Häusliche Gewalt Grundlagenpapier für Liechtenstein

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Transkript:

Häusliche Gewalt Grundlagenpapier für Liechtenstein A. Definition Häusliche Gewalt liegt vor, wenn Personen innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung physische, psychische oder sexuelle Gewalt ausüben oder androhen (Schwander 2003). Der Begriff der häuslichen Gewalt wird in Bezug auf die gewaltausübende Person geschlechtsneutral verwendet. Es sind damit sowohl Männer wie Frauen gemeint, die innerhalb einer bestehenden oder aufgelösten familiären, ehelichen oder eheähnlichen Beziehung Gewalt ausüben. Die Hauptmerkmale häuslicher Gewalt sind: Zwischen gewaltausübender Person und Opfer besteht eine emotionale Bindung. Auch mit einer Trennung/Scheidung ist diese Bindung oft noch nicht gelöst. Die Gewalt wird meist in der eigenen Wohnung ausgeübt, die eigentlich als Ort von Sicherheit und Geborgenheit verstanden wird. Häusliche Gewalt verletzt die körperliche und/oder psychische Integrität durch Ausübung oder Androhung von physischer, sexueller oder schwerer psychischer Gewalt. Die gewaltausübende Person nützt ein Machtgefälle in der Beziehung aus. Die Gewalt dient zur Aufrechterhaltung der Dominanz und Kontrolle über die andere Person. Das asymmetrische Machtverhältnis ist der Hauptunterschied für die Abgrenzung zwischen Streit und Gewaltbeziehung. Über das Auftreten von Gewalt in Paarbeziehungen entscheidet oft die Verteilung von Macht, Einfluss und Kontrolle zwischen den Partnern, sowie die Form der Kommunikation und ihre sozialen Kontakte. Empirische Studien haben gezeigt, dass die Rollenverteilung innerhalb einer Partnerschaft einen grossen Einfluss auf das Vorkommen von Gewalt hat. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Dominanz und Gewaltausübung. Gewalt widerspiegelt immer ein Kräfteungleichgewicht der involvierten Personen. Wenn Paare gleichberechtigt zusammenleben, ist die Gewaltgefährdung am geringsten. B. Formen Es werden zwei Arten von Gewalt unterschieden (Gloor/Meier 2003): Gewalt als spontanes Konfliktverhalten. Gewalt als systematisches Gewalt- und Kontrollverhalten. Beziehungen, in denen häufig bis regelmässig schwerere Gewalt ausgeübt wird, werden in der Fachdiskussion als Misshandlungsbeziehungen bezeichnet. In solchen Beziehungen dienen Gewalt oder Gewaltdrohungen dazu, die andere Person in eine schwächere Position zu versetzen und die eigene Machtposition zu erhalten oder auszubauen. Dabei werden verschiedene Arten von Gewalt eingesetzt physische, psychische, sexualisierte und ökonomische Gewalt. Oft sind es subtile Formen, die als einzelne Handlungen noch nicht als Gewalt zu erkennen sind. Mit der Dauer der Beziehung nimmt die Gewalt meist an Häufigkeit und Intensität zu. Es wird zwischen verschiedenen Gewaltformen unterschieden, die einzeln oder zusammen auftreten können (Bossart 2002): Opferhilfestelle Liechtenstein www.ohs.llv.li -1-

Psychische Gewalt umfasst sowohl schwere Drohung, Nötigung, Freiheitsberaubung, Auflauern nach einer Trennung (Stalking), als auch Formen, die für sich allein keine unmittelbare Bedrohung darstellen, die aber in ihrer Summe als Gewaltausübung bezeichnet werden müssen. Dazu gehören diskriminierende Gewalt wie Missachtung, Beleidigung, Demütigung, Erzeugen von Schuldgefühlen, Einschüchterung oder Beschimpfung. Benutzung der Kinder als Druckmittel. Sexuelle Gewalt umfasst jede nicht gebilligte, nicht gewünschte oder geduldete Sexualpraktik. Sie reicht vom unerwünschten Herstellen einer sexualisierten Atmosphäre über sexistisches Blossstellen bis hin zum Zwang sexueller Handlungen oder Vergewaltigungen. Physische Gewalt umfasst Schlagen mit und ohne Werkzeuge, Stossen, Schütteln, Beissen, Würgen, Fesseln, Gegenstände nachwerfen, tätliche Angriffe bis hin zu Tötungsdelikten. Soziale Gewalt umfasst Einschränkungen im sozialen Leben einer Person wie Bevormundung, Verbot oder strenge Kontrolle von Familien- und Aussenkontakten, Einsperren, Erschwernis einer Integration Ökonomische Gewalt umfasst Arbeitsverbote oder Zwang zur Arbeit, Beschlagnahmung des Lohnes, wie auch die alleinige Verfügungsmacht über finanzielle Ressourcen durch einen der Partner. Soziale und ökonomische Gewalt sind Ausformungen psychischer Gewalt und stellen Verhaltensweisen dar, die in ihrer Gesamtheit darauf abzielen, das Opfer zu kontrollieren und seinen freien Willen zu unterdrücken. C. Ausformulierungen der Gewalt 1. physische Gewalt Verprügeln Würgen Ohrfeigen Mit dem Tod bedrohen Gegenstand nachwerfen Fusstritt, Faustschlag geben oder beissen mit Gegenstand schlagen oder versuchen zu schlagen stossen, