Analyse und Quantifizierung in chemischen Forschungsprogrammen des 18. Jahrhunderts*

Analyse und Quantifizierung in chemischen Forschungsprogrammen des 18. Jahrhunderts* Christoph Meinel, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, Universität Regensburg, Postfach 101042, 8400 Regensburg Die Chemie, so hat es Immanuel Kant ausgerechnet im Todesjahr Carl Wilhelm Scheeles verkündet, die Chemie sei "nichts mehr als systematische Kunst" und könne "niemals eigentliche Wissenschaft werden", weil sie nicht mathematisierbar, d.h. auch nicht quantifizierbar sei.1 Und hätte der Philosoph das Laboratorium seines Königsberger Kollegen, des Hofapothekers Carl Gottfried Hagen betreten, hätte er dessen Lehrbuch der Apothekerkunst (1778 1782) oder den Grundriß der Experimentalchemie (1786) zu Rate gezogen, wäre sein Urteil nicht anders ausgefallen. In der Tat hatte Kant den neuralgischen Punkt beim Namen genannt. Vor dem wissenschaftlichen Methoden und Exaktheitsideal des 18. Jahrhunderts konnte die Chemie nicht bestehen. An Versuchen, das Fach von einer empirischqualitativen Kunst auf die Höhe einer quantitativexakten Wissenschaft zu heben, hat es nicht gefehlt. Doch erst das ausgehende 18. Jahrhundert entwickelte ein Forschungsprogramm, das in die moderne chemische Wissenschaft führen sollte. Die "Chemische Revolution" wird nun meist mit der konsequenten Verwendung messender und zählender Verfahren in Verbindung gebracht. Dabei spielt die Analytik als Instrument und Regulativ der Forschung die entscheidende Rolle. So sahen es die Zeitgenossen, und die Geschichtsschreibung ist ihnen darin gefolgt. Umso erstaunlicher mutet es an, daß der Prozeß zunehmender Quantifizierung in der historischen Forschung kaum je genauer untersucht wurde. Es ist, als verstünde er sich von selbst ja, man hat gar im Aufbau des Chemiestudiums und in der Abfolge von qualitativer und quantitativer Analyse eine Rekapitulation der Phylogenese des Faches sehen wollen und den Übergang von der qualitativen zur quantitativen Betrachtungsweise damit als historisch notwendigen Entwicklungsschritt dargestellt.2 Doch im Historischen versteht sich nichts von selbst. Was ich zeigen will, ist, daß wir uns die Wandlung der Chemie zu einer exakten, quantifizierenden Wissenschaft nicht so vorstellen sollten, als ginge es dabei bloß um die allmähliche Zunahme messender und zählender Verfahren, den zunehmenden Gebrauch präziser Instrumente, die graduelle Ablösung rein ISSN 09348506 23

qualitativer Bestimmungsgrößen durch quantitative Daten; gerade so, als sei lediglich eine neue Meßlatte an die alten Qualitäten angelegt worden; als habe man längst gewußt, daß Schwefel in der Hitze schmilzt und benutze nun das Thermometer, um den genauen Schmelzpunkt zu ermitteln. Tatsächlich ist das Aufkommen der quantitativen Methode in der Chemie weniger von Kontinuitä ten, als von Brüchen gekennzeichnet. Ging es doch darum, in einem Gebiet, das seit der Antike ganz dem Qualitativen verpflichtet war, Zahlen und Quan titäten einen Platz im Kernbereich der W issenschaft, d.h. in ihrer Theoriebil dung, zu sichern. Dies war etwas grundsätzlich Neues, und allein um diesen Aspekt soll es im folgenden gehen. Dabei haben im Verlauf des 18. Jahrhun derts offensichtlich ganz unterschiedliche Quantifizierungsprogramme mitein ander konkurriert, von denen sich nur die wenigsten in Laboratoriumspraxis umsetzen ließen. Auch hier ist das Bild eher von Verwerfungen denn von Über gängen bestimmt. Doch versuchen wir zunächst, dem Bild Feinstruktur zu geben. Denn im Grunde gab es die Chemie jener Zeit überhaupt nicht. Was uns begegnet, sind Traditionen ganz unterschiedlicher Art, mit je spezifischen Problemstellungen, spezifischen Methoden und spezifischer Praxis. Im wesentlichen sind es drei Richtungen: (1) die Chemie als Hilfswissenschaft der Medizin und der Arznei mittelbereitung verpflichtet; (2) die mineralogischmetallurgische Tradition, auf gewerbliche Anwendung zielend, im Bergbau und Hüttenwesen praktisch bewährt; (3) eine Chemie, die sich als Teil der allgemeinen Naturwissenschaft verstand, auf Ursachenforschung und Gesetzmäßigkeiten aus war und zuneh mend von der Experimentalphysik beeinflußt wurde. W ir werden sehen, daß tatsächlich nur der letztere Strang jene grundsätzlich neue Form quantitativer Analytik hervorbringen konnte. Im medizinischpharmazeutischen Bereich ist der Gebrauch der W aage und exakter Maße durch weit zurückreichende Überlieferung belegt. Das Substrat erlaubt zwei Grundoperationen: Analysis, die Zerlegung und Synthesis, die Zusammenfügung. Arzneimittel wurden aus Einzeldrogen in bestimmten Mischungsverhältnissen bereitet. Aus Naturprodukten isolierte man reine Stoffe und sicherte ihre Identität mit Hilfe qualitativer