Fall 10: Panik-Fall Sachverhalt A befährt mit seinem Wagen eine abseits gelegene, schmale Landstraße. Ein quer auf dieser Straße stehender PKW versperrt ihm den Weg. Das Fahrzeug war zuvor gegen einen Baum geprallt. Der türkische Fahrer B kommt auf den haltenden A zugelaufen, um ihn um Hilfe zu bitten. Seine Ehefrau hat einen Schock erlitten und sitzt bewusstlos auf dem Beifahrersitz. A dreht die Seitenscheibe herunter. B redet, wild gestikulierend, in türkischer Sprache auf ihn ein. A versteht ihn nicht. Ihn durchfährt der Gedanke: Das ist ein Überfall! Er rechnet damit, dass B sogleich eine Pistole ziehen wird. Hastig dreht er das Seitenfenster wieder hoch und gibt Gas. Als er auf das Fahrzeug des B zufährt, erkennt er auf dem Beifahrersitz eine zusammengesunkene Gestalt. Er geht davon aus, dass diese Person an der Inszenierung des Überfalls beteiligt ist. Um weiterfahren zu können, fährt A gegen den vorderen Teil des PKW des B und schiebt ihn beiseite. Dabei nimmt er in Kauf, dass die Person verletzt wird. Tatsächlich erleidet die zuvor körperlich unverletzte Frau des B dadurch, dass sie gegen die Windschutzscheibe geschleudert wird, eine blutende Kopfverletzung. Für A war beim Zufahren auf den Wagen des B sichtbar gewesen, dass dieser eine Delle am rechten Kotflügel aufwies und dass der Baum am Straßenrand beschädigt war. Darauf hatte er jedoch in seiner Panik nicht geachtet. Strafbarkeit des A? Seite 1
Hinweise zur Lösung 1. Teil Strafbarkeit des A durch das Anfahren des PKW des B A. 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, 223 StGB I. Tatbestandsmäßigkeit 1. Objektiver Tatbestand a) Grundtatbestand, 223 Abs. 1 StGB A behandelte die Ehefrau des B übel und unangemessen, indem er ihr eine blutende Kopfverletzung zufügte, die ihr körperliches Wohlbefinden nicht nur unerheblich beeinträchtigte. Damit sind die Voraussetzungen einer körperlichen Misshandlung erfüllt. Mit der Verletzung trat eine weitere Verschlechterung des Zustandes der Ehefrau ein, die unter Schock stand und bewusstlos war. Demnach liegt auch die Tatvariante der Gesundheitsschädigung vor, die das Hervorrufen oder Steigern eines krankhaften Zustandes erfasst. b) Qualifikation, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB Der bei Begehung der Tat verwendete PKW kann trotz seiner Größe ein gefährliches Werkzeug im Sinne von 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB darstellen. Darunter fällt jeder bewegliche Gegenstand, der nach der Art der Benutzung im konkreten Fall geeignet ist, erhebliche Verletzungen herbeizuführen. Es genügt, wenn der Gegenstand, sei er noch so groß, beweglich und als Angriffsmittel verwendbar ist. Der PKW war auch nach seiner konkreten Einsatzart geeignet, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Dagegen bietet der Sachverhalt nicht die für die Annahme einer lebensgefährdenden Behandlung gem. 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB nötigen Anhaltspunkte. Da A zunächst gehalten hatte und dann erst anfuhr und zudem den PKW des B nicht rammte, sondern nur beiseite schob, ist eine auch nur abstrakte Lebensgefahr zu verneinen. 2. Subjektiver Tatbestand A nahm die Verletzung der Person im PKW des B billigend in Kauf und handelte daher im Hinblick auf die Körperverletzung mit bedingtem Vorsatz. Da er sich der sonstigen Umstände bewusst war, kann auch bedingter Vorsatz hinsichtlich der Seite 2
