klar definiertes morphologisches Substrat (z. B. BGH, Urteil vom 08.07.2008 VI ZR 274/07). Unter einem sog. Schleudertrauma werden nach der Schulmedizin nicht Anschrift des Verfassers Dr. med. E. Ludolph Arzt für Chirurgie/Unfallchirurgie Sportmedizin, Sozialmedizin, Chirotherapie Institut für ärztliche Begutachtung Sonnenacker 62 40489 Düsseldorf objektivierbare Beschwerden in der Mehrzahl nach Heckkollisionen verstanden. Das gleiche nicht objektivierbare Beschwerdebild kann aber auch nach Frontal-, Streif- oder Seitkollisionen vorliegen. Die Rechtsprechung nähert sich dem Problem über die o. g. drei Lösungsansätze. Unfallbedingte Gefährdung, die Harmlosigkeitsgrenze Ausgehend von der Vorstellung, dass jeder Mensch bestimmte Belastungen des täglichen Lebens toleriert, wurde von Unfallanalytikern/Biomechanikern eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung des im Heck angefahrenen Fahrzeugs bis in der Regel 10 bis 15 km/h als nicht gefährdend unterstellt. Es wurde also von einer Vulnerabilitätsgrenze ausgegangen. Dieser Euphorie der Unfallanalytiker/Biomechaniker, deren zunehmende Rolle auf eine Empfehlung des Deutschen Verkehrsgerichtstags 1994 in Goslar zurückging, wurde durch den BGH (Urteil vom 28.01.2003 VI ZR 139/02, NJW 03/1116; Urteil vom 03.06.2008, VI ZR 235/07; Urteil vom 08.07.2008, VI ZR 274/07) Einhalt geboten. Beispielhaft wiedergegeben werden darf zur Heckkollision aus dem Urteil vom 28.01.2003: Der Beklagte fuhr mit dem von ihm gesteuerten Pkw am 25.03.1992 um 9.30 Uhr auf das Heck des verkehrsbedingt haltenden Pkw des Klägers auf. Nachmittags begab sich der Kläger in ärztliche Behandlung. Diagnostiziert wurde ein HWS-Schleudertrauma. Ihm wurde eine Schanz sche Krawatte verschrieben. Im zeitlichen Abstand zum Unfallereignis weiteten sich die Beschwerden aus. Geklagt wurden Schwindel und Sehstörungen. Zusammenfassung Anhand einzelner Entscheidungen zum Zivil- aber auch zum Sozialrecht (gesetzliche Unfallversicherung) werden die Anforderungen dargestellt, die die Rechtsprechung aufgestellt hat zum Nachweis des ersten Verletzungserfolgs, der für beide Rechtsgebiete im Vollbeweis gesichert sein muss ( 286 ZPO) bei einem rein subjektiven Beschwerdebild nach einem Verkehrsunfall, in der großen Zahl der Fälle nach einer Heckkollision. Steht ein Folgeschaden zur Diskussion, ist für beide Rechtsgebiete der Schutzzweckzusammenhang entscheidend, ob also bei einer Begehrensneurose, die durch den fraglichen Schadenersatzanspruch unterhalten wird, der Schadenersatz dem Schutzzweck des 823 BGB bzw. der gesetzlichen Unfallversicherung entspricht. Erforderlich ist ein ärztliches Gutachten, unterstützt in geeigneten Fällen von einem unfallanalytischen Gutachten. Benannt werden die zur Begutachtung erforderlichen Unterlagen und die zu stellenden Fragen. Schlüsselwörter sogenanntes Schleudertrauma der Halswirbelsäule Rechtsprechung Begutachtung 1994 wurde eine Ruptur der Ligamenta alaria diagnostiziert. 1995 erfolgte die operative Fusion von C1/C2. Die Diagnose Ruptur der Ligamenta alaria (Flügelbänder) war ebenso wie die operative Fusion (Versteifung) von C1/C2 (unteres Kopfgelenk) zwar in Unkenntnis der bildtechnischen Befunde und des Operationsberichts naheliegend eine Fehldiagnose und eine Falschbehandlung, die, bereits 1995 international scharf kritisiert (persönliche Mitteilung von F. H. Walz, Zürich), von einigen wenigen Ärzten (Außenseiternetzwerk) gestellt und operativ behandelt wurde. Das kann aber in diesem Zusammenhang offen bleiben. Denn die Diagnose wurde unfallbedingt gestellt, die operative Behandlung wurde unfallbedingt durchgeführt, die Unfallbedingtheit der operativen Behandlung wurde vom OLG als gesichert unterstellt, was als Tatsachenfeststellung vor dem BGH nicht angreifbar war. Das OLG verur- 178 MED SACH 109 5/2013

teilte den Beklagten zu Schadenersatz und Schmerzensgeld und verneinte bei Unterstellung der Diagnose (unfallbedingte Ruptur der Ligamenta alaria ) die Notwendigkeit, ein unfallanalytisches Gutachten dazu einzuholen, ob die Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit allenfalls 4 bis 10 km/h betragen habe, ein unfallbedingter erster Verletzungserfolg also auszuschließen sei. Die Revision gegen diese Entscheidung wurde vom BGH zurückgewiesen mit der Begründung, dass es keine Harmlosigkeitsgrenze gebe, die einen unfallbedingten ersten Verletzungserfolg ausschließe. Eine im Kern gleichlautende Entscheidung betrifft eine Frontalkollision (BGH, Urteil vom 08.07.2008 VI ZR 274/07): Es klagte der Arbeitgeber der am Verkehrsunfall schuldlosen Frau L. auf Ersatz seines durch die Arbeitsunfähigkeit von Frau L. entstandenen Schadens. Frau L. habe unfallbedingt ein Schleudertrauma erlitten. Der Klage wurde stattgegeben mit der Begründung, Frau L. habe eine HWS-Distorsion erlitten, die ursächlich für die Arbeitsunfähigkeit in der Zeit vom 20.10.2003 bis 02.11.2003 gewesen sei. Der Sachverhalt war folgender: Der Beklagte fuhr am 07.10.2003 aus einem Parkplatz auf die Vorfahrtsstraße. Frau L., angegurtet, die sich auf der Vorfahrtsstraße befand, fuhr - trotz einer Vollbremsung mit dem von ihr gesteuerten Pkw frontal in die linke Fahrzeugseite des vom Beklagten gesteuerten Pkw. Zwei Tage später, am 09.10.2003, suchte Frau L. einen Arzt auf. Sie führte die Beweglichkeit der Halswirbelsäule eingeschränkt vor. Aufgrund der Zeugenaussage des behandelnden Arztes wurde von muskulären Verspannungen im Bereich der Schulter-Nackenmuskulatur ausgegangen. Durchgeführt wurde eine Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule, die jedoch keine Verletzungszeichen zur Darstellung brachte. Verordnet wurden Tabletten. Arbeitsunfähigkeit wurde zunächst nicht attestiert. Am 20.10.2003, also elf Tage später, suchte Frau L. erneut den Arzt auf. Sie klagte nunmehr über fortdauernde Kopfschmerzen, über eine körperliche Bewegungsbeeinträchtigung und über Übelkeit. Ausgestellt wurde eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in der Zeit vom 20.10.2003 bis 02.11.2003. Die der Klage stattgebenden Urteile der Vorinstanzen stützten sich ausschließlich auf die Zeugenaussagen von Frau L. und des behandelnden Arztes. Es wurde also weder ein unfallanalytisches noch ein biomechanisches noch ein ärztliches Gutachten eingeholt. Abgesehen davon, dass vorliegend alles gegen eine stattgehabte Verletzung der Halswirbelsäule spricht keine Gurtverletzung, obwohl die Krafteinwirkung bei einer Frontalkollision vor allem über den Sicherheitsgurt erfolgt, Arztbesuch erst nach zwei Tagen, obwohl die Halswirbelsäule an Bewegungen des Kopfes und der Augen beteiligt ist, nur vorgeführte Funktionseinbußen, unspezifische Befunde und Wechsel der Beschwerden bis zum folgenden Arztbesuch ist die Begründung des BGH, mit der die Revision zurückgewiesen wurde, jedoch zutreffend. Auch bei der Frontalkollision gibt es keine Harmlosigkeitsgrenze, mit der die beklagte Haftpflichtversicherung ausschließlich argumentierte. Eine solche gibt es in dieser absoluten Form grundsätzlich nicht. Man kann sich, z. B. durch unglückliche Reaktionen auf ein Unfallereignis, jederzeit verletzen, auch im Bereich der Halswirbelsäule, auch bei nur geringen Belastungen. Dass kein ärztliches Gutachten durch die Vorinstanzen eingeholt worden war, wurde von der Haftpflichtversicherung nicht beanstandet. Beanstandet wurde ausschließlich, dass kein Gutachten eines Sachverständigen für Unfallanalyse und Biomechanik eingeholt wurde. Diese Beanstandung wurde jedoch vom BGH zu Recht zurückgewiesen. Die genannten Entscheidungen führen aber nicht zur Bedeutungslosigkeit