Merkmale. Reinheitsprüfung und Standardisierung erfolgten in der Regel durch Prüfung nach Augenschein, Geruch, Geschmack und äußeren Eigenschaften. W ichtiger war die Standardi sierung mit Hilfe von Herstellungsanweisungen. Handgriffe und Operationen spielten eine wichtige Rolle. Die Rezeptur war empirisch erprobt und gehorchte pharmakologischen oder galenischen Erfordernissen. Doch vom Stand der chemischen Analytik findet sich in den Pharmakopoen des 18. Jahrhunderts kaum etwas wieder.3 Sie lieferten Vorschriften zur Herstellung von Präparaten, und befolgte man diese, so war die korrekte Zusammensetzung garantiert. Selbstverständlich waren Maß und Gewicht innerhalb gewisser Grenzen einzu halten. Doch quantitative Daten, die Gewichtsmengen und Mischungsverhält nis, Temperatur und Zeitmaß vorgaben, blieben äußeres Bestimmungsmerkmal. ISSN 09348506 24

Ü b e r d e n S to ff se lb st u n d sein e c h e m isc h e B e sch a ffe n h e it b e sag te n sie n ich ts. E in e (w ie a u ch im m e r g e a rte te ) T h e o rie d es A rz n eim ittels ließ sich a u s q u a n ti ta tiv en D a te n n ic h t g e w in n e n. E h e r k am h ie r e in a n d e re r A sp ek t zu m T ra g en : d e r k a u fm än n isc h e. A rzn e i m itte l w e rd e n, w ie a n d e re W a re n au ch, n ach M aß u n d G e w ic h t ta x ie rt. S e it d e r frü h en N e u z e it tritt d ie T a x e m it v e rb in d lich e n A b g a b e p re ise n als w ic h tig stes B u ch d e s A p o th ek e rs z u r P h a rm a k o p o e h in zu. Q u a n tifizie ru n g d ie n t h ie r d e r R e ze p tu r u n d d e r ö k o n o m isc h e n B ew ertu n g. M an k ö n n te d ie s d ie k a u fm ä n n i sc h e o d e r k o m p o sito risch e Q u a n tifiz ie ru n g n en n en. F ü r d ie se w a r k e in b e so n d e rer G ra d an P rä zisio n e rfo rd e rt. M a ß u n d Z ah l trate n in F o rm v o n H a n d lu n g sa n w e isu n g en o d e r w irtsc h aftlic h en D a te n a u f, o h n e A u ssa g e n ü b e r d ie N a tu r sto fflich e r V o rg ä n g e zu m ach en o d e r g a r in d ie T h e o rie d e r S u b sta n z e in z u g e h e n. D ies g ilt in ä h n lich e r W eise fü r d ie m in era lo g isch m e ta llu rg isc h e R ic h tu n g.4 D ie ö k o n o m isc h e T h e o rie d es 1 8. Ja h rh u n d e rts w ies g e rad e d e n B o d e n sc h ätz en d ie S c h lü sse lro lle fü r d ie W irtsc h a ftsk ra ft e in e s L a n d es zu. S o b e saß S c h w ed e n b e reits im 1 7. Ja h rh u n d ert c h e m isc h e L a b o ra to rie n b ei d e n sta a tlich e n B e rgu n d H ü tte n w e rk e n. S ie d ie n te n z u n äc h st d e r A rz n eim ittelv e rso rg u n g, k a m e n d a n n a b er in d ie H a n d v o n M in era log e n u n d C h e m ik e rn u n d e n tw ic k e lte n sich z u fü h ren d e n F o rsc h u n g sstä tte n fü r c h e m isc h e A n a ly tik. Ih re A u fg ab e w a r, d ie A b b a u w ü rd ig k e it v o n E rz e n zu p rü fe n. A u ch h ie r a lso sta n d d e r ö k o n o m isc h e A sp e k t im V o rd erg ru n d u n d n ich t e tw a d ie F ra g e n ach d e n G e setz en d e r K ö rp erw elt u n d d e r in n ere n B eschaffen h eit d e r M a te rie. Z w a r e rfo rd e rte d ie a n a ly tisch e Q u a n tifiz ie ru n g, w ie w ir sie im U n te rsc h ie d z u r k a u fm ä n n isc h e n o d e r k o m p o sito risc h e n n en n en k ö n n te n, e in h ö h e re s M a ß an P rä z isio n u n d m e th o d isc h in stru m e n telle m A u fw an d ; d o ch re ich te es in d e r R eg el v o llk o m m e n a u s, p ro z e n tu a le Z u sa m m e n setz u n g en a n z u g e b en. G leic h z eitig g in g m an d a ran, M in e ra lie n, d ie b ish e r a u ssc h lie ß lic h n ach ä u ß e re n M e rk m a len w ie e tw a d e r K rista llfo rm c h a rak te risie rt w o rd e n w a ren, n u n a u c h n a ch in n e re n M erk m ale n, in sb eso n d e re ih re r c h e m isc h en Z u sa m m e n se t z u n g zu u n tersc h e id en. D o c h au ch in d ie se m F a ll g e sc ha h d ie s n ic h t in th e o reti sc h e r H in sic h t. D ie q u a n tifiz ie re n d e M etho d e b lieb a u f e in A k z id e n s b e sc h rän k t. Z w a r b e d ie n te m an sich q u a n tifizie ren d e r V o rg eh e n s w e ise n im In te r e sse d e r A n w en d u n g, z w ar e n tw ic k elte m an im m e r v e rlä ß lic h e re M e ß u n d B e stim m u n g sv erfah re n, d o ch b lieb d ie Q u an titas e in e H ilfsg rö ß e u n d d ie n te in e rste r L in ie als z u sä tzlich e s O rd n u n g sm itte l in n e rh a lb e in es n a tu rh isto risc h e n K la ssifik a tio n sra sters, d as g ru n d sä tz lich v o n Q u a litä te n b e stim m t w a r. S o b lie b d ie C h e m ie in d e n w ich tig sten B e reic he n ih rer b e ru flich e n u n d a k a d e m isch e n W irk lic h k eit b is zu m E n d e d es 1 8. Jah rh u n d erts e in e r q u a lita tiv a u sg e ric h tete n W isse n sc h a ftsp ra x is v e rp flich te t, d ie w e itg e h e n d, w e n n n ic h t g a r v o ll stän d ig, a u f q u a n titativ e K o n zep te im stre n g e n S in n e, d.h. d ie A n n a h m e e in e s w e se n s o d e r g a r g e se tz m ä ß ig e n Z u sa m m e n h a n g es z w isch e n Q u a lität u n d ISSN 09348506 25