Verwendung eines gefährlichen Werkzeugs angenommen werden. Weitergehende Anforderungen stellt der gesetzliche Tatbestand nicht. Die Formulierung mittels eines gefährlichen Werkzeugs bedeutet nicht etwa, dass insoweit Absicht vorliegen muss. II. Rechtswidrigkeit Eine Rechtfertigung durch Notwehr gem. 32 StGB scheidet aus, weil A keinem gegenwärtigen Angriff seitens des B und dessen Ehefrau ausgesetzt war. Dass A einen solchen Angriff irrtümlich annahm, vermag einen Rechtfertigungsgrund nicht zu begründen. Die Tatumstände, welche die Voraussetzungen einer Notwehrlage erfüllen, müssen objektiv vorliegen. III. Schuld (Die Frage, ob die irrige Vorstellung eines Überfalls den A entlastet, kann unterschiedlich entwickelt werden. Der hier eingeschlagene Weg ist nicht zwingend. Verschiedentlich wird die Frage auch schon im Zusammenhang mit der Rechtswidrigkeit erörtert.) A könnte ohne Unrechtsbewusstsein gehandelt haben, was ihn im Falle der Unvermeidbarkeit des Irrtums nach 17 Satz 1 StGB entschuldigen würde. Er hielt sein Handeln unter dem Gesichtspunkt der Notwehr für gerechtfertigt. Es ist jedoch zweifelhaft, ob 17 Satz 1 StGB eine sachgerechte Lösung bietet. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass die Annahme des A auf einer fehlerhaften Wahrnehmung der Tatumstände beruhte. A glaubte, dass B und dessen Ehefrau einen Überfall auf ihn ausüben wollten. Legt man seine Vorstellung zugrunde, so befand er sich in einer Notwehrlage, in der er sich zur Wehr setzte, ohne das Maß des Erforderlichen und des Gebotenen zu überschreiten. Die Flucht unter Inkaufnahme der Verletzung eines Angreifers war ein relativ mildes Mittel. Es zeigt sich somit, dass A einem Erlaubnistatumstandsirrtum erlegen war. Der Wortlaut von 17 Satz 1 StGB ermöglicht zwar eine Anwendung auch auf einen derartigen Irrtum. Auch wird für eine Anwendung ins Feld geführt, dass die hohen Anforderungen des Merkmals der Unvermeidbarkeit gerechtfertigt seien, weil derjenige, der bewusst einen Verbotstatbestand verwirkliche, besonders gründlich prüfen müsse, ob wirklich ein rechtfertigender Sachverhalt vorliege. Bessere Gründe sprechen aber für den gegenteiligen Standpunkt, der die Anwendung von 17 StGB auf solche Vorstellungen über eine Rechtfertigung begrenzt, die lediglich die Existenz oder die Reichweite eines Rechtfertigungsgrundes betreffen (Erlaubnisirrtum). Die sachgerechte Lösung für einen Erlaubnistatumstandsirrtum, wie er hier vorliegt, ist in 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zu sehen. Da- Seite 3
nach entfällt eine Strafbarkeit wegen einer Vorsatztat. Dafür spricht, dass der Täter anders als beim Erlaubnisirrtum an sich rechtstreu ist und Unrecht vermeiden will. Ähnlich wie beim Tatumstandsirrtum hindert ihn lediglich das Verkennen der Sachlage daran, sich objektiv rechtskonform zu verhalten. Ob 16 Abs. 1 Satz 1 StGB direkt, analog oder auch nur teilweise anzuwenden ist, bedarf hier keiner näheren Erörterung, weil sich der Unterschied im Ergebnis nicht auswirkt. IV. Ergebnis A hat sich nicht wegen gefährlicher Körperverletzung gem. 