der Harmlosigkeitsgrenze. Sie ist nach der BGH-Rechtsprechung ein wesentliches Indiz unter weiteren Indizien, das bei nicht zu begründender Gefährdung (Harmlosigkeitsgrenze) gegen eine Verletzung spricht. Anscheinsbeweis bei Überschreiten der Harmlosigkeitsgrenze? Aus den unfallanalytischen Erkenntnissen zur Vulnerabilitätsgrenze zog und zieht das Kammergericht (KG) Berlin bezogen auf die Heckkollision zu Unrecht den umgekehrten Schluss, dass nämlich ab einer Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit von 15 km/h der Anscheinsbeweis dafür spreche, dass es unfallbedingt zu einer HWS-Verletzung gekommen sei (KG Berlin, Urteil vom 21.10.1999 12 U 8303/95 NJW 2000/877 ff. und KG Berlin, Urteil vom 11.04.2011 22 U 1/10 SP 12/11, 433f). Der Anscheinsbeweis ist dann gegeben, wenn ein nachgewiesener Sachverhalt nach allgemeiner Lebenserfahrung in aller Regel bestimmte Folgen hat. Dann sind diese nach dem ersten Anschein als voll bewiesen anzusehen [10]. Diese Beweiswürdigung entspricht jedoch nicht der gesicherten unfallchirurgischen Erfahrung (herrschende Meinung) zum sog. Schleudertrauma [6, 11, 12]. Die Rechtsprechung des KG Berlin wird weder der Fortentwicklung der modernen Sicherheitssysteme, noch der unterschiedlichen Reaktionsgeschwindigkeit der Fahrzeuginsassen auf eine Heckkollision, noch der unterschiedlichen Ausprägung der Halswirbelsäulen-Schultermuskulatur und der Halswirbelsäule gerecht. Es kann in Abhängigkeit von der Reaktion, der Sitzposition, der Einstellung der Kopfstützen und der Konstitution und Statur des/der Betroffenen zwar zu Verletzungen unterhalb der Harmlosigkeitsgrenze kommen, oberhalb dieser Grenze können diese jedoch auch ausbleiben. Jeder Einzelfall ist insofern detailliert mit Hilfe eines ärztlichen Gutachtens zu prüfen. Beweiserleichterungen gibt es in Bezug auf den ersten Verletzungserfolg nicht. Es gibt jedoch gesicherte Erfahrungen, so auch das OLG Düsseldorf (Urteil vom 12.04.2011; 1 U 151/10): Indes hebt sowohl der Kläger in seiner Berufungsbegründung als auch die Beklagte in ihrer Erwiderung mit Rechtsprechungsnachweisen zu Recht hervor, dass die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der Halswirbelsäule des Insassen des angestoßenen Fahrzeugs proportional ist zu dem Ausmaß der unfallbedingten Geschwindigkeitsänderung. Zu beachten ist: Die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung, nicht die Sicherheit und auch nicht der erste Anschein einer Verletzung. Ermittlung der Harmlosigkeitsgrenze Vulnerabilitätsgrenzen bzw. Harmlosigkeitsgrenzen sind für die menschliche Entwicklung unerlässlich. Eine gewisse physische und psychische Belastbarkeit MED SACH 109 5/2013 179

des Menschen ist Voraussetzung dafür, dass die normalen Anforderungen des Lebens in der Schwerkraft von Gesellschaft und Rechtsordnung erfüllt werden können. Das gilt auch für die Belastbarkeit der Halswirbelsäule. Zuständig für die Ermittlung der sog. Harmlosigkeitsgrenze bei Verkehrsunfällen ist der Mediziner, also weder der Unfallanalytiker noch der Biomechaniker, noch der Jurist. Der Mediziner muss vorgeben, von welcher Belastbarkeit der Halswirbelsäule grundsätzlich auszugehen ist, wo also die Vulnerabilitätsgrenze liegt. Der Unfallanalytiker ermittelt dann die konkret abgelaufene Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit, der Biomechaniker die daraus resultierende Belastung der Halswirbelsäule. Frontal- und Heckkollision unterscheiden sich in Bezug auf die Vulnerabilitätsgrenze sowohl von deren Größenordnung als auch von den Möglichkeiten, Verletzungen zu erleiden, deutlich. Statistisch gesehen ist die Frontalkollision der bei weitem häufigste Unfalltyp. Die Heckkollision ist demgegenüber um mindestens das zehnfache seltener [18]. Halswirbelsäulenverletzungen beruhen bei der Frontalkollision in erster Linie auf einem Abknickmechanismus, bei dem der Kopf trotz angelegtem Sicherheitsgurt mit Fahrzeugteilen in Berührung kommt, hingegen nicht auf einem Schleudermechanismus. Verletzungen der Halswirbelsäule machen bei der Frontalkollision gerade einmal 7 % der Verletzungen überhaupt aus, wobei in aller Regel nicht isolierte Verletzungen der Halswirbelsäule vorliegen, sondern auch schwerste Begleitverletzungen. Statistisch auffallend ist der prozentual hohe Anteil Unfallbeteiligter nach Heckkollisionen gegenüber Frontalkollisionen am Kollektiv der Verletzten (um 400 % erhöht) gegenüber dem verschwindend kleinen Anteil Unfallbeteiligter nach Heckkollisionen am Kollektiv der Unfalltoten [1]. Ausgehend von tödlichen Verletzungsbildern ist die Heckkollision bei dem heutigen Pkw-Sicherheitsstandard mit großem Abstand der harmloseste Unfalltyp. Ausgehend von der Zahl der Verletzten wäre er der bei weitem gefährlichste Unfalltyp. Für dieses Phänomen gibt es weder unfallanalytisch noch biomechanisch noch anatomisch-strukturell eine plausible Erklärung. Eine Krafteinwirkung auf den Fahrzeuginsassen wird über die Fahrgastzelle übertragen. Voraussetzung für eine isolierte Halswirbelsäulenverletzung ist die wuchtige kollisionsbedingte Fahrzeugbeschleunigung bzw. -verzögerung. Verharrt z. B. das im Heck bzw. im Bereich der Fahrzeugfront angefahrene Fahrzeug in seiner Position und kommt es auch nicht zum Eindringen von Fahrzeugteilen in den Fahrzeuginnenraum, lässt sich eine Verletzung der Insassen ausschließen. Denn der Rumpf wird in Relation zum Kopf nicht beschleunigt/verzögert. Nicht jede Relativbewegung zwischen Kopf und Rumpf ist mit einem Verletzungsrisiko verbunden. Eine Gefährdung der Halswirbelsäule lässt sich nur begründen, wenn die unfallbedingt aufgezwungene Bewegung/Belastung die physiologische Belastbarkeit der Halswirbelsäule übersteigt. Da am lebenden Menschen nicht bzw. nur sehr begrenzt experimentiert werden kann und die Belastbarkeit des Menschen individuell großen Schwankungen unterliegt, existieren keine verlässlichen Daten über die Belastbarkeit der Halswirbelsäule. Der Ansatzpunkt zur Abgrenzung der physiologischen, nicht gefährdenden, von der unphysiologischen, mit einem erhöhten Verletzungsrisiko verbundenen, Belastung ist deshalb die Orientierung an Belastungen, die erfahrungsgemäß nicht zu Verletzungen der Halswirbelsäule führen. In Abstraktion vom Einzelfall werden Gefährdungsgrenzen aufgestellt, die in der großen Zahl der Fälle im so genannten abgesicherten Bereich liegen. Diese Untersuchungen betreffen jedoch ganz überwiegend nur die Heckkollision. Bei dieser wird der Rumpf sozusagen unter dem Kopf weggeschlagen, während der Kopf, der Schwerkraft folgend, in seiner Position verharrt. Bei der Frontalkollision dagegen bewegen sich Kopf und Rumpf in gleicher Richtung nach vorn, der Rumpf wird jedoch durch den Sicherheitsgurt zurückgehalten. Bei der Frontalkollision sieht der Betroffene den Unfall zudem kommen, was bei der Heckkollision nicht der Fall sein muss. Bei der Frontalkollision sind es vor allem die klinischen Parameter Gurtverletzungen, unfallnahes Verhalten, Konstanz der geklagten Beschwerden, Objektivierung durch bildtechnische Aufnahmen, die eine Gefährdung der Halswirbelsäule anzeigen. Als Orientierungsdaten für die tolerierbaren Kollisionsdifferenzgeschwindigkeiten bei Heckkollisionen wird auf Erkenntnisse aus dem Betrieb von Autoscootern und auf zahlreiche Untersuchungen (Versuche) der Unfallforschung zurückgegriffen. Insofern liegen aussagekräftige unfallanalytische Untersuchungen vor. Kollisionsbedingte Fahrzeugbeschleunigungen bis zu 15 km/h werden in der Regel problemlos toleriert. Sie übersteigen in der großen Zahl der Fälle nicht die physiologische Belastbarkeit