Q u a n titä t, v e r z ic h te n k o n n te, o h n e d e s w e g e n m in d e r e r fo lg r e ic h z u s e in. G e r a d e d ie E in b e ttu n g q u a n tita tiv e r D a te n in e in e n s ta b ile n K o n te x t h e r s te lle n d e n u n d ö k o n o m is c h e n H a n d e ln s e r k lä r t, w e s h a lb d ie s e A r t d e r Q u a n tifiz ie ru n g ü b e r J a h r h u n d e rte B e s ta n d h a tte u n d s ic h a u c h g e g e n ü b e r k o n k u r r ie r e n d e n F o r s c h u n g s p r o g r a m m e n b e h a u p te n k o n n te. Z u r p h a r m a z e u tis c h e n u n d m in e r a lo g is c h e n T r a d itio n tr a t n u n s e it d e r M itte d e s 1 8. J a h r h u n d e r ts e in e n e u e R ic h tu n g, d ie sic h als Chemia physica, a ls T e il d e r a llg e m e in e n N a tu r w is s e n s c h a f t v e r s ta n d. D ie T r a d itio n d e r a lte n P h y s ic a ab e r w a r e in d e u tig n ic h t m a th e m a tis c h. D a n a c h b e r ü h r te n Z a h le n n u r e in e n ä u ß e r e n A s p e k t d e r D in g e ; z u r w irk lic h e n K e n n tn is d e r S to f fe u n d d e r U r s a c h e n ih r e r B e s c h a ff e n h e it tr ü g e n s ie n ic h ts b e i. U n d d o c h w a r e s g e n a u d ie s e r T r a d itio n s s tr a n g, in d e m s ic h q u a n tita tiv e K o n z e p te u n d q u a n tifiz ie re n d e V e rf a h re n d u rc h s e tz e n s o llte n. D a s u m f a n g r e ic h s te u n d g r o ß a r tig s te F o r s c h u n g s p r o g ra m m e in e r v o lls tä n d ig q u a n tif iz ie rb a r e n C h e m ie, d a s d a s 1 8. J a h r h u n d e r t h e rv o r g e b ra c h t h a t, s te h t in d e r T r a d itio n d e s N e w to n ia n is m u s. G e tra g e n v o n d e r I d e e e in e r g e s e tz m ä ß ig e n E in h e it d e r N a tu r h a tte N e w to n v e r m u te t, s ä m tlic h e E r s c h e in u n g e n d e r N a tu r s o llte n s ic h au f A n z ie h u n g s u n d A b s to ß u n g s k rä f te zw is c h e n K ö r p e r n z u r ü c k f u h r e n la s s e n. 5 W a s ih m v o r s c h w e b te, w a r e in e q u a n tifiz ie rb a r e P h y s ik v o n M a s s e n, K r ä fte n u n d B e w e g u n g e n im s u b m ik ro s k o p is c h e n B e r e ic h. A ls G e g e n p a r t z u r H im m e ls m e c h a n ik w ä re d a m it d ie g e s a m te N a tu r a u f m a th e m a tis c h e P r in z ip ie n z u r ü c k g e fü h r t. A ls " N e w to n s c h e r T r a u m " is t d ie s e r g r a n d io s e E n t w u rf in d ie G e s c h ic h te e in g e g a n g e n. I m m e r w ie d e r w u r d e in d e r 2. H ä lfte d e s 1 8. J a h rh u n d e r ts d ie V o r s te llu n g e in e s n e u e n N e w to n be s c h w o r e n, d e r a u f e m p ir is c h e r G ru n d la g e d ie Principia mathematica d e r C h e m ie b e g r ü n d e n, d.h. e in in f in ite s im a le s B e r e c h n u n g s v e r f a h r e n f ü r k u r z re ic h w e itig e G ru n d k r ä f te e n tw ic k e ln k ö n n te. D ie s e I d e e, u n d n ic h t e tw a d ie P h lo g is tik, is t d e r e ig e n tlic h e K e r n d e r C h e m ie d e s 1 8. J a h rh u n d e r ts, u n d s e lb s t d ie C h e m is c h e R e v o lu tio n h a t ih n n ic h t e r s c h ü tte r n k ö n n e n. D e n n n o c h L a v o is ie r w a r ü b e r z e u g t, e s w e r d e sic h e in e s T a g e s d ie P rä z is io n d e r D a te n s o s te ig e rn la s s e n, d a ß d e r M a th e m a tik e r a m S c h r e ib tis c h d ie E ig e n s c h a f te n je d e r b e lie b ig e n c h e m is c h e n V e r b in d u n g w e r d e b e r e c h n e n k ö n n e n, s o w ie e r h e u te sc h o n d ie B e w e g u n g e n d e r H im m e ls k ö rp e r b e r e c h n e t.6 D o c h w ie d ie e r f o r d e rte n D a te n e r m itte ln, w ie e in s o lc h e s P r o g ra m m in F o r s c h u n g s p r a x is u m s e tz e n? A ls E m p ir ik e r s e tz te n d ie C h e m ik e r b e i e in e m s c h e in b a r v e r tra u te n P h ä n o m e n b e r e ic h a n : d e m d e r p h y s ik a lis c h e n A d h ä s io n, d ie a ls M a ß d e r c h e m is c h e n W e c h s e lw ir k u n g g a lt. Z u ih r e r B e s tim m u n g w u r d e ein S c h w im m e r a n ein e m W a a g s c h e n k e l s o a u f g e h ä n g t, d a ß e r d ie O b e rf lä c h e e in e r F lü s s ig k e it b e r ü h r te. A m f re ie n S c h e n k e l d e r W a a g e lie ß s ic h d a s G e w ic h t d e s S c h w im m e r s g e n a u k o m p e n s ie re n. S o k o n n te m a n d ie je n ig e K r a f t e r m itte ln, d ie er fo r d e rlic h w a r, u m d e n S c h w im m e r g e r a d e v o n d e r F lü s s ig k e its o b e r flä c h e z u lö s e n. D ie s e ISSN 09348506 26

w u rd e der A d h ä s io n s k r a f t g l e ic h g e s e t z t, d ie z w is c h e n dem M a te r ia l des S c h w i m m e r s u n d d e m d e r F l ü s s i g k e it w i r k s a m w a r. S o g l a u b t e G u y t o n d e M o r v e a u 1 7 7 7, m i t S c h e ib e n a u s G l a s, T a lg u n d v e r s c h i e d e n e n M e t a l l e n, d i e i n W a s s e r o d e r Q u e c k s i lb e r t a u c h t e n, e i n e d e r c h e m i s c h e n A f f in i tä t p r o p o r t i o n a le A d h ä s io n s b z w. T r e n n k r a f t g e f u n d e n z u h a b e n.7 D i e M e h r z a h l d e r C h e m i k e r v e r s u c h te j e d o c h, a u s d e m V e r l a u f c h e m i s c h e r U m s e t z u n g e n e i n M a ß f ü r d i e A f f i n i t ä t d e r R e a k t a n d e n z u g e w i n n e n. M i t A f f i n i t ä t o d e r C h e m is c h e r V e r w a n d t s c h a f t b e z e i c h n e t e m a n j a d a s R e a k ti o n s b e s t r e b e n v o n S t o f f e n. E s w a r b e k a n n t, d a ß b e s ti m m t e S ä u r e n v o n a n d e r e n S ä u r e n a u s i h r e n S a lz e n f r e i g e s e t z t w e r d e n u n d b e s ti m m t e S a l z e a n d e r e S a lz e a u s i h r e n L ö s u n g e n a u s f ä l l e n. S o l i e ß e n s ic h R e ih e n v o n c h e m i s c h a n a l o g e n S t o f f e a u f s te l le n, d i e d u r c h a n d e r e S t o f fe a u s i h r e n V e r b i n d u n g e n v e r d r ä n g t w e r d e n. D i e E r g e b n i s s e k o n n t e m a n t a b e l l a r i s c h e r f a s s e n. T y p b i l d e n d w a r e n d i e A f f in i tä t s t a f e ln, d i e E t i e n n e F r a n g o is G e o f f r o y 1 7 1 8 v o r g e le g t h a t t e. D e n H ö h e p u n k t e r r e i c h t e n d i e s e B e m ü h u n g e n 1 7 7 5 m it T o r b e r n B e r g m a n s Disquisitio de attractionibus electivis. M i t i m m e n s e m e x p e r i m e n t e ll e n A u f w a n d s i n d h i e r S ä u r e n, S a l z e u n d A l k a li e n n a c h ih r e m R e a k t i o n s v e r h a l t e n g r u p p i e r t. G r u n d p r i n z i p w a r d i e t o p o lo g i s c h e A n o r d n u n g d e r S u b s ta n z e n in v e r t i k a l e n R e ih e n a u f g r u n d i h r e r q u a l it a ti v c h e m is c h e n A n a lo g ie. D ie P o s it i o n i n n e r h a lb e in e r R e ih e g a b d a n n d a s r e l a t i v e M a ß f ü r d i e R e a k t i v i t ä t e i n e s S t o f f e s a n.8 V i e le C h e m ik e r w a r e n ü b e r z e u g t, a u f d i e s e W e is e a u c h z u a b s o l u te n A f f i n it ä t s w e r te n g e l a n g e n z u k ö n n e n. D o c h h i e r s tie ß d a s F o r s c h u n g s p r o g r a m m a u f H i n d e r n i s s e. B e r e it s b e i d e n e i n f a c h e n R e la t io n s ta f e ln h a t t e n s ic h A b h ä n g i g k e it e n v o m R e a k tio n sw e g, v o m L ö s u n g sm itte l u n d v o n d e r T e m p e ra tu r g e z e ig t, w o m a n d o c h k o n s t a n te, s u b s t a n z s p e z i f i s c h e W e r te e r w a r t e t e. A u c h a n d e r e A n o m a li e n t r a te n a u f. E i n d u e t i g e, s t a b il e A f f in i t ä ts d a t e n l i e ß e n s i c h u n t e r d i e s e n V o r a u s s e t z u n g e n n i c h t g e w i n n e n, u n d j e k o m p le x e r d i e T a f e l n w u r d e n u n d j e m e h r N e b e n e f f e k t e n s ie R e c h n u n g t r u g e n, u m s o w e n i g e r w a r e n s ie f ü r d i e P r a x i s z u b r a u c h e n. D i e H o f f n u n g a u f e i n e w i r k l ic h e M a th e m a ti s i e r u n g d e r C h e m ie s c h i e n d a m i t in w e it e F e r n e g e r ü c k t.9 B e z o g m a n j e d o c h, d e r N e w t o n s c h e n T r a d i ti o n f o l g e n d, d i e G e w i c h ts V e r h ä lt n i s s e d e r R e a k t a n d e n in d i e M e s s u n g e n e i n, s o e r g a b s ic h e i n a n d e r e s B ild. G e w i c h t o d e r M a s s e g a l t j a g e w i s s e r m a ß e n a ls d i e Q u a n ti t ä t s c h l e c h t h in. S o s c h l u g R i c h a r d K i r w a n 1 7 8 3 v o r, d i e z u r S ä t t ig u n g e r f o r d e r l i c h e n S t o f f m e n g e n a ls A f f i n i t ä t s m a ß z u v e r w e n d e n. D e n g l e i c h e n W e g s c h lu g J e r e m ia s B e n j a m i n R i c h t e r e i n.1 0 A l s S c h ü le r K a n ts g in g e s ih m d a r u m, d i e C h e m i e v o m V e r d a c h t d e s b l o ß E m p i r i s c h e n z u b e f r e i e n u n d i h r P r e s ti g e z u h e b e n. W a s R i c h t e r w o l l te, w a r, d i e C h e m i e z u e in e m Z w e ig d e r a n g e w a n d te n M a t h e m a t i k z u m a c h e n. D ie s e n n a n n t e e r " S t ö c h y o m e t r ie o d e r M e ß k u n s t c h y m is c h e r E l e m e n te ". 1 1 E r v e r s t a n d d a r u n t e r d a s V e r f a h r e n z u r B e s ti m m u n g d e r G e w ic h ts v e r h ä lt n is s e, n a c h d e n e n S to f f e m i t e i n a n d e r r e a g i e r e n. G r u n d l e g e n d w a r R i c h t e r s E n t d e c k u n g, d a ß n e u tr a le S a lz e s ic h w i e d e r z u n e u t r a le n V e r b in d u n g e n u m s e t z e n. S o lie ß s ic h f ü r j e d e S ä u r e u n d j e d e B a s e e i n f e s te r (Frankfurt/Main), Bd 8 (1993) ISSN 09348506 27

G e w ic h ts a n te il a n g e b e n, d e r in a lle n N e u tra ls a lz e n k o n s ta n t b lie b. A u f d ie s e m W e g e g e la n g te R ic h te r z u a r ith m e tis c h e n o d e r g e o m e tr is c h e n R e ih e n, n a c h d e n e n s ic h d ie e le m e n ta r e n B e s ta n d te ile m ite in a n d e r v e r b in d e n s o llte n. W o d ie N a tu r d ie d e r F o r m e l e n ts p e c h e n d e n G lie d e r v e r m is s e n lie ß, n a h m R ic h te r a n, e s m ü s s e s ic h u m b is h e r n o c h n ic h t a u f g e f u n d e n e S u b s ta n z e n h a n d e ln. Ü b e r z e u g t, e in e m f u n d a m e n ta le n N a tu r g e s e tz a u f d e r S p u r z u s e in, d e h n te e r s e in e n A n s a tz a u c h a u f a n d e r e B e s tim m u n g s g rö ß e n w ie d e n Z u s a m m e n h a n g v o n D ic h te u n d A f fin itä t a u s. D ie Ü b e r e in s tim m u n g m it d e n b e k a n n te n A ff in itä ts ta fe ln lie ß f re ilic h z u w ü n s c h e n. O f t g e n u g lie fe n R ic h te r s Z a h le n d e r E r f a h r u n g s c h lic h tw e g z u w id e r. H ilfs h y p o th e s e n, k o r r ig ie r e n d e P a r a m e te r u n d e in e ig e n w illig e r S til m a c h e n d a s, w a s e r g e m e s s e n u n d b e r e c h n e t h a b e n w ill, k a u m n a c h v o llz ie h b a r. S o w a r n te s c h o n J a k o b F r ie s in e in e r z e itg e n ö s s is c h e n R e z e n s io n d e r R ic h te r s c h e n Stöchyometrie, e s h e iß e, K a n t g r ü n d lic h m iß v e rs te h e n, w o lle m a n a u s e m p ir is c h e n D a te n e in e m a th e m a tis c h e, d.h. a p r io r is c h e W is s e n s c h a f t k o n s tr u ie r e n.1 2 D a m it a b e r w a r d a s n e w to n is c h e F o rs c h u n g s p ro g r a m m e in e r Q u a n tif iz ie r u n g c h e m is c h e r W ir k k r ä f te u m 1 8 0 0 in e in e S a c k g a s s e g e r a te n. D e n A u s w e g w ie s b e z e ic h n e n d e r w e is e e in G e le h r te r, d e r s e in e A u s b ild u n g in P h y s ik u n d M a th e m a tik e r h a lte n h a tte, B e r u f s e r fa h r u n g in d e r W ir ts c h a f t b e s a ß u n d s ic h n ie a u f d ie A f fin itä ts fo r s c h u n g e in g e la s s e n h a t: A n to in e L a u re n t L a v o is ie r. S e in V e r d ie n s t lie g t in d e r k o n s e q u e n te n E in f ü h r u n g p h y s ik a lis c h e r M e th o d e n in d ie c h e m is c h e F o r s c h u n g.1 3 P rä z is io n s m e s s u n g e n h a tte n ih n b e s c h ä f tig t, n o c h b e v o r e r s ic h c h e m is c h e n F ra g e n z u w a n d te. E r h a t d ie W a a g e in d e r C h e m ie s y s te m a tis c h b e n u tz t u n d d ie R e s u lta te d e r W ä g u n g a ls f u n d a m e n ta l f ü r d ie D e u tu n g d e r V e r s u c h e a n g e s e h e n. S e it d e m b e r ü h m te n E x p e r im e n t v o n 1 7 7 0 ü b e r d ie v o r g e b lic h e U m w a n d lu n g v o n W a s s e r in E r d e h a tte e r s ic h z u m G r u n d s a tz g e m a c h t, s ä m tlic h e R e a k tio n s p a r tn e r v o r u n d n a c h e in e r U m s e tz u n g z u w ä g e n. A u f d ie s e W e is e lie ß s ic h d e r V e r la u f e in e r U m s e tz u n g q u a n tita tiv b ila n z ie re n. W ic h tig w a r, d a ß g r u n d s ä tz lic h g e s c h lo s s e n e S y s te m e b e tr a c h te t w u r d e n. M a n h a t d ie s e n Z u g a n g m it d e r ö k o n o m is c h e n T h e o r ie j e n e r Z e it u n d d e r P r a x is k a u fm ä n n is c h e r B u c h h a ltu n g in V e r b in d u n g g e b r a c h t.1 4 D a b e i w a r d ie P r o d u k tio n q u a n tita tiv e r D a te n f ü r L a v o is ie r a lle s a n d e r e a ls tr iv ia le R o u tin e. D a s Z e n tru m s e in e r K r e a tiv itä t la g ta ts ä c h lic h in je n e n B ila n z ie ru n g e n u n d ih re n u n e n d lic h e n Z a h le n r e ih e n. D ie S c h w ie r ig k e ite n, d e n e n L a v o is ie r b e g e g n e te, k a m e n d a b e i w e n ig e r a u s d e r g e n a u e n W ä g u n g a ls a u s d e r E n t s c h e id u n g, w e lc h e G e w ic h ts b e s tim m u n g e n s ig n if ik a n t, w e lc h e in d ir e k te n V e r f a h re n z u r E r m ittlu n g n ic h t d ir e k t m e ß b a r e r G r ö ß e n e r la u b t, w e lc h e r e c h n e r is c h e n K o r re k tu r e n z u lä s s ig u n d w e lc h e F e h le r g r e n z e n z u e r w a r te n w a r e n. E s g in g a ls o n ic h t in e r s te r L in ie d a r u m, g e n a u e re q u a n tia tiv e D a te n z u g e w in n e n, s o n d e r n d a r u m, s o lc h e n D a te n e in e n v ö llig n e u e n S ta tu s in d e r w is s e n s c h a f tlic h e n T h e o r ie b ild u n g z u v e r le ih e n.1 5 M it L a v o is ie r r ü c k t d ie E le m e n ta r a n a ly tik in s Z e n tr u m d e r A u fm e rk s a m k e it. M it d e r a n a ly tis c h e n D e fin itio n d e s c h e m is c h e n E le m e n tb e g r if f s u n d d e r E r k e n n tn is, d a ß d ie m e is te n S to ff e a u s e in e r r e la tiv k le in e n Z a h l v o n E le m e n te n ISSN 09348506 28

z u s a m m e n g e s e t z t s i n d, k a m e s n u n d a r a u f a n, d a s r e la t i v e M e n g e n v e r h ä lt n i s d i e s e r E le m e n te z u e r m i t te l n, u m e i n e S u b s ta n z im c h e m i s c h e n S in n e e in d e u tig z u c h a r a k t e r i s ie r e n. D o c h a u c h d a s L a v o i s i e r s c h e F o r s c h u n g s p r o g r a m m f u h r t k e i n e s w e g s n a h tlo s in d i e m o d e r n e A n a l y t ik h in e in. V i e l m e h r lö s te e s u m 1 8 0 0 g e r a d e z u e in e G r u n d l a g e n k r i s e a u s. D e n n e in e s d e r A x io m e s o w o h l d e r A n a ly tik w ie a u c h d e r A f f i n i tä t s f o r s c h u n g, d ie K o n s ta n z d e r Ä q u iv a le n tm a s s e n in V e r b in d u n g e n, w a r k e i n e s w e g s u n u m s t r i t t e n. Z w a r h a tte C l a u d e L o u i s P r o u s t 1 7 9 7 g e z e i g t, d a ß s ic h d i e B e s ta n d te ile g e w i s s e r V e r b in d u n g e n s te ts in f e s te n M e n g e n v e r h ä l t n is s e n v e r e in i g e n u n d d a ß, w e n n z w e i E l e m e n te m i t e i n a n d e r m e h r e r e V e r b i n d u n g e n e i n g e h e n, s ic h d i e P r o p o r ti o n e n in r e g e lm ä ß i g e n S p r ü n g e n ä n d e r n ; d o c h w a r P r o u s t n ic h t in d e r L a g e, e i n e n G r u n d d a f ü r a n z u g e b e n. A u c h s p ra c h d e r e m p irisc h e B e fu n d e h e r d a g e g e n. N u r fü r w e n ig e V e rb in d u n g e n w a r e i n k o n s ta n t e s G e w i c h t s v e r h ä l t n i s d e r E l e m e n te z w e i f e l s f r e i n a c h g e w i e s e n. D ie s e n s ta n d e in e u n ü b e r s e h b a r e Z a h l v o n M i n e r a l i e n, E r z e n u n d o r g a n i s c h e n S to f f e n g e g e n ü b e r, d e r e n Z u s a m m e n s e t z u n g m a n n u r u n g e f ä h r a n z u g e b e n w u ß te. H i n z u k a m e i n e F ü l le v o n w ie w i r h e u te w is s e n ta ts ä c h lic h n i c h t s t ö c h io m e t r i s c h e n M i n e r a l i e n. A u c h w a r e s n ic h t ü b lic h, e x a k t z w is c h e n V e r b i n d u n g, L ö s u n g u n d M i s c h u n g z u u n t e r s c h e i d e n. S o k o n n te d e r E i n d r u c k e n t s t e h e n, d i e G e w ic h t s v e r h ä l t n i s s e b e i c h e m is c h e n V e r b in d u n g e n s e ie n i n n e r h a lb g e w i s s e r G r e n z e n s t e t ig v e r ä n d e r l i c h, u n d f e s te Z a h l e n v e r h ä l t n i s s e s e ie n in d e r C h e m i e e h e r d i e A u s n a h m e. D i e s e A u f f a s s u n g v e r t r a t C la u d e L o u is B e r th o ll e t, d e r A l t m e i s t e r d e r P a r i s e r C h e m i k e r. B e im S tu d iu m c h e m i s c h e r A f f in i tä t e n h a tte e r n ä m lic h g e f u n d e n, d a ß d e r V e r l a u f e i n e r R e a k tio n a u c h v o n d e n b e t e i l ig t e n S t o f f m e n g e n o d e r p r ä z i s e r : d e n K o n z e n t r a t i o n e n d e r R e a k t i o n s p a r t n e r a b h ä n g t. M i t a n d e r e n W o r te n : D i e A f f i n i t ä t is t n ie m a ls d i e e in z ig e T r i e b k r a f t e i n e r U m s e t z u n g, s o n d e r n d e r e n V e r l a u f h ä n g t v o n e tw a s a b, w a s B e r t h o l l e t a ls d a s P r o d u k t v o n A f f i n i t ä t u n d S t o f f m e n g e d e f i n i e r t e. E s b e s ta n d f ü r ih n d a h e r k e i n e N o t w e n d i g k e i t a n z u n e h m e n, d a ß S to f f e n u r in d i s k r e t e n M e n g e n m i t e i n a n d e r r e a g i e r e n s o llte n. E in e q u a n t i ta t i v e V e r ä n d e r u n g b e i d e n R e a k t a n d e n b e w ir k t e q u a l i t a t i v e V e r ä n d e r u n g e n b e i d e n R e a k t i o n s p r o d u k t e n. D a m i t w a r d e r t r a d i t i o n e l l e n A f f i n i t ä t s l e h r e d e r B o d e n e n tz o g e n u n d b e k a m d i e A u s s a g e k r a f t e l e m e n t a r a n a l y t is c h e D a t e n e in e n h ö c h s t z w e i f e l h a f te n W e r t. D i e K r i s e w a r p e r f e k t. L a p i d a r s t e ll t e d e r M e c k l e n b u r g e r C h e m i k e r C a r l K a r s t e n 1 8 0 3 f e s t:... s o b l e i b t u n s j e t z t n u r d i e t r a u r ig e G e w i ß h e i t, d a ß a lle u n s e r e b i s h e r ü b e r d ie s e n G e g e n s t a n d a n g e s t e l l t e n U n t e r s u c h u n g e n, a lle B e m ü h u n g e n v i e l e r z u m T h e i l d e r g r ö ß t e n u n d a u s g e z e i c h n e t s te n C h e m i k e r u m d ie s e n w i c h t ig e n T h e il d e r C h e m i e, v e r g e b e n s u n t e r n o m m e n w u r d e n ; d a ß d ie V e r h a n d l u n g e n d a r ü b e r z u m g r o ß e n T h e i l u n n ü t z e r W e is e u n s e r e A r c h i v e f ü l l e n.1 6 E s w a r n ic h t L a v o i s i e r s o n d e r n J o h n D a l t o n, d e r d i e C h e m i s c h e R e v o lu tio n v o l l e n d e n u n d d a s P r o g r a m m e i n e r q u a n t i t a t iv e n C h e m i e a u s j e n e r S a c k g a s s e h e r a u s f u h r e n s o l lt e.1 7 A u f g e w a c h s e n in d e r T r a d i t i o n d e s b r it i s c h e n N e w to n ia n i s m u s, d e r s ic h d i e M a t e r i e k o r p u s k u l a r u n d in h i e r a r c h i s c h e n O r d n u n g e n ISSN 09348506 29

z u s a m m e n g e s e tz t v o r s te llte, g a lt D a lto n s I n te re s s e d e r M a th e m a tik u n d d e r M e te o r o lo g ie. B e im S tu d iu m d e r L u f tfe u c h tig k e it w a r e r z u d e r Ü b e r z e u g u n g g e la n g t, d a ß e s s ic h b e i d e r L u ft u m e in G a s g e m is c h h a n d e ln m ü s s e u n d n ic h t u m e in e w e n n a u c h lo s e V e rb in d u n g, w ie d ie s n o c h b e i L a v o is ie r d e r F a ll w a r. D ie fe h le n d e E n tm is c h u n g d e r L u ftb e s ta n d te ile s o w ie d ie D ru c k a b h ä n g ig k e it d e r L ö s lic h k e it v o n G a s e n d e u te te e r a ls r e in p h y s ik a lis c h e P h ä n o m e n e. F ü r D a lto n b e s itz t je d e s c h e m is c h e E le m e n t g e n a u e in e A rt v o n A to m e n, d ie s ic h v o r a lle m d u rc h e in d e fin ie rte s G e w ic h t a u s z e ic h n e n. In d e m D a lto n d a s L a v o is ie rs c h e K o n z e p t d e s c h e m is c h e n E le m e n ts m it d e r A to m th e o rie v e rb a n d, e r h ie lt e r e in e T h e o r ie d e r V e r b in d u n g s b ild u n g, d ie s ic h e r fo lg r e ic h in a n a ly tis c h c h e m isc h e P ra x is u m s e tz e n lie ß. Z ie l d e r c h e m is c h e n F o rs c h u n g w a r e s n a c h D a lto n, A to m g e w ic h te s o w ie d ie A n z a h l d e r e le m e n ta r e n T e ilc h e n in e in e r V e r b in d u n g z u e r m itte ln. D ie e n ts c h e id e n d e W e n d u n g, d ie D a lto n m it s e in e n Philosophy b e s ta n d (L o n d o n 1 8 0 8 ) d a rin, d a ß e s ih m A New System of Chemical d e m Q u a n tif iz ie ru n g s p r o g r a m m g e g e b e n h a tte, n ic h t d a r u m g in g, A n z ie h u n g s k r ä fte z u q u a n ti fiz ie re n, s o n d e rn d a ru m, d ie M a s se n d e r c h e m isc h e n E le m e n ta r b a u s te in e z u b e s tim m e n. D a m it w a r d ie A u s e in a n d e rs e tz u n g u m d ie M ö g lic h k e it e in e r q u a n t i t a t i v e n C h e m i e v o n d e r F r a g e n a c h d e m Reaktionsmechanismus ( d e r F r a g e n a c h d e m Warum) a u f d i e F r a g e n a c h d e n Einheiten e i n e r R e a k t i o n ( d e r F r a g e n a c h d e m Was u n d n a c h d e m Wieviel) v e r s c h o b e n. D a s f r u c h t l o s e B e m ü h e n u m e in e Q u a n tifiz ie ru n g c h e m is c h e r K rä fte w a r d u rc h d a s P ro g ra m m e in e r g e w ic h ts m ä ß ig e n Q u a n tifiz ie ru n g d e r c h e m is c h e n E in h e ite n a b g e lö s t w o rd e n. D a lto n s A to m th e o r ie is t d e s h a lb a u c h a ls d ie e ig e n tlic h e C h e m is c h e R e v o lu tio n b e z e ic h n e t w o rd e n. I c h h a b e z u z e ig e n v e r s u c h t, d a ß s e it d e m 1 8. J a h r h u n d e r t u n te r s c h ie d lic h e F o r s c h u n g s p ro g r a m m e e in e r q u a n tita tiv e n C h e m ie m ite in a n d e r k o n k u r r ie rt h a b e n. V o n d ie se n k o m m t d e r A ffin itä ts fo rs c h u n g u n d d e r E le m e n ta ra n a ly tik b e s o n d e re B e d e u tu n g z u. D a b e i e rs c h e in t d ie G e s a m te n tw ic k lu n g w e n ig e r a ls k o n tin u ie rlic h e Z u n a h m e m e s s e n d e r V e rfa h re n u n d fo rts c h re ite n d e r P rä z isie r u n g, s o n d e r n a ls e in P r o z e ß, d e r v o n m in d e s te n s