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5, 223 StGB strafbar gemacht. Zu prüfen ist weiterhin eine fahrlässige Körperverletzung, weil gem. 16 Abs. 1 Satz 2 StGB eine Bestrafung wegen fahrlässiger Tat unberührt bleibt. B. 229 StGB I. Tatbestandsmäßigkeit Indem A mit seinem PKW gegen den des B fuhr, verursachte er bei der darin sitzenden Ehefrau des B eine Körperverletzung. Sein Verhalten war objektiv sorgfaltspflichtwidrig; denn ein besonnener Mensch hätte bei Würdigung aller Umstände, insbesondere der sichtbaren Beschädigung des Wagens sowie des Baumes am Straßenrand erkannt, dass es sich um einen Unfall und nicht um einen Raubüberfall handelte. Der Erfolg war zudem objektiv vorhersehbar. Es bestehen auch keine Zweifel am Pflichtwidrigkeitszusammenhang. II. Rechtswidrigkeit Es greifen keine Rechtfertigungsgründe zugunsten des A ein. III. Schuld Trotz seiner Panik war A noch zu überlegtem Handeln in der Lage. Seine Schuldfähigkeit war demnach nicht gem. 20 StGB ausgeschlossen. Der Affektzustand könnte aber der Annahme subjektiver Fahrlässigkeit im Sinne subjektiver Sorgfaltspflichtverletzung und subjektiver Vorhersehbarkeit entgegenstehen. Doch muss auch insoweit berücksichtigt werden, dass A nicht völlig außer sich geriet, sondern noch dazu fähig war, auf die von ihm angenommene Lage rational und folgerichtig zu reagieren. Demnach war sein subjektives Wahrnehmungs- Seite 4
und Reaktionsvermögen nicht so stark eingeschränkt, dass er den objektiven Sorgfaltsanforderungen nicht hätte gerecht werden können. IV. Ergebnis A hat sich wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. 229 StGB strafbar gemacht. Nach 230 Abs. 1 Satz 1 StGB ist ein Strafantrag erforderlich. C. 303 Abs. 1 StGB Das Anfahren eines anderen Fahrzeugs führt regelmäßig zu einer Beschädigung. Die Tatbestandsmäßigkeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Sache, wie hier, bereits vorher beschädigt worden war. Allenfalls dann, wenn die zusätzliche Beschädigung ganz unwesentlich ist, scheidet eine Sachbeschädigung aus. Das wird man bei einem Anfahren, das zu einer Verletzung eines Insassen führt, nicht annehmen können. A handelte auch zumindest bedingt vorsätzlich. Wiederum ist aber zu berücksichtigen, dass A sich irrig Tatsachen vorstellte, die bei ihrem Vorliegen seine Tat nach 32 StGB gerechtfertigt hätten. Dieser Umstand ist gleichermaßen so zu würdigen, dass A einem Erlaubnistatumstandsirrtum erlegen war, der nach 16 Abs. 1 Satz 1 StGB eine Strafbarkeit wegen (vorsätzlicher) Sachbeschädigung entfallen lässt. 16 Abs. 1 Satz 2 StGB kommt nicht zum Zuge, weil eine nur fahrlässige Sachbeschädigung nicht strafbar ist. 2. Teil Strafbarkeit des A durch das Weiterfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gem. 323 c StGB Ein Unglücksfall lag vor. A leistete keine Hilfe, obwohl diese nach dem maßgeblichen ex-ante-urteil eines verständigen Beobachters erforderlich und ihm auch objektiv zumutbar war. Vielmehr verschlimmerte A die Situation noch. Doch er handelte gem. 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ohne Vorsatz, weil er den Unglücksfall gar nicht als solchen erkannte, sondern von einer Inszenierung zum Zwecke eines Raubüberfalls ausging. Auch über 16 Abs. 1 Satz 2 StGB lässt sich keine strafrechtliche Verantwortung begründen, denn eine fahrlässig unterlassene Hilfeleistung ist nicht strafbar. Seite 5
3. Teil Gesamtergebnis A hat sich wegen fahrlässiger Körperverletzung gem. 229 StGB strafbar gemacht. Zum Nacharbeiten: BGHSt 3, 105 Kühl, Strafrecht AT, 5. Aufl. 2005, 13 Rn. 63 77 Seite 6