der Halswirbelsäule, was aber nicht heißt, dass es unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite der individuellen Belastbarkeit im so genannten abgesicherten Bereich nicht zu Verletzungen der Halswirbelsäule kommen kann bzw. umgekehrt im nicht abgesicherten Bereich Verletzungen der Halswirbelsäule naheliegend sind. Die sog. Harmlosigkeitsgrenze ist jedoch ein Indiz unter mehreren gegen bzw. für eine stattgehabte Verletzung. Bei der Diskussion der so genannten Harmlosigkeitsgrenze dürfen zudem die Sicherungssysteme nicht unberücksichtigt bleiben, wie Fahrzeugkonstruktion, Sitzkonstruktion, Kopfstützen, Gurtstraffer, Gurtkraftbegrenzer und Airbag-Systeme, an deren Verbesserung stetig weiter gearbeitet wird. Die unfallanalytischen Feststellungen wurden und werden zunehmend kritisiert [3]. Argumentiert wird z. B., die durchgeführten Experimente und die Erfahrungen mit dem Betrieb von Autoscootern seien auf reale Heckkollisionen nicht übertragbar, weil das Kollektiv Unfallopfer mit dem Kollektiv Autoscooterinsassen und Versuchspersonen nicht vergleichbar sei. Beim Vergleichskollektiv fehle das Überraschungsmoment. Die auf die drohende Gefahr vorbereitete Muskulatur stabilisiere die Halswirbelsäule. Diese Argumentation ist für den Kirmesbesucher sicher nicht haltbar. Dieser sitzt nicht mit muskulär angespannter Halswirbelsäule im Autoscooter zumal nicht nach Alkoholgenuss. Für das Kollektiv Versuchspersonen belegen Messungen der 180 MED SACH 109 5/2013

Muskelspannung während des Versuchsverlaufs, dass es durch die Versuchsanordnungen gelingt, reale Unfallsituationen weitgehend zu simulieren, also einen dem realen Unfallopfer vergleichbaren Entspannungszustand als Ausgangspunkt des Versuchsablaufs herbeizuführen. Im Übrigen ist das unfallanalytische Gutachten lediglich ein Hilfsmittel, zu dem nur dann gegriffen wird, wenn eine strukturelle Verletzung nicht gesichert werden kann. Findet sich das unfallbedingte morphologische Substrat, bedarf es unfallanalytischer Überlegungen nicht. Kann dieses jedoch nicht gesichert werden, ist die Größenordnung der unfallbedingten Gefährdung eines von mehreren Indizien, um trotz fehlender struktureller Veränderungen eine stattgehabte Verletzung zu sichern oder zu verneinen. Out-of-position-Haltung des Kopfes und der Halswirbelsäule (OLG Düsseldorf, Urteil vom 29.08.2005; I 1 U 11/05) Der Pkw (Mercedes-Benz C 220 CDI) des Klägers, eines Fahrschullehrers, wurde von einem Pkw Rover Mini im Heck angefahren. Die Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit, die Geschwindigkeit also, um den der Pkw Mercedes unfallbedingt beschleunigt wurde, betrug 8 bis 11 km/h gesichert also 8 km/h. Der Kläger gab an, er habe zum Unfallzeitpunkt vor einer Rotlicht zeigenden Ampel stehend mit schräg nach oben links gedrehtem Kopf gesessen. Sein Kopf sei out of position gewesen. Die Halswirbelsäule sei dadurch stärker gefährdet gewesen. Die Out-of-position-Haltung be - schreibt die Tatsache, dass nicht alle Fahrzeuginsassen zum Zeitpunkt des Unfalls eine Haltung einnehmen, die die Sicherheitssysteme der Fahrzeuge als ideal voraussetzen. Durch die Sitzhaltung kann das Verletzungsrisiko sowohl vergrößert als auch verkleinert werden. Die sehr ausführlich begründete Entscheidung des OLG Düsseldorf kommt zu dem Schluss, dass jedenfalls diese Outof-position-Kopfhaltung nicht zu einem erhöhten Verletzungsrisiko der Halswirbelsäule führt. Der Kopf wird weiterhin durch die Kopfstütze zurückgehalten, so dass es nicht zu einer Relativbewegung von Kopf und Rumpf kommen kann. Es ist unerheblich, ob der Kopf seitlich oder mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze gedrückt wird. Entscheidend ist, dass die Halswirbelsäule unfallbedingt nicht übermäßig beansprucht wird. (KG Berlin, Urteil vom 09.05.2005 12 U 14/04) Vom Kläger wurde vorgetragen, er habe zum Unfallzeitpunkt in den Innenspiegel geblickt. Daraus ergebe sich eine vom Regelfall abweichende höhere Gefährdung. Der Blick in den Innenspiegel zur Beobachtung des sich von hinten annähernden Verkehrs, der häufig als Outof-position-Stellung der Halswirbelsäule angeführt wird, bedingt keine höhere Gefährdung. Denn dieser wird im Wesentlichen mit den Augenbewegungen kontrolliert, nicht aber durch eine messbare Kopfbewegung, insbesondere keine Kopfbewegung, die die Rückhaltewirkung der Kopfstütze beeinträchtigt. Wiederholt angeführt wird eine Rumpfbewegung nach vorn, um den Einschaltknopf des Radios zu erreichen, um etwas vom Boden aufzuheben oder aus einer auf dem Boden stehenden Tasche zu nehmen, was z. B. bei einem bei Rotlicht vor einer Ampel stehenden Fahrer nachvollziehbar ist. Diese Bewegungen verlängern jedoch die Reaktionszeit bis zu einer möglichen Krafteinwirkung auf die Halswirbelsäule. Denn die neuromuskuläre Reaktion der Nackenmuskulatur setzt reflexartig unmittelbar nach der Kollision ein, also ehe der Kopf Kontakt mit der Kopfstütze bekommt [7]. Sie verringern daher eher das Verletzungsrisiko, da sich die Muskulatur anspannt, ehe es bedingt durch die Rückenlehne des Sitzes zu einer Relativbewegung von Kopf und Rumpf kommen kann. Eine Out-of-position-Haltung kann jedoch diskutiert werden, wenn sich die Rückhaltewirkung der Kopfstützen nicht auswirken kann. Diese Haltung kann mit einer erhöhten Gefährdung der Halswirbelsäule verbunden sein. Beweis des unfallbedingten Erstschadens Der nächste Stolperstein für den Anspruchsteller ist der von der Rechtsprechung sowohl im Zivilrecht als auch im Sozialrecht geforderte Vollbeweis (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) des Erstschadens (erster Verletzungserfolg). Kopf- und Nackenschmerzen als Erstschaden nach einer Heckkollision sind im Vollbeweis zu sichern. Erforderlich ist völlig unabhängig von der Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit ein ärztliches Gutachten. Es stellt sich die Frage, welche Anforderungen an das ärztliche Gutachten bzw. an den Beweis des ersten Verletzungserfolgs zu stellen sind. Das Urteil des Landgerichts Hamburg (306 O 504/10; SP 01/13, 13) vom 08.06.2012 hat den typischen Fall eines sog. HWS-Schleudertraumas zum Thema. Der Kläger klagte nach einer Heckkollision über Kopf- und Nackenschmerzen sowie über Übelkeit. Diese subjektiven Beschwerdebilder wurden durch entsprechende Atteste in ärztliche Diagnosen umgesetzt und sollten den unfallbedingten Erstschaden - im Vollbeweis - belegen. Das LG Hamburg lehnte es ab, dass mit derartigen subjektiven Beschwerden, in ärztlichen Attesten in Diagnosen umgesetzt, ein erster Verletzungserfolg bewiesen werden könne (ebenso LG Hanau: Urteil vom 08.04.2005-2 S 276/04 - SP 2005/267). Ein Therapeut geht von der Möglichkeit von Beschwerden aus, der ärztliche Gutachter hat diese jedoch wenn es um den ersten Verletzungserfolg geht bei Schadenersatzansprüchen für alle Rechtsgebiete im Vollbeweis zu sichern, wozu ärztliche Atteste über rein subjektive Beschwerden nicht ausreichen. Die Attestierung z. B. einer HWS-Distorsion, ohne das dafür wegweisende morphologische Substrat beim jeweiligen Patienten zu kennen und zu benennen, ist lässt man den subjektiv erforderlichen Tatbestandsanteil ( 25 (Muster-) Berufsordnung: Nach bestem Wissen, 278 StGB: Wider besseres Wissen ) außer Betracht objektiv ein Verstoß sowohl gegen 25 der (Muster-)Berufsordnung als auch gegen 278 StGB. Attestiert werden kann in Unkenntnis von Vorerkrankungen, des Unfallmechanismus, des Verhaltens bis zum Arztbesuch etc. der Verdacht einer HWS-Distorsion. Die tatsächliche Aussagekraft ärztlicher Atteste ist nicht geeignet, einen unfallbedingten ersten Verletzungserfolg zu sichern. MED SACH 109 5/2013 181

