Königs Erläuterungen und Materialien Band 330. Auszug aus: Theodor Fontane. Irrungen, Wirrungen. von Martin Lowsky

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Transkript:

Königs Erläuterungen und Materialien Band 330 Auszug aus: Theodor Fontane Irrungen, Wirrungen von Martin Lowsky

2.7 Interpretationsansätze Irrungen, Wirrungen mit seinen reichen Perspektiven kann man als Zeitroman, als psychologischen Roman oder als Entwicklungsroman interpretieren. Wir stellen dies in 2.7.2 bis 2.7.4 im Einzelnen dar. Die neuere Forschung sieht Irrungen, Wirrungen vor allem als psychologischen Roman, doch wird jeder Leser seinen eigenen Schwerpunkt setzen. Zuvor werfen wir einen Blick auf Fontanes spezielle Schaffensweise, seinen Realismus. Denn vor allem anderen ist Irrungen, Wirrungen ein realistischer Roman. 2.7.1 Fontanes Realismus Man sagt, Theodor Fontane sei ein Realist. Was heißt das? Ein literarisches Werk gilt als realistisch, wenn es die Realität, die Wirklichkeit, das alltägliche Leben beschreibt. Dabei muss das Erzählte nicht tatsächlich geschehen sein. Es genügt, wenn das Erzählte hätte geschehen können. Die Geschehnisse von Irrungen, Wirrungen hätten damals im Berlin der 1870er Jahre stattfinden können wir spüren dies bei der Lektüre. Spüren heißt aber: Wir achten auf das Wie der Darstellung, auf den Diskurs. Bei der Frage nach realistisch und Realismus geht es um das, was erzählt wird, mehr noch aber darum, wie erzählt wird. Fontane hat beides im Auge. 1. Was wird erzählt? Fontane vertritt Was wird erzählt? die Position, dass alles in unserer Welt zu erzählter Literatur werden kann. Fontane hat über den Realismus gesagt: Er umfängt das ganze reiche Leben, 77

das Größte wie das Kleinste: den Kolumbus (...) und das Wassertierchen (...). 18 Tatsächlich herrscht in Irrungen, Wirrungen eine große Bandbreite, Bismarcks Politik (7. Kap.) ist ebenso ein Thema wie der Bruchspargel bei der Gartenarbeit (3. Kap.). Es gibt in Irrungen, Wirrungen eine Stelle, wo Fontane dem Leser erklärt, was Realismus ist. Worüber kann man reden und ergänzen wir worüber kann man schreiben? Frau Dörr: Über Morcheln, Herr Baron, das geht doch nicht. Botho: O warum nicht, warum soll es nicht gehen, liebe Frau Dörr? Das (...) hat für manche mehr Bedeutung, als Sie glauben. (S. 21) Für den Realisten ist eben alles literaturwürdig! 2. Wie wird erzählt? Fontane hat gefordert: Der Roman soll ein Zeitbild Wie wird erzählt? sein, ein Bild seiner Zeit. 19 Man soll beim Lesen das Gefühl haben, unser wirkliches Leben fortzusetzen, und dass zwischen dem erlebten und erdichteten Leben kein Unterschied ist. Dafür muss, hat Fontane betont, das Erzählen eine Intensität, Klarheit und Abrundung bieten, die es im wirklichen Leben nicht gibt. 20 Die Vorausdeutungen, das Spiel mit Wörtern und die Motivwiederholungen (siehe 2.6.2 bis 2.6.4), ebenso die wechselnden Perspektiven (siehe 2.6.6) all dies dient der Intensität und Abrundung. Der Realist schafft Zusammenhänge, die in der Wirklichkeit nicht immer existieren, er will alles miteinander verbinden und in Beziehung setzen. Man kann auch sagen: Die wahre 18 Fontane, Werke, Schriften und Briefe, III/1, S. 242 19 ebd., S. 319 20 ebd., S. 568 f. 78

