BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 1990, NStZ 1990, 537 1,1 Promille-Grenze
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- Julian Fiedler
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1 BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 1990, NStZ 1990, 537 1,1 Promille-Grenze (vgl. auch BGHSt 37, 89; BayObLG NJW 1990, 2833) Sachverhalt: Anton fährt nach Alkoholgenuss mit seinem Auto nach Hause. Seine Blutalkoholkonzentration (BAK) beträgt 1,2 Promille. Ohne dass ihm irgendwelche Fahrfehler unterlaufen, gerät er in eine Polizeikontrolle. Im Protokoll wird ausdrücklich festgestellt, dass der kontrollierende Polizeibeamte Paul keine verhaltensbedingten Auffälligkeiten bei Anton feststellen kann. Dennoch wird Anton von der Staatsanwaltschaft wegen Trunkenheit im Verkehr angeklagt. Kurz vor der mündlichen Verhandlung (aber nach Antons Tat) ergeht ein Grundsatz-Urteil des BGH, in welchem festgestellt wird, dass die Grenze der absoluten Fahruntauglichkeit auf Grund der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse nunmehr nicht mehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,3 Promille, sondern bereits bei einer solchen von 1,1 Promille unwiderlegbar vermutet wird. Kann Anton wegen einer Trunkenheit im Verkehr verurteilt werden? Thema: Strafrecht und Verfassungsrecht Rückwirkungsverbot Materialien: Arbeitsblatt Strafrecht AT 1, 2, 3
2 Lösungsübersicht: A. Strafbarkeit Antons gemäß 316 I StGB 1. Objektiver Tatbestand a) Führen eines Fahrzeugs (+) b) Im Verkehr (+) c) In fahruntauglichem Zustand Mangels Fahrfehler und verhaltensbedingter Auffälligkeiten kommt es darauf an, ob allein auf Grund des BAK-Wertes die Fahruntauglichkeit unwiderleglich vermutet werden kann. Der BGH nahm eine solche absolute Fahruntauglichkeit bis 1990 ab einem BAK-Wert von 1,3 Promille an. Im Jahre 1990 entschied er, dass der Wert auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse nunmehr 1,1 Promille betrage. Probleme: Zulässigkeit der Aufstellung solcher unwiderleglichen Vermutungen Zulässigkeit auch rückwirkender Geltung oder Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz BGH: Hier kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bei Änderung der Rechtsprechung (str.). 2. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz ( ) Täter muss nicht nur wissen, dass er Alkohol getrunken hat und wie viel, sondern er muss jedenfalls bedingten Vorsatz hinsichtlich seiner Fahruntauglichkeit haben. II. Ergebnis: 316 I StGB ( ) B. Strafbarkeit Antons gemäß 316 II StGB (+) 1. Führen eines Fahrzeugs in fahruntauglichem Zustand (+) 2. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung (+) 3. Objektive Voraussehbarkeit (+) II./III. Rechtswidrigkeit/Schuld (+) IV. Ergebnis: 316 II StGB (+)
3 Lösungsvorschlag: Strafbarkeit Antons gemäß 316 I StGB Anton könnte sich durch die Fahrt mit seinem PKW bei einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 1,2 Promille wegen Trunkenheit im Verkehr gemäß 316 I StGB strafbar gemacht haben. 1. Objektiver Tatbestand a) Anton hat ein Fahrzeug geführt. b) Er nahm auch am öffentlichen Straßenverkehr teil. c) Fraglich ist aber, ob er sich dabei in fahruntauglichem Zustand befand. aa) Es wird diesbezüglich grundsätzlich zwischen einer relativen und einer absoluten Fahruntauglichkeit unterschieden. Eine absolute Fahruntauglichkeit liegt vor, wenn die Blutalkoholkonzentration des Fahrzeugführers im Tatzeitpunkt einen bestimmten Wert erreicht hat, ab welchem die Fahruntauglichkeit unwiderleglich vermutet wird. Eine relative Fahruntauglichkeit kann gegeben sein, wenn der BAK-Wert unterhalb der Grenze der absoluten Fahruntauglichkeit liegt, dafür aber anhand konkreter Ausfallerscheinungen oder Fahrfehler im Einzelfall der Nachweis der Fahruntauglichkeit erbracht werden kann. Mangels eines Fahrfehlers und verhaltensbedingter Auffälligkeiten kommt es hier also darauf an, ob allein auf Grund des BAK-Wertes Antons Fahruntauglichkeit unwiderleglich vermutet werden kann. Der BGH nahm eine solche absolute Fahruntauglichkeit bis 1990 ab einem BAK-Wert von 1,3 Promille an. Im Jahre 1990 entschied er, dass der Wert auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse nunmehr 1,1 Promille betrage.