Vor diesem Hintergrund ist auch die Forderung, der Therapeut müsse als Zeuge vernommen werden, ob er den Patienten für glaubhaft halte [4], nicht sinnvoll, denn das ist nicht die Aufgabe eines Therapeuten und entspricht nicht dessen Erkenntnismöglichkeiten. Grundsätzlich können solche Fragen einem medizinisch-naturwissenschaftlich tätigen Arzt nicht gestellt werden, dafür fehlt der Sachverstand. Erst recht können sie aber einem Therapeuten nicht gestellt werden, der sich mit der Frage, ob der Patient glaubhaft ist, allenfalls dann befasst, wenn die diagnostische Ab klärung abgeschlossen ist, ein morphologisches Substrat für geklagte Beschwerden nicht gefunden wurde und therapeutische Maßnahmen dennoch fortgesetzt werden. In aller Regel hat der Therapeut von den Angaben des Patienten auszugehen, solange eine stattgehabte Verletzung möglich ist. Atteste des Therapeuten sind deshalb so zu lesen, wie sie gemeint sind. Sie bescheinigen eine Verdachtsdiagnose. Erörtert werden darf der im Abschnitt Unfallbedingte Gefährdung dargestellte Fall, den der BGH durch Urteil vom 08.07.2008 (VI ZR 274/07) entschieden hat. Die Beamtin, Frau L., fuhr mit dem von ihr gesteuerten Pkw am 07.10.2003 frontal in die linke Seite eines anderen Pkw, der ihr die Vorfahrt genommen hatte. Sie suchte am 09.10.2003, also zwei Tage nach dem Verkehrsunfall, erstmals ihren Hausarzt auf. Sie klagte über Kopf- und Nackenschmerzen. Die Halswirbelsäule wurde eingeschränkt bewegt. Veranlasst wurde eine bildtechnische Untersuchung der Halswirbelsäule leider ergibt sich aus der Entscheidung nicht, welche bildtechnische Untersuchung veranlasst wurde, die keinen verletzungsspezifischen Befund zur Darstellung brachte. Am 20.10.2003, also 13 Tage nach dem Verkehrsunfall, suchte Frau L. erneut den Hausarzt auf. Sie klagte über fortdauernde Kopfschmerzen, körperliche Bewegungsbeeinträchtigungen sowie ein andauerndes Unwohlgefühl. Die Beklagte bestritt unfallbedingte Verletzungen von Frau L. Der Hausarzt, als Zeuge vernommen, sagte aus, Frau L. müsse im Schulter-Nackenbereich muskuläre Verspannungen gehabt haben, denn bei fehlenden Verspannungen trotz geklagter Beschwerden überweise er Patienten zum Chirurgen, was bei Frau L. nicht der Fall gewesen sei. Muskuläre Verspannungen der Schulter-Nackenmuskulatur wurden als Verletzungszeichen gewertet. Der Klage wurde ohne Einholung eines Gutachtens zur Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit stattgegeben. Der BGH bestätigte bei eingeschränkter Nachprüfungsmöglichkeit die Urteile der Vorinstanzen. Es stellt sich die Frage, ob muskuläre Verspannungen der Schulter-Nackenmuskulatur ein Verletzungszeichen sind. Diese Frage ist ohne jede Einschränkung zu verneinen. Derartige Verspannungen sind weder verletzungstypisch noch gar verletzungsspezifisch. Sie sind außerordentlich weit verbreitet, z. B. Folge unzureichender Ausgleichsbewegungen bei Schreibtischtätigkeiten oder Folge psychischer Probleme. Ein Verletzungszeichen wären sie nur, wenn ihnen eine verletzte Struktur zu Grunde liegen würde, die jedoch nicht benannt wurde und nach dem Verlauf auch nicht vorgelegen hat. Der Fall stellt eine weitere Frage: Welche Indizwirkung hat ein Wechsel des Beschwerdebildes bzw. die Addition weiterer Beschwerden Kopfschmerzen, Übelkeit. Ein derartiger Wechsel ist ein deutliches Indiz gegen eine unfallbedingte Ursache der geklagten Beschwerden. Denn zumindest zwei Tage nach dem Unfall (Datum des ersten Arztbesuchs im Fall des BGH VI ZR 274/07) ist es fernliegend, dass es ohne objektives unfallbedingtes morphologisches Substrat zu weiteren bzw. geänderten Beschwerden kommt. Es stellt sich die weitere Frage, ob es in jedem Fall eines ärztlichen Gutachtens bedarf, um einen unfallbedingten Erstgesundheitsschaden oder Erstkörperschaden zu beweisen. Dazu wird auf einen Sachverhalt zurückgegriffen, der sich mit den Ursachen eines Bandscheibenschadens befasst. (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2010 L 10 U 384/10) Am 03.07.2005 platzte einem 54-jährigen Testfahrer auf einer Teststrecke bei einer Geschwindigkeit von 295 km/h ein Hinterreifen. Der Testfahrer kam von der Fahrbahn ab, durchbrach mit seinem Pkw die Schutzplanke und kam in einem Wäldchen zum Stehen. Der Testfahrer war zum Unfallzeitpunkt angegurtet. Sein Pkw war mit Airbags ausgerüstet, die kollisionsbedingt auslösten (Frontairbags). Am Unfalltag angefertigte Röntgenaufnahmen u. a. der Halswirbelsäule brachten keine Verletzungszeichen zur Darstellung. Drei Tage später stellte sich der Testfahrer bei einem Arzt für Chirurgie vor. Diagnostiziert wurde u. a. eine Halswirbelsäulendistorsion. Am 22.07.2005 klagte der Testfahrer über eine zunehmende Bewegungseinschränkung im Bereich der Halswirbelsäule und am 01.08.2005 über ein Taubheitsgefühl im Bereich der linken Hand. Am 04.08.2005, also einen Monat nach dem Unfall, und am 30.08.2005, also ca. zwei Monate nach dem Unfall, wurden daraufhin kernspintomographische Untersuchungen der Halswirbelsäule durchgeführt. Am 30.08.2005, also ca. zwei Monate nach dem Unfall, wurde ein Bandscheibenvorfall im Segment C6/C7 befundet mit Bedrängung der Nervenwurzel C7 links. Am 12.01.2006 wurden die Bandscheibe C6/ C7 operativ entfernt und eine Bandscheibenprothese implantiert. In diesem Fall, bei dem unfallmechanisch eine Frontalkollision abgelaufen war, steht eine isolierte Halswirbelsäulenverletzung zur Diskussion. Es ging um die Frage, ob als erster Verletzungserfolg ein Bandscheibenschaden im Segment C6/C7 trotz des Fehlens bildtechnisch zur Darstellung kommender Begleitverletzungen im Bereich der Halswirbelsäule vorlag. Dies hatte das Landessozialgericht ohne Einholung eines ärztlichen Gutachtens bejaht. Unter Berücksichtigung der hohen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Unfalls und der daraus abgeleiteten Gefährdung des Fahrers wurde der Unfallzusammenhang des Bandscheibenschadens ohne Einholung eines ärztlichen Gutachtens bejaht. Argumentiert wurde, dass sowohl der örtliche Zusammenhang mit dem gesicherten ersten Verletzungserfolg (Distorsion der Halswirbelsäule) als auch der zeitliche Zusammenhang mit dem Unfall gegeben seien und dass keine andere Ursache für den Gesundheitsschaden zu erkennen sei. Das Ergebnis der kernspintomographischen Untersuchungen, die nach den vorliegenden Informationen kei- 182 MED SACH 109 5/2013

nerlei Begleitverletzungen zeigten, wurde mit der Begründung vernachlässigt, dass das Auflösungsvermögen der Kernspintomographie eingeschränkt sei. Diese letzte Aussage kann auch unter Berücksichtigung der modernen hochauflösenden kernspintomographischen Geräte richtig sein. Vernachlässigt wird jedoch bei dieser Begründung, dass eine unfallbedingte Krafteinwirkung sich durch Ödeme manifestiert, die unabhängig vom Auflösungsvermögen kernspintomographischer Untersuchungen zur Darstellung kommen. Fehlen jegliche Ödeme, lassen sich weder eine unfallbedingte Krafteinwirkung auf das Segment C6/C7 noch ein unfallbedingter Bandscheibenschaden begründen. Ob und wo Ödeme zu sichern waren, darüber ergeben sich aus der Entscheidung leider keine Informationen. Der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22.12. 2010 wurde aufgehoben durch das Bundessozialgericht (Urteil des BSG vom 24.07.2012 B 2 U 9/11 R). Der Rechtstreit wurde an das Landesozialgericht zurückverwiesen. Ein bloßer örtlicher und zeitlicher Zusammenhang reicht zur Begründung der Kausalität nicht aus. Erforderlich ist, dass der Kausalzusammenhang nach dem jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand gegeben ist, der in aller Regel durch ein ärztliches Gutachten zu ermitteln ist. Ein bloßes Literaturstudium reicht dazu nicht. Der Beweis des ersten Verletzungserfolgs ist also nicht zu erbringen durch ein Attest und/oder eine Zeugenaussage der Therapeuten. Er ist auch nicht durch unspezifische Beschwerden oder auf Grund eines Literaturstudiums durch Juristen zu erbringen. Erforderlich ist ein ärztliches Gutachten, das sowohl auf die Verletzungsspezifität der objektiven, kernspintomographisch (Ödeme als Zeichen einer Krafteinwirkung) zu sichernden Befunde als auch auf die Kontinuität der Beschwerden abstellt. Das beschwerdefreie Intervall sie an, nicht verletzt worden zu sein. Sie verließ selbst steuernd im Pkw die Unfallstelle. Sie suchte am gleichen Tag um 8.54 Uhr den Durchgangsarzt auf und gab an, nach einer dreiviertel Stunde habe sie lokale Nackenbeschwerden bekommen. Eine durchgeführte kernspintomographische Untersuchung ergab mit Ausnahme degenerativer Veränderungen keinerlei Anhaltspunkte für eine unfallbedingte Krafteinwirkung auf die Halswirbelsäule. Es entwickelte sich ein anhaltendes Beschwerdebild mit Nervenversorgungsstörungen. Das LSG Bayern argumentierte, dass die Klägerin allenfalls eine leichte Zerrung der Halswirbelsäule erlitten haben könne, da sie in unmittelbarem Anschluss an den Unfall zunächst beschwerdefrei gewesen sei. (LSG Berlin und Brandenburg vom 20.09.2012 L 3 U 629/08): Am 17.10.2003 um 15.15 Uhr fuhr auf das Heck des vom 43 Jahre alten Kläger gesteuerten Pkw im Stop-and-go-Verkehr ein anderer Pkw auf. Der Pkw des Klägers war ordnungsgemäß mit Kopfstützen ausgestattet. Der Kläger war zum Unfallzeitpunkt angegurtet. Der Unfall wurde polizeilich aufgenommen. Der Kläger gab an der Unfallstelle keine Beschwerden/Verletzungen an. Am Folgetag stellte sich der Kläger bei einem Orthopäden wegen in der Nacht zugenommen habender Beschwerden vor, bei dem er wegen Schulterbeschwerden beiderseits zuvor in Behandlung gestanden hatte. Der Kläger gab eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung im Bereich der Halswirbelsäule, leichte Kopfschmerzen, leichte Gefühlsstörungen im Bereich der rechten Hand und Bauchbeschwerden im Bereich des Gurtverlaufs an. Nach vier Tagen wurden kernspintomographische Aufnahmen angefertigt, die degenerative Veränderungen, jedoch keine Verletzungszeichen, zur Darstellung brachten. Die degenerativen Veränderungen waren gegenüber einer unfallfremd am 22.05.2003 angefertigten computertomographischen Untersuchung unverändert. Die Klage richtete sich auf Feststellung folgender Unfallfolgen: Inkomplettes Horner- Syndrom links, leichte defekt geheilte C8- Schädigung links sowie chronisches Zervikal-Syndrom mit Ausstrahlung in den linken Arm. Der Unfallzusammenhang wurde abgelehnt unter Hinweis auf das beschwerdefreie Intervall, dem Fehlen jeglicher klinisch objektivierbarer Verletzungszeichen, dem Fehlen bildtechnisch zur Darstellung kommender Verletzungszeichen und einem für das angenommene Schadensbild (eine Plexus-brachialis-Läsion) ungeeigneten Verletzungsmechanismus. Ein Indiz für eine stattgehabte Verletzung ist der verletzungskonforme Verlauf. Eine Verletzung führt in aller Regel zu sofortigen Beschwerden, insbesondere wenn es unfallbedingt zu einer knöchernen Verletzung und/oder einer Verletzung des Armnervengeflechts (Plexus brachialis) bzw. Nervenversorgungsstörungen gekommen sein soll. Nach etwa 30 % nach der von Richter [9] durchgeführten Erhebung nach ca. 50 % der Heckkollisionen werden Beschwerden wie im vorliegenden Fall aber erst nach Stunden bzw. Tagen geklagt (Tab. 1 und 2). Das beschwerdefreie bzw. beschwerdearme Intervall ist ein Begleitsymptom des sog. Schleudertraumas der Halswirbelsäule. Man versteht darunter das Phänomen, dass nach in der Regel fremd verschuldeten Verkehrsunfällen das Unfallopfer am Unfallort bei anscheinend voller Gesundheit ist, dann aber zu irgendeinem Zeitpunkt nach Verlassen der Unfallstelle angeblich erkrankt. An der Unfallstelle werden Herr der Lage eine Vielzahl von Aktivitäten entfaltet. Sie wird entweder selbst steuernd im eigenen Pkw oder mit dem Abschleppwagen verlassen. Ein Mietwagen wird geordert. Der Reparaturauftrag wird erteilt. Es wird also alles unternommen, um den Schaden am Pkw zu kompensieren. Ist dies geschafft, wird zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem Unfall ein Arzt aufgesucht, und es schließen sich eine tage- bis jahrelange Behandlung und Arbeitsunfähigkeit an. Gerade unter dem (Urteil des LSG Bayern vom 05.09.2000 L 2 U 158/00): Die Klägerin wurde am 26.10.1995 um 7.45 Uhr von einem anderen Wagen auf der rechten Seite gerammt. An der Unfallstelle gab Beginn Sofort Unter 6 Std. 6 12 Std. 12 24 Std. über 24 Std. Gesamt: 138 69 36 13 9 11 Tabelle 1: Beginn der Beschwerden [9] MED SACH 109 5/2013 183

Symptome (n = 106) Kollektiv derjenigen, die im weiteren Verlauf über unfallmechanisch und diagnostisch nicht zu erklärende therapieresistente Beschwerden klagen, findet sich in auffälliger Häufung das Phänomen des beschwerdefreien Intervalls. Bei Durchsicht der einschlägigen Literatur ist es nicht gelungen, den Ursprung dieses Phänomens zu finden. Ruft man sich aber in Erinnerung, dass das sog. Schleudertrauma seine Wurzeln in der Ohnmacht des Menschen gegenüber den Schrecken der Technik, beginnend mit der ersten Eisenbahnfahrt (railway-spine), hat, so bieten sich zwei Erklärungen an: Eine strukturelle mit muskulären Verspannungen, und eine Beschwerdefreies Intervall (n = 43) Kopfschmerzen 69,77 % 49,21 % Nackenschmerzen 46,51 % 60,32 % Benommenheit 20,93 % 49,21 % Übelkeit 34,88 % 39,68 % Bewusstlosigkeit 49,21 % Schwindel 18,60 % 34,92 % Nackensteifigkeit 11,63 % 19,05 % Sehstörungen 6,80 % 20,63 % Wahrnehmungsstörungen 25,40 % Rückenschmerzen 11,63 % 14,29 % Halsschmerzen 13,95 % 11,11 % Schulterschmerzen 9,30 % 12,70 % Taumeligkeit 17,46 % Tinnitus 6,98 % 7,94 % Schluckstörungen 4,65 % 7,94 % Augenschmerzen 6,98 % 4,76 % Kieferbewegungsstörungen 6,98 % 4,76 % Lendenwirbelsäulenschmerzen 4,65 % 6,35 % Angst 4,65 % 4,76 % Hörstörungen 2,33 % 6,35 % Konzentrationsstörungen 7,94 % Sprachstörungen 2,33 % 6,35 % Gesichtsschmerzen 4,65 % 1,59 % Blasenstörungen 3,17 % Geräuschüberempfindlichkeit 3,17 % Aggressivität 2,33 % Lichtempfindlichkeit 1,59 % Ohrenschmerzen 1,59 % Tabelle 2: Subjektive Beschwerden und beschwerdefreies Intervall (abgewandelt nach Claussen et al. [2]) Sofortbeschwerden (n = 63) nicht-strukturelle, psychisch bedingte. Beide Erklärungsversuche sind mit einem beschwerdefreien Intervall vereinbar. Mangels eines morphologischen Substrats, eines ersten objektivierbaren Verletzungserfolgs also, sind sie aber nicht geeignet, den Unfallzusammenhang herzustellen. Nicht plausibel erklärt ist zudem weder die in vielen Fällen zu beobachtende stetige Ausweitung des Beschwerdebildes, noch die Therapieresistenz. Denn die muskulären Verspannungen und die durchlebte Angst werden in aller Regel durch die Alltagsaktivitäten gelöst. Ist dies nicht der Fall, sind die Ursachen außerhalb der strukturellen, unfallbedingten Einwirkung zu suchen. Als strukturelle Erklärung für anhaltende Beschwerden wurden Einblutungen diskutiert. Ebenso wie ein sich entwickelnder Bluterguss im Bereich des Kniegelenkes ein zunächst beschwerdearmes Intervall mit zunehmenden Beschwerden/Funktionseinbußen erklären kann, kann das gleiche Schadensbild im Bereich der Halswirbelsäule auftreten. Das Ergebnis kernspintomographischer Untersuchungen, zu denen zwischenzeitlich eine umfangreiche Erfahrung besteht, schließen diese Erklärung jedoch aus. Einblutungen z. B. in die Wirbelgelenke oder die Halsweichteile wurden bisher in keinem Fall gesichert und können auch aufgrund eigener Erfahrungen bei inzwischen weit über 20.000 Fällen nicht bestätigt werden. Kernspintomographisch konnten jegliche Hinweise auf eine stattgehabte Krafteinwirkung (Ödeme) ausgeschlossen werden. Alle anderen Hypothesen für anhaltend geklagte Beschwerdebilder im Bereich der Halswirbelsäule sind mit einem beschwerdefreien Intervall nicht vereinbar. Wenn also Verletzungen der Flügelbänder oder eine Hirnstammbeteiligung oder Verletzungen der Gefäßbinnenhaut oder Erschütterungen des Halsmarks oder eine Irritation nervaler Strukturen oder Dysfunktionen der Kopfgelenke anhaltend geklagte Beschwerden erklären sollen, passt völlig unabhängig von der Wertigkeit dieser Hypothesen ein beschwerdefreies Intervall nicht. Denn diese Verletzungen führen zu sofortigen Beschwerden/Funktionseinbußen. Im Rahmen der Begutachtung ist das beschwerdefreie Intervall ein Mosaikstein vielleicht besser ein Stolperstein auf dem Weg zur Sicherung des unfallbedingten ersten Verletzungserfolgs. Ein beschwerdefreies Intervall spricht deutlich gegen eine stattgehabte Verletzung der Halswirbelsäule. Bedeutung der herrschenden Meinung (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.05.2010 L 31 U 336/08): Am 13.12.1996 stand der 1949 geborene, angegurtete Kläger mit seinem Pkw vor einer Lichtzeichenanlage, als ein anderer Pkw, den der Kläger über den Innenspiegel kommen sah, auf das Heck des vom Kläger gesteuerten Pkw auffuhr, wodurch es zu einer kolli- 184 MED SACH 109 5/2013

sionsbedingten Geschwindigkeitsänderung je nach der Konstruktion des im Heck aufgefahrenen Pkw von 11 bis 22 km/h bzw. 16 bis 28 km/h kam. Die vom sofort konsultierten Durchgangsarzt durchgeführte Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule wurde befundet mit einem Abbruch des Dornfortsatzes des 6. Halswirbels, wobei das darf aus unfallchirurgischer Sicht angemerkt werden diese Diagnose unter Berücksichtigung anatomischer Überlegungen nicht überzeugt. Es dürfte sich auch unter Berücksichtigung des im gleichen Urteil zitierten unauffälligen kernspintomographischen Befundes vom 21.05.1997, um eine Fehldiagnose gehandelt haben, was jedoch keiner weiteren Erörterung bedarf. Denn unstrittig ist diese angebliche Verletzung folgenlos zur Ausheilung gekommen. Diagnostiziert wurden ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule und eine Dornfortsatzfraktur HWK 6. Kernspintomographisch kamen am 21.05.1997 im Bereich der Halswirbelsäule keine Verletzungszeichen zur Darstellung. Zur Darstellung kamen degenerative Veränderungen, jedoch kein größerer raumfordernder zervikaler Bandscheibenvorfall. Im weiteren Verlauf kam es zu einem wiederholten Arztwechsel. Geklagt und durch Berichte und Atteste bestätigt wurden Kopfschmerzen, Schwindel, Sehstörungen im Rahmen eines zervikoenzephalen Syndroms mit Sensibilitätsstörungen. Durchgeführt wurde von Dr. med. V., einem Radiologen/Neuroradiologen, eine weitere kernspintomographische Untersuchung im Januar 1998. Dr.V. befundete diese Untersuchung selbst und diagnostizierte dabei eine Verletzung der Ligamenta alaria (Flügelbänder), die nach dem Vortrag des Klägers darauf zurückzuführen sei, dass sein Kopf nicht durch die Kopfstütze abgefedert worden sei, sondern an dieser vorbei nach hinten stark überdehnt worden sei. Auf diese fachradiologische Diagnose bauten sich dann weitere Diagnosen wie Kompressionssyndrom der rechten A. vertebralis, Hirnstammschädigung und myofasziales Schmerzsyndrom auf. In diesem Rechtstreit, der von Seiten des Klägers unter Aufbietung eines kleinen, sich über die gesamte BRD erstreckenden, sehr aktiven Gutachternetzwerks geführt wurde, das unter Leitung des Radiologen/Neuroradiologen Volle [14, 15, 16] eine Verletzung der Ligamenta alaria als Ursache von Beschwerden vertrat, wurde eine sehr sorgfältige Abklärung durchgeführt durch Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens, eines fachradiologischen Gutachtens, eines orthopädisch-unfallchirurgischen Gutachtens, eines neurochirurgischen Gutachtens und eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens. Das Landessozialgericht begründete die weitgehende Abweisung der Klage damit, dass es nicht Aufgabe der Gerichte ist, durch die Auswahl von Sachverständigen oder die juristische Bewertung von medizinischen Lehrmeinungen für die eine oder andere Position Partei zu ergreifen oder durch Gutachtenaufträge den Fortschritt medizinischer Erkenntnis voranzutreiben. Ausreichend ist, ob ein wissenschaftlicher (Teil)Konsens festgestellt werden kann, der eine Entscheidung zu tragen geeignet ist, mögen auch einzelne anerkannte Wissenschaftler eine andere Lehrmeinung vertreten. Maßgebend für die Entscheidung des mit großem Engagement geführten Rechtsstreits war also der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand, die herrschende Meinung, weil sie der Gleichbehandlung aller Betroffenen dient. In der Sache selbst ist die Diagnose einer Verletzung der Ligamenta alaria eine Außenseiterdiagnose, die zwischenzeitlich eindeutig widerlegt wurde [13]. Schutzzweckzusammenhang (BGH, Urteil vom 10.07.2012 VI ZR 127/11): Der vom Kläger gefahrene Pkw, der verkehrsbedingt anhalten musste, wurde am 14.12.1993 im Heck angefahren. Diagnostiziert wurden eine Wirbelsäulenprellung mit Distorsion der Halswirbelsäule, die dem Grad I nach Erdmann entspreche, sowie Prellungen des Thorax und des Brustbeins. Der Kläger behauptet, er leide seit dem Unfall unfallbedingt fortwährend unter Schmerzen und könne deshalb keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen. Der unfallbedingte Erstschaden stand nicht zur Diskussion. Streitig war die Haftung für Folgeschäden (Dauerschmerz und Erwerbsunfähigkeit). Der BGH führt aus, dass der Schutzzweckzusammenhang für den haftungsausfüllenden Tatbestand, nämlich die anhaltend geklagten Beschwerden und die fehlende Erwerbstätigkeit des Klägers, nicht gegeben sei. Die Kausalität verlange die Äquivalenz (conditio sine qua non) und die Adäquanz (Bedingung, die nicht nur unter besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen ursächlich ist) des Unfalls für den Erstschaden und dessen Folgen sowie als drittes Kriterium den Schutzzweckzusammenhang. Das Beschwerdebild des Klägers beruhe ab dem Jahr 1995 wesentlich auf einer Begehrenshaltung. Es sei nicht gerechtfertigt, den Schädiger haften zu lassen, wenn bei der Entstehung der Schadensfolgen die Existenz des Schadenersatzanspruchs als solcher eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es fehle der innere Zusammenhang mit der vom Schädiger geschaffenen Gefahrenlage. In solchen Fällen realisiert sich das allgemeine Lebensrisiko und nicht mehr das vom Schädiger zu tragende Risiko der Folgen einer Körperverletzung. Eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD 43.1) wurde verneint, weil die Schwere der Unfallverletzungen und deren Erleben durch den Kläger die diagnostischen Voraussetzungen nicht erfülle. Die Begehrensneurose sei u. a. durch das Auseinanderklaffen von subjektiver Beschwerdebeschreibung und körperlicher Beeinträchtigung gesichert worden. Entscheidend ist mithin, dass im Rahmen des sog. Schleudertraumas auf den Schutzzweckzusammenhang des 823 BGB abgestellt wird, der dann nicht gegeben ist, wenn eine Begehrensneurose den Verlauf bestimmt. Ganz ähnlich ist die Argumentation des BSG zur gesetzlichen Unfallversicherung (BSG, Urteil vom 09.05.2006 B 2 U 1/05 R): Daher schließt eine abnorme seelische Bereitschaft die Annahme einer psychischen Reaktion als Unfallfolge nicht aus.... Anderseits liegt es auf der Hand, dass wunschbedingte Vorstellungen seitens des Versicherten nach einem Unfall, z. B. allgemein nach einem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ( Unfall als Regressionsangebot ) oder konkret auf eine Verletztenrente, einen wesentli- MED SACH 109 5/2013 185

chen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und nun bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen nicht zu begründen vermögen. Sowohl für das Zivilrecht als auch für das Sozialrecht (z. B. BSG, Urteil vom 13.11.2012 B 2 U 19/11 R) gilt der Grundsatz: Für Schäden außerhalb des Schutzzwecks der Norm muss weder der Schädiger noch der Unfallversicherer eintreten. Blick über die Grenze: Schweiz Auch das höchste Gericht der Schweiz, das 1991 durch das Salanitri -Urteil zunächst Ansprüchen nach einem sog. Schleudertrauma Tür und Tor geöffnet hatte, hat diese im Jahr 2010 deutlich begrenzt. Das Nachbarland Schweiz weist nach den Angaben der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) im Jahr 2011 bei 1.922.000 Versicherten ca. 11.000 Betroffene mit der Diagnose einer Verletzung im Bereich der Halswirbelsäule auf. Das ist im Vergleich zu anderen Staaten Europas eher ein Mittelmaß. Mit den dadurch anfallenden Kosten von im Schnitt 35.000 pro Fall hält die Schweiz jedoch eine Spitzenposition in Europa. Ursächlich für die hohen Kosten waren Entscheidungen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts Luzern, wie das Salanitri -Urteil vom 04.02.1991 (BGE 117 V 359), in dem losgelöst von allen naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten auf das sog. typische subjektive Beschwerdebild abgestellt wurde und dieses als unfallbedingt unterstellt wurde. Dieser Fall wurde zum Leitfaden für das Helvetische Schleudertrauma [5], obwohl weder der Unfallmechanismus noch der erste Verletzungserfolg einem sog. Schleudertrauma entsprachen. Zugrunde lag der Unfall eines jungen Motorradfahrers, der bei einem Sturz gegen eine Böschung eine leichte Hirnerschütterung erlitten hatte ( mild traumatic brain injury ), der im weiteren Verlauf, ohne dass ein morphologisches Substrat zu sichern gewesen wäre, über fortbestehende Beschwerden klagte. Im Jahr 2010 wurde durch die sozialrechtlichen Abteilungen (I. und II.) des Schweizerischen Bundesgerichts (BG) jedoch eine Kehrtwende vollführt. Zugrunde lag der Fall einer Reinigungsangestellten, die Leistungen der Invalidenversicherung beantragte. Sie gab nach zwei Heckkollisionen eine chronifizierte Schmerzproblematik an. Durch die Entscheidung vom 30.08.2010 (BGE 9 C 510/2009) wurde der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Begründung, dass die Rechtsprechung zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (BGE 130 V 352 (I 683/03) vom 12. März 2004) sinngemäß anwendbar sei, wenn sich die Frage nach der invalidisierenden Wirkung einer spezifischen und unfalladäquaten HWS-Verletzung (Schleudertrauma) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle stellt. Das für diese Rechtsprechung maßgebliche Urteil vom 12.03.2004 (BGE 130 V 352) hat folgenden Tenor: Eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung allein vermag in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähig - keit bewirken. Ausgangspunkt ist im Ergebnis ähnlich dem BGH (BGH vom 10. 07. 2012 VI ZR 127/11) und dem BSG (BSG vom 09.05.2006 B 2 U 1/05 R) die Zumutbarkeit der willentlichen Schmerzüberwindung, die in der Regel unterstellt wird. Damit wurde zwar nicht von der Unfallursächlichkeit des typischen Beschwerdebildes abgewichen. Es wurde aber ein anderer Weg gefunden, um der Diagnose des sog. Schleudertraumas den sozial massiv belastenden finanziellen Hintergrund zum Teil zu nehmen. Begutachtung Zuständigkeit und Fragen an den Gutachter Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus der aktuellen Rechtsprechung zum sog. Schleudertrauma ziehen? Es gibt kein gesetzmäßiges Für und Wider beim Unfallzusammenhang geklagter Beschwerden. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Indizien, die einen Unfallzusammenhang sichern oder ausschließen. Diese Indizien sind zu sammeln in Form eines unfallanalytischen/biomechanischen und ärztlichen Gutachtens mit folgender Aufgabenteilung: Die Sicherung des Unfallmechanismus gehört zur Unfallanalytik. Die Sicherung der durch den Unfallmechanismus auf den Fahrzeuginsassen wirkenden Kräfte gehört zur Biomechanik. Die Sicherung des unfallbedingten ersten Verletzungserfolgs ist Aufgabe der Unfallchirurgie/Orthopädie. Im Bereich der Biomechanik kommt es zu Überschneidungen und Mehrfachzuständigkeiten. Die Grenzlinie zwischen Unfallanalytik und Unfallchirurgie (der in der Regel involvierten Fachrichtungen) verläuft wie folgt: Der Unfallanalytiker/Biomechaniker ist für die Bewegungen des Fahrzeugs und der auf die Fahrzeuginsassen wirkenden Kräfte zuständig [8], der Unfallchirurg für die dadurch bedingten Bewegungsabläufe und Verletzungsrisiken bzw. die unfallbedingte Gefährdung und die dadurch verursachte Verletzung im Einzelfall. Die Unfallrekonstruktion ist also eine Gemeinschaftsaufgabe von Unfallanalytik/Biomechanik und Unfallchirurgie/ Orthopädie. Das gemeinsame Ziel, die Unfallrekonstruktion, hat dazu geführt, dass so genannte Interdisziplinäre Gutachten in Auftrag gegeben werden bzw. erstellt werden, v. a. im Rechtsstreit. Beauftragt werden ein Unfallchirurg/Orthopäde und ein Unfallanalytiker (Kfz-Sachverständiger) gemeinsam. Das ist von der Idee her richtig, in der Praxis aber falsch. Denn wer die Unterschrift unter ein Gutachten setzt, übernimmt dafür die volle Verantwortung. Ein Kfz-Sachverständiger kann für die ärztlichen Ausführungen jedoch nicht die Verantwortung übernehmen, wie umgekehrt der Unfallchirurg/Orthopäde nicht die Verantwortung für den unfallanalytischen Teil übernehmen kann. Der richtige Weg besteht darin, dass ein unfallchirurgisch / orthopädisches Hauptgutachten und ein unfallanalytisches Zusatzgutachten in Auftrag gegeben wird, ebenso wie z. B. ein fachradiologisches Zusatzgutachten neben einem unfallchirurgisch-orthopädischen Hauptgutachten veranlasst wird. Dem Stellenwert/Sachverstand des unfallanalytischen Gutachtens bzw. des 186 MED SACH 109 5/2013

Unfallanalytikers entsprechen folgende Fragen an diesen: 1. Hat es sich um eine Heck-, Frontal-, Seit- oder Streifkollision gehandelt? 2. Wo/wie war die Sitzposition des Betroffenen? 3. Wurde das Fahrzeug kollisionsbedingt wuchtig beschleunigt bzw. verzögert bzw. in der Fahrtrichtung abgelenkt (versetzt)? Wie hoch (Kollisionsdifferenzgeschwindigkeit) war die kollisionsbedingte Beschleunigung/Verzögerung/Ablenkung? 4. Welche Sicherheitssysteme waren vorhanden und traten in Funktion (Airbag, Kopfstützen, Sicherheitsgurt, Gurtstraffer, Gurtkraftbegrenzer)? 5. Welche weiteren unfallanalytischen Erkenntnisse lassen Rückschlüsse auf die Gefährdung der Kfz-Insassen zu? 6. Kann ein Lebenssachverhalt benannt werden, der der auf den Kfz-Insassen einwirkenden Kraft vergleichbar ist (leichtere Vermittelbarkeit des Gutachtens)? Der Stellenwert/Sachverstand, die Zuständigkeit des ärztlichen Gutachters, richtet sich nach folgenden Gesichtspunkten: Zuständig ist insbesondere für die Sicherung des ersten Verletzungserfolgs, das heißt des unfallbedingten Erstkörperbzw. Erstgesundheitsschadens zunächst der Unfallchirurg. Diesem sind z. B. folgende Fragen zu stellen: 1. Lag zum Zeitpunkt des ersten Arztbesuchs ein verletzungsspezifisches klinisches Schadensbild vor (z. B. Begleitverletzungen)? 2. Welche klinischen Befunde sind zum Zeitpunkt der Begutachtung zu sichern? Sind diese verletzungsspezifisch, lassen diese also auf eine Verletzung als Ursache rückschließen? 3. Lag bzw. liegt ein verletzungsspezifisches bildtechnisches Schadensbild vor? 4. War das unfallnahe Verhalten des Betroffenen verletzungskonform (sofortige Beschwerden)? 5. War der Verlauf verletzungskonform (z. B. Fehlen von Vorerkrankungen/- veränderungen/-verletzungen, Verlauf des zur Diskussion stehenden Beschwerde- und Schadensbildes)? 6. Lässt sich auf der Grundlage des unfallanalytischen Gutachtens eine signifikante bio-/unfallmechanische Gefährdung (unphysiologische Belastung) der Halswirbelsäule des Betroffenen begründen? Sind objektive Verletzungszeichen gesichert, kann auf die Prüfungsschritte (4. bis 6.) verzichtet werden. Der Vollbeweis des unfallbedingten ersten Verletzungserfolgs ist geführt. Fehlen jedoch objektive Verletzungszeichen in zeitlicher Verbindung mit dem Unfall, fragt sich, ob trotz deren Fehlens aufgrund anderer Indizien Mosaiksteine der erste Verletzungserfolg bzw. Erstgesundheitsschaden als Vollbeweis bejaht werden kann. Wurde eine kernspintomographische Untersuchung durchgeführt, obliegt dem Radiologen/Neuroradiologen die Nachbefundung der Aufnahmen. Der Unfallchirurg ist ebenso wie der Orthopäde zur Befundung kernspintomographischer und/ oder computertomographischer Aufnahmen nicht vorrangig sachverständig. Zwar wird gerade in diesem Punkt die Grenze des eigenen Fachgebiets verlassen, indem ohne fachradiologische Kompetenz kernspintomographische und computertomographische Aufnahmen befundet werden. Diese Aussagen sind aber nicht vom Sachverstand des Nicht-Radiologen gedeckt. Die Befundung derartiger Aufnahmen gehört zum Kern des Fachgebiets Radiologie/Neuroradiologie. Bei der Auswahl des Radiologen/Neuroradiologen ist darauf zu achten, dass ein in Kausalitätsfragen erfahrener Radiologe zum Gutachter bestimmt wird. Denn der Schwerpunkt des Fachgebiets Radiologie ist die Therapie, und Kausalitätsfragen spielen für dieses Fachgebiet kaum je eine Rolle. Folgende Fragen sind dem Radiologen/Neuroradiologen zu stellen: 1. Welche Befunde kommen bildtechnisch zur Darstellung, wobei um eine segmentbezogene Befundung gebeten wird? 2. Handelt es sich um verletzungsspezifische Befunde? 3. Kommen Ödeme zur Darstellung, wobei erneut um eine segmentbezogene Befundung gebeten wird? Wie sind diese ausgeprägt? Weisen diese auf eine stattgehabte Krafteinwirkung hin? 4. Kommen Zeichen eines Ergusses bzw. Zeichen einer Einblutung zur Darstellung, wenn ja, wo? Stehen Nervenversorgungsstörungen, Sehstörungen oder Ohrgeräusche (Tinnitus) zur Diskussion, sind die dafür zuständigen Fachgebiete für die Begutachtung sachverständig. Steht ein psychiatrisches Krankheitsbild oder eine psychiatrische Entgleisung des Heilverlaufs zur Diskussion, ist ein Psychiater als Gutachter zu beauftragen. Allen diesen Fachgebieten sind jedoch die Erkenntnisse auf den Gebieten Unfallanalytik, Unfallchirurgie und Radiologie bindend vorzugeben. Damit die oben stehenden Fragen möglichst richtig und vollständig beantwortet werden können, sind folgende Informationen/Unterlagen erforderlich. Zur Erstellung des unfallanalytischen Gutachtens sind wenn vorhanden vorzulegen: 1. Die polizeiliche Verkehrsunfallanzeige bzw. falls nicht vorhanden, die polizeiliche Unfallmitteilung (wird erstellt, wenn am Unfallort keine Beschwerden/erlittene Verletzungen angegeben/festgestellt werden), 2. eine Fotodokumentation von der Unfallstelle und der unfallbedingten Stellung der Kraftfahrzeuge, 3. die polizeilichen Ermittlungsakten zum Unfallablauf, 4. eine Fotodokumentation der Schäden an den unfallbeteiligten Kraftfahrzeugen, 5. Reparaturkalkulationen und/oder Reparaturrechnungen, 6. Angaben über evtl. Vorschäden an den Kraftfahrzeugen, 7. Fotos vom Innenraum des Unfallfahrzeuges (Airbag, Position der Gurte bei Aktivierung der Gurtstraffer, Deformation der Sitzlehne oder des Lenkrads, Vorhandensein und Einstellung der Kopfstütze etc.), 8. Fahrzeugbrief (Leergewicht der Kraftfahrzeuge etc.), 9. Angaben zur Anzahl der Fahrzeuginsassen, 10. Angaben zur Sitzposition der Betroffenen. Zur Erstellung des unfallchirurgischen Gutachtens sind folgende Informationen/Fragen vorzugeben/zu beantworten: 1. Wie hat sich der Verletzte an der Unfallstelle verhalten? MED SACH 109 5/2013 187

2. Wie und wohin hat der Verletzte die Unfallstelle verlassen? 3. Wann (Datum/Uhrzeit) war der Zeitpunkt des ersten Arztbesuchs? 4. Wie hat sich der Verletzte bis zum ersten Arztbesuch verhalten (hat der Verletzte z. B. weitergearbeitet)? 5. Wann traten die ersten Beschwerden auf? Literatur 1 Bourbeau R, Desjardins D, Maag U, Laberge-Nadeau C: Neck: Injury among belted und unbelted occupants of the front seat of cars. J. Trauma 35 (1993), 5: 794 799 2 Claussen C, Dehler R, Montazem A, Volle E: Das HWS-Schleudertrauma moderne medizinische Erkenntnisse, Bremen, Uni- MED Verlag, 1999 3 Gauss W: Unfallrekonstruktion und biomechanische Begutachtung bei HWS-Verletzungen durch Heckaufprall. In: Hrsg: Graf M, Grill C, Wedig H-D: Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule HWS-Schleudertrauma Darmstadt, Steinkopff, 2009 4 Jaeger L: Entwicklung der Rechtsprechung zum HWS-Schleudertrauma. In: Graf M, Grill, C, Wedig H-D (Hrsg.): Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule HWS-Schleudertrauma. Darmstadt, Steinkopff, 2009 5 Jenzer G: 15 Jahre Helvetisches Schleudertrauma, Schweizerische Ärztezeitung (2006), 87: 1230 1233 6 Lemcke H: HWS- Schleudertrauma - Bedeutung für zivilrechtliche Versicherungsansprüche. MedSach (2011), 107 (2): 64 69 7 Meyer S, Weber M, Schilgen C, Peuker K, Wörtler W H, Castro M.: Unfall- und Verletzungsmechanismus aus technischer und medizinischer Sicht. Das Schleudertrauma der Halswirbelsäule, Hrsg.: Castro W H M, Kügelgen B, Ludolph E, Schröter F.: Stuttgart: Enke Verlag, 1998 8 Nover W, Battiato L: Das unfallanalytische Gutachten. In: Kursbuch der ärztlichen Begutachtung, Landsberg: ecomed ME- DIZIN,1999 9 Richter M: Beschwerden nach Beschleunigung der HWS bei gurtgeschützten Pkw-Insassen. In: Graf M, Grill C, Wedig H-D (Hrsg.): Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule HWS-Schleudertrauma. Darmstadt: Steinkopff, 2009 10 Ricke W: Lehrheft: Versicherungsfall Arbeitsunfall. HVBG (2000): 161 11 Schröter F: Begutachtung leichter Traumen der Halswirbelsäule Historisches und Aktuelles zum Befinden und Befund; MedSach (2010),106 (6): 231 239 12 Schröter F: HWS- Schleudertrauma faktenorientierte rationale Begutachtung; MedSach (2011), 107(2), 69 75 13 Thomann KD, Schomerus C, Sebestény T, Rauschmann M: Distorsion der Halswirbelsäule und isolierte Verletzung der Ligamenta alaria aus gutachtlicher Sicht; MedSach (2012), 108 (2), 46 54 14 Volle E, Montazem A: Strukturdefekte der Ligamenta alaria in der offenen Funktionskernspintomographie. Manuelle Medizin (1997), 35: 188 193 15 Volle E: Vortrag auf dem Weltkongress in Vancouver, Canada, zu dem Thema Wiplash associatet disorders, WAD vom 07.02.1999 bis 11.02.1999 16 Volle E: Die Verletzung des kraniozervikalen Übergangs (KZÜ). In: Graf M, Grill C, Wedig H-D (Hrsg.): Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule HWS-Schleudertrauma. Darmstadt: Steinkopff, 2009 17 Walz F H, MD, Professor for Legal Medicine and forensic Biomechanics, University of Zurich 18 Walz F H, Zollinger U, Renfer A, Wegmann R, Meier M: Unfalluntersuchung Sicherheitsgurten. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, 1977 188 MED SACH 109 5/2013