d r e i s c h a r fe n B r ü c h e n g e k e n n z e ic h n e t is t. D e r e r s te B r u c h v e r b in d e t s ic h m it d e r V o r s te llu n g, m a n k ö n n e d ie C h e m ie a ls M ik ro d y n a m ik w ir k e n d e r K r ä fte n b e h a n d e ln. D ie s w a r d e r A n fa n g d e s A ffin itä ts p ro g ra m m s. D e r z w e ite v e rb in d e t s ic h m it d e m N a m e n L a v o is ie rs u n d d e r s tre n g e n B ila n z ie ru n g v o n M a s s e n in g e s c h lo ss e n e n S y s te m e n. D a m it e r h a lte n Z a h le n in F o r m v o n B ila n z e n u n d G le ic h u n g e n a ls w is s e n s c h a f tlic h e F a k te n n e u e r A r t e in e n b is d a h in u n b e k a n n te n S te lle n w e rt. D e r d r itte s c h lie ß t a n D a lto n s V e rk n ü p f u n g v o n L a v o is ie r s c h e m E le m e n tb e g r if f u n d A to m le h re a n u n d f ü h r t z u r e r s te n T h e o r ie d e r c h e m is c h e n V e r b in d u n g im m o d e rn e n S in n. In d ie s e r s p ie lte d a s A to m g e w ic h t a ls c h a ra k te ris tis c h e G rö ß e d ie e n ts c h e id e n d e R o lle, u n d d a m it w a r e rs tm a ls d ie V o ra u s s e tz u n g fü r e in e r f o lg r e ic h e s a n a ly tis c h c h e m is c h e s F o rs c h u n g s p r o g ra m m g e g e b e n. ISSN 09348506 30

* N a c h e in e m Vo rtra g a u f d e r P h a rm a z ie h is to ris c h e n B ie n n a le 1 9 9 2 " A p o th e k e r u n d A n a ly tik " a m 1 7. O k to b e r 1 9 9 2 in B in z a u f R ü g e n. 1 Im m a n u e l K a n t, M e ta p h y s is c h e A n fa n g s g rü n d e d e r N a tu rw is s e n s c h a ft [1 7 8 6 ], V o rre d e, in : Immanuel Kant Werke, B d. 8 (D a rm s ta d t 1 9 7 5 ), S. 1 5 / A X. 2 H e n ry G u e rla c, " Q u a n tific a tio n in C h e m is try," Isis 5 2 (1 9 6 1 ), 1 9 4 2 1 4. 3 W o lfg a n g S c h n e id e r, Geschichte der pharmazeutischen Chemie (W e in h e im 1 9 7 2 ), S. 1 6 9. 4 A n d e rs L u n d g re n, " T h e C h a n g in g R o le o f N u m b e rs in 18th C e n tu ry C h e m is trv," in : T o re F rä n g s m y r, J.H. H e ilb ro n und R o b in E. R id e r (H rs g.), The Quantifying Spirit in the Eighteenth Century (B e rk e le y 1990), S. 2 4 5 2 6 6. 5 A rn o ld T h a c k ra y, Atoms and Powers: An Essay on Newtonian MatterTheory and the Development of Chemistry (C a m b rid g e 1 9 7 0 ). 6 A.L. L a v o is ie r, " M e m o ire s u r l'a ffin itg du p rin c ip e oxygin e [1 7 8 2 ]," in : Oeuvres de Lavoisier, B d. 2 (P a ris 1 8 6 2 ), S. 5 5 0. 7 W illia m A. S m e a to n, " G u y to n d e M o rv e a u an d C h e m ic a l A ffin ity," Ambix 1 1 (1 9 6 3 ), 5 5 6 4. 8 M ic h e lle G o u p il, Du flou au clair? Histoire de Taffinitd chimique de Cardan ä Prigogine (P a ris 1 9 9 1 ). 9 M a rtin C a rrie r, " D ie b e g rifflic h e E n tw ic k lu n g d e r A ffin itä ts th e o rie im 1 8. J a h rh u n d e rt: N e w to n s T ra u m u n d w a s d a ra u s w u rd e," Archive for the History of Exact Sciences 3 6 (1 9 8 6 ), 3 2 7 3 8 9. 1 0 J.R. P a rtin g to n, " J e re m ia s B e n ja m in R ic h te r a n d th e L a w o f R e c ip ro c a l P ro p o rtio n s," Annals of Science 7 (1 9 5 1 ), 1 7 2 1 9 8 ; 9 (1 9 5 3 ), 2 8 9 3 1 4. 1 1 J e re m ia s B e n ja m in R ic h te r, Anfangsgründe der Stöchyometrie oder Meßkunst chymischer Elemente (B re sla u /H irs c h b e rg 1 7 9 2 1 7 9 4 ). 1 2 F re d e ric k G re g o ry, " R o m a n tic K a n tia n is m a n d th e E n d o f th e N e w to n ia n D re a m in C h e m is try," Archives Internationales d'histoire des Sciences 3 4 (1 9 8 4 ), 1 0 8 1 2 3. 1 3 C.E. P e rrin, " R e s e a rc h T ra d itio n s, L a v o is ie r, a n d th e C h e m ic a l R e v o lu tio n," Osiris 4 (1 9 8 8 ), 5 3 8 1 ; E v a n M. M e lh a d o, " C h e m is try, P h y s ic s, a n d th e C h e m ic a l R e v o lu tio n," Isis 7 6 (1 9 8 5 ), 1 9 5 2 1 1. 1 4 C h a rle s B. G illis p ie, The Edge of Objectivity: An Essay in the History of Scientific Ideas (P rin c e to n 1960), S. 2 3 1 2 3 2 1 5 F re d e ric k L a w re n c e H o lm e s, Lavoisier and the Chemistry of Life: An Exploration of Scientific Creativity (M a d is o n 1 9 8 5 ). 1 6 G u s ta v K a rs te n, " B e m e rk u n g e n übe r B e rth o lle ts c h e m is c h e A ffin itä ts le h re," Allgemeines Journal der Chemie 1 0 (1 8 0 3 ), 1 3 5 1 5 6, h ie r S. 1 3 7. 1 7 A rn o ld T h a c k ra y, " Q u a n tifie d C h e m is try T h e N e w to n ia n D re a m," in : John Dalton and the Progress of Science (M a n c h e s te r/n e w Y o rk 1 9 6 8 ), S. 9 2 1 0 8 ; R o b e rt S ie g frie d und B e tty J o D o b b s, " C o m p o s itio n : A N e g le c te d A s p e c t o f th e C h e m ic a l R e v o lu tio n," Annals of Science 2 4 (1 9 6 8 ), 2 7 5 2 9 3. 3 1 ISSN 09348506