4 bb) Fraglich ist hierbei zunächst die Zulässigkeit der Aufstellung solcher unwiderleglichen Vermutungen. Dies erscheint zunächst für den Angeklagten als unbillig, da er keinen Nachweis erbringen darf, dass er trotz Überschreitens einer bestimmten Blutalkoholkonzentration dennoch fahrtauglich war. Die Entscheidung der Frage, ab welchem Grenzwert eine alkoholbedingte absolute Fahruntauglichkeit eines Kraftfahrers anzunehmen ist, lässt sich aber nur unter Heranziehung medizinisch-naturwissenschaftlicher Erkenntnisse treffen. Soweit diese in den maßgebenden Fachkreisen allgemein und zweifelsfrei als richtig anerkannt werden, sind sie für den Richter bindend. Insofern stellt der vom BGH aufgestellte Richtwert von (derzeit) 1,1 Promille lediglich ein antizipiertes allgemeines Sachverständigengutachten dar, welches auf Grund der hierin enthaltenen Toleranz-Abschläge zu keinem anderen für den Angeklagten ungünstigeres Ergebnis führen kann als ein vom Richter individuell eingeholten Sachverständigengutachten. cc) Ferner stellt sie hier die Frage, ob der Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch rückwirkende Geltung zukommt oder ob hierin ein Verstoß gegen den Vertrauensgrundsatz und das Rückwirkungsverbot, geregelt in Art. 103 GG und 1 StGB, zu sehen ist. Unter dem Rückwirkungsverbot versteht man, dass eine Strafvorschrift weder mit rückwirkender Kraft geschaffen werden, noch die Strafe mit rückwirkender Kraft verschärft werden darf. Es umfasst somit zwei Bereiche: das Ob und das Wie der Strafbarkeit. Für die Verletzung des Rückwirkungsverbotes spricht hier, dass eine ständige, formelhafte, gesetzesergänzende Rechtsprechung (wie eben diejenige zu den Grenzwerten der Fahruntauglichkeit) gleichermaßen wie ein Gesetz ein schutzwürdiges Vertrauen entstehen lässt. Gegen eine Verletzung des Rückwirkungsverbotes spricht aber, dass sich dieses vom Wortlaut her nur auf Gesetzesänderungen bezieht. Auch dient die Änderung der Rechtsprechung in diesem Zusammenhang nur als prozessuale Beweisregel. Das strafrechtliche Unrecht der Tat wird hierdurch nicht geändert.
5 Da das Verbot einer rückwirkenden Rechtsprechungsänderung die Rechtsentwicklung stagnieren ließe, ist daher das Rückwirkungsverbot nicht verletzt. Daher liegt hier nach zutreffender Auffassung kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot bei Änderung der Rechtssprechung vor. Anton führte daher in fahruntauglichem Zustand ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr. 2. Subjektiver Tatbestand Anton müsste ferner vorsätzlich hinsichtlich seiner Fahruntauglichkeit gehandelt haben. Dabei muss er nicht wissen, dass er Alkohol getrunken hat und wie viel, sondern er muss jedenfalls bedingten Vorsatz gerade hinsichtlich seiner Fahruntauglichkeit haben. Der Sachverhalt enthält hierzu keine Angaben. In dubio pro reo ist davon auszugehen, dass er sich noch für fahrtauglich hielt. II. Ergebnis: Mangels Vorsatzes scheidet eine Strafbarkeit gemäß 316 I StGB aus. B. Strafbarkeit des Anton gemäß 316 II StGB Anton könnte sich aber wegen einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr gemäß 316 II StGB strafbar gemacht haben. 1. Es wurde bereits erläutert, dass Anton ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr im Zustand absoluter Fahruntauglichkeit geführt hat. 2. Es ist auch davon auszugehen, dass er diese Fahruntauglichkeit sorgfaltswidrig nicht erkannt hat. Bei einer absoluten Fahruntauglichkeit ist anzunehmen, dass ein sorgfältiger Dritter die Wirkung des Alkohols hätte erkennen können, sofern er weiß, wie viel Alkohol er getrunken hat.
6 3. Es war in dieser Hinsicht auch objektiv voraussehbar, dass eine Fahrtauglichkeit nicht mehr gegeben war. II./III. Rechtswidrigkeit/Schuld Die Tat geschah ferner rechtswidrig und schuldhaft. IV. Ergebnis: Anton ist strafbar gemäß 316 II StGB.
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