Welt soll poetisiert werden. Fontane selbst hat den Ausdruck Verklärung benutzt. 21 Er meinte damit insbesondere, dass die krasse Hässlichkeit im Roman nicht auftreten dürfe. In Irrungen, Wirrungen hat er nicht einmal den geistig und körperlich behinderten Sohn Hans Dörr beschrieben, ihn aber immerhin vorgestellt (S. 18). Auch über Lenes harte Arbeit erfahren wir kaum etwas, wie auch die Arbeiter im Walzwerk nur während einer Arbeitspause beobachtet werden (S. 78). Fontane ist nicht für den Idealismus der Goethe-Zeit, der die Welt beschreibt, wie sie sein sollte. Er ist auch nicht für den Naturalismus, der damals gerade entstand und der das drastisch Hässliche in der Welt wiedergibt. Fontanes Realismus orientiert sich an der unmittelbar sichtbaren Erfahrungswelt und zugleich an poetischen Zielen wie Intensität, Klarheit und Ganzheitlichkeit. Der Realist schafft aus der wahren Welt eine neue wahre Welt, ohne dass ein Bruch entsteht. Dieser Fontane sche Realismus wird auch poetischer Realismus genannt. Ist Fontanes Realismus etwas Altmodisches? Manche sagen ja, weil Fontane auf poetische Weise in die Wirklichkeit etwas hineinmontiert, was doch nicht genau der Wirklichkeit entspricht. Demnach wäre Fontanes poetischer Realismus doch fern der realistischen Sicht, ein Irrtum sozusagen. Doch heute stellt sich die Naturwissenschaft die grundsätzliche Frage: Ist die Wirklichkeit überhaupt fassbar, konstruieren wir Menschen beim Wahrnehmen von Wirklichkeit nicht immer etwas hinein? Jede Erkenntnis ist konstruiert genau dies behauptet eine moderne Richtung in der Philosophie, die von der Physik beeinflusst ist, der sogenannte Konstruktivismus. 21 ebd., S. 237 79

Sein Hauptvertreter Ernst von Glasersfeld beruft sich dabei auch auf Kant. Fontanes poetischer Realismus steht dem Konstruktivismus nahe und ist also modern. 2.7.2 Irrungen, Wirrungen ein Zeitroman Dieser Roman stellt dar, wie zwei Menschen, die sich lieben, auf Grund ihrer Herkunft ihr Leben nicht zusammen verbringen können und auf ihr gemeinsames Glück verzichten müssen. Dabei beschreibt Fontane seine Zeit, die Lebensformen des Deutschen Kaiserreiches. Alle Personen des Romans haben ihren Platz in der Gesellschaft (siehe 2.4), von dem Adeligen Botho von Rienäcker und seinen Angehörigen und Freunden über die kleinbürgerlichen Kreise um Lene Nimptsch und Frau Dörr bis zu den Arbeitern eines Walzwerkes (Kap. 14) und dem Kutscher einer Droschke (Kap. 21). Der Roman kritisiert diese Gesellschaft, den Umstand vor allem, dass Der Roman kritisiert die Gesellschaft die Menschen dieser Gesellschaft in streng abgegrenzte Schichten und Klassen eingeteilt sind. Lene, die nicht Bothos Frau wird, ist eigentlich eine kleine Demokratin (S. 26), aber das demokratische Denken hat noch keine Macht. Mit dem Blick auf Lenes und Bothos Trennung lässt sich sagen: Fontane beschreibt die Hilflosigkeit und die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber den Normen der Gesellschaft, und in Irrungen, Wirrungen spielt sich eine Tragödie 22 ab. Es ist eine Zeit die so genannten Gründerjahre, in der das Geld eine besondere Rolle spielt. Fontane macht den Hang zum Geld in allen Gesellschaftsschichten sichtbar (siehe 2.6.4, 1. Kasten). 22 Killy, Abschied, S. 201 80

Bei alledem beobachtet Fontane genau und gibt uns mit den Örtlichkeiten im treues Bild des damaligen Berlin Roman ein treues Bild des damaligen Berlin und mancher Reiseziele der Berliner (siehe 2.3.3). Fontane geht noch weiter. Er stellt dar, dass diese Zeit und ihre politischen Strukturen bereits im Wandel begriffen sind (siehe 2.6.4, 2. Kasten). Der Adel ist schon in einer gefährdeten Lage: Botho ist verschuldet; sein Onkel Kurt, der Konservative vom Land, schimpft über das Berlin mit seinem starken Bürgertum und über das Schwinden alter Sitten, und handwerklich gebildete Leute wie Gideon zeigen sich dem Adel gewachsen. Diese Gefährdung, vielleicht sogar: diese Untergangsstimmung, in der der Adel lebt, macht Fontane auch durch die nichtadelige Lene sichtbar. Lene steht in einem sehr positiven Licht; sie ist die intelligenteste, seelisch stärkste und im Leben erfahrenste Person des Romans, sie ist dem Adeligen Botho überlegen. 2.7.3 Irrungen, Wirrungen ein psychologischer Roman Mit der Gestalt der Lene bewegt sich dieses Werk noch in eine andere Richtung und entfernt sich vom Zeitroman. Lene, die in einer Gartenatmosphäre lebt, hat auch etwas Märchenhaftes zuerst für Botho und dann auch für uns Leser (siehe 2.6.2, Schluss). Damit gerät der Roman in Distanz zum Alltag und zu seiner Epoche. Eine gewisse Distanzierung verfolgt Fontane auch dadurch, dass er die Handlungszeit um einige Jahre zurückverlegt, heißt es doch im ersten Satz: (...) befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch (...). (S. 5) Fontane geht es also nicht nur um seine Zeit. Er schildert die Menschen in ihrer Menschlichkeit. Seinen Figuren Er schildert die Menschen in ihrer Menschlichkeit 81

hat er komplizierte Charaktere beigegeben. Dies gilt für Lene, die zum Sticheln neigt (S. 53), und es gilt auch für Frau Dörr und ihre fragwürdige Robustheit, für Gideon, der als Sektenführer altmodisch wirkt und doch modern denkt, und sogar für Käthe, die nicht nur herumdalbert, sondern sich auch von Armstrong und seiner Verspottung des Militärs faszinieren lässt. Viele der Wortspiele und Motivwiederholungen dieses Romans (siehe 2.6.3 und 2.6.4) drücken die vielschichtige Psyche der Personen aus. Es ist die Liebe zwischen Botho und Lene, die die Normen der Gesellschaft vorübergehend außer Kraft setzt. Alles Wesentliche, das Lene tut, beruht auf ihren bewussten und illusionslosen Entscheidungen ( freier Entschluss, S. 81). Fontane demonstriert hier die Stärke der Psyche, genauer gesagt: der weiblichen Psyche. Zu dieser psychologischen Seite des Romans gehören auch einige grundsätzliche Aussagen über die menschliche Seele, die wir von den Personen hören. Zum Beispiel sagt Bothos Kamerad Serge den tiefsinnigen Satz: Alle Genüsse sind schließlich Einbildung und wer die beste Phantasie hat, hat den größten Genuss. (S. 39) Botho stellt fest, dass das Herkommen unser Tun bestimmt (S. 78), und von Lene hören wir einen Gedanken, den der moderne Psychologe Erich Fromm gesagt haben könnte: Die Liebe (...) macht auch hell und fernsichtig. (S. 27) Ein typischer Vorgang des Seelenlebens ist Lenes Erschrecken so, als müsse sie ein schlechtes Gewissen haben, als sie auf der Landpartie ein fleißig arbeitendes Mädchen bemerkt (S. 64). Psychologisch exakt arbeitet Fontane auch, wenn er Lene nach ihrem Zusammenbruch dadurch neue Kraft verleiht, dass er sie die Wohnung wechseln lässt (17. Kap.). 82

Entsprechend richtet sich die Kritik dieses Romans nicht nur gegen aktuelle politische Zustände, sondern auch gegen die Menschen selbst. Fontane zeigt uns, wie harte Männer die Frauen quälen und Eltern ihre Kinder einengen (2.6.4, 1. Kasten). Diese Kritik Fontanes ist aktuell geblieben. Auch Botho wird auf versteckte Weise kritisiert, denn er hätte ja Lene heiraten können, so wie Adalbert von Lichterloh die bürgerliche Hildegard Holtze heiratet (S. 121). Dazu hätte er sich von seiner Familie und ihrem Geld-Denken lösen müssen, was freilich eine zu schwere Aufgabe für ihn ist. 2.7.4 Irrungen, Wirrungen ein Entwicklungsroman Botho zieht nicht nur die Kritik des Erzählers auf sich, er kann auch als die interessanteste Person des Romans angesehen werden. Denn während alle anderen Figuren ihr eigenes Denken nicht zur Debatte stellen, macht Botho in seinem Denken eine Entwicklung durch. Botho geht Entscheidungen aus dem Weg: Er muss sich sogar von Lene sagen lassen, was geschehen wird ( wegfliegen wirst du, S. 27). Er ist von seiner Mutter und seinem Onkel völlig abhängig. Botho ist also schwach und konfliktscheu doch diese Schwäche zu erkennen und dann konse- Schwäche zu erkennen und dann konsequent zu sein, das ist quent zu sein, das ist Bothos Leistung. Bothos Leistung Fontane beschreibt hier einen schwierigen Entwicklungsprozess. Der Titel Irrungen, Wirrungen ist in erster Linie auf Botho und seine Entwicklung zu beziehen. Er selbst spricht diesen Titel einmal aus (S. 119). Anfangs, wenn wir Botho zum ersten Mal in seiner Wohnung erleben, erscheint ihm die Welt als eine der besten Welten (S. 31). Später sieht er beim Anblick von Arbeitern ein, dass 83

das Einhalten der Ordnung für ihn das Richtige ist (S. 78). Schließlich hat er sich so weit entwickelt, dass er seinem Kameraden Rexin schlüssig erklären kann, dass es auch für ihn gut ist, die Regeln der Gesellschaft einzuhalten (S. 125 f.). Natürlich kann man Botho tadeln, aber es ist bewundernswert an ihm, dass er seinen eigenen Charakter erkennt und sich geistig die Position erarbeitet, die für ihn passt. Fontane hat in dem Bild von Botho und seiner Entwicklung viele Feinheiten untergebracht. In der ersten Hälfte des Romans fehlen Botho oft die Worte, um Probleme zu erörtern. Am Schluss dieser ersten Hälfte, in dem letzten Augenblick des Abschieds, ist er stumm (S. 82). In der zweiten Hälfte des Romans entwickelt er seine Fähigkeit, zu reden und zu argumentieren (20. und vor allem 23. Kapitel), und Fontane gibt ihm sogar das letzte Wort im Roman. Der Roman macht deutlich, dass Bothos Denkweise eben für Botho, nicht aber für andere zutrifft. Denn in dem Gesprächspartner Rexin beschreibt Fontane einen neuen Botho von Rienäcker 23, der in seinem Denken weiter ist. Botho selbst bemerkt die Fragwürdigkeit seiner Vorstellungen. Jeder Stand hat seine Ehre, sagt er zu Frau Nimptsch (S. 18), und vor allem erkennt er, dass Gideon, dieser moderne bürgerliche Handwerker, ihm gewachsen ist. Dies zeigt das 20. Kapitel und der Schlusssatz des Romans. Eine Bemerkung noch: Fontane mochte solche Kategorien wie Zeitroman, psychologischer Roman und Entwicklungsroman nicht. Er verstand sein realistisches Kreieren immer als etwas Ganz- realistisches Kreieren als etwas Ganzheitliches heitliches. In der Person Bothos führt Fontane diese Ganzheitlichkeit deutlich vor, und zwar in der langen Fahrt Bothos zum Grab von Frau Nimptsch (21. Kap.). 23 Hettche, S. 153 84

Diese Fahrt zwischen kuriosen Buden, Portalen und Werbesprüchen, mit einem Berliner Kutscher, der aus Schlesien stammt, mit Hilfe eines hungrigen Pferdes und an einer Musikdarbietung und an einer Unfallstelle vorbei das ist eine Welt in einer Buntheit, die von der ringsum herrschenden Ordnung nichts wissen will. Wir Leser von heute fühlen uns wie beim Zappen vorm Fernseher. Gewiss, Botho ist passiv, doch diese reichhaltige Welt zu beobachten tut ihm wohl. Der Gedanke steht im Raum: Bothos Entwicklung wird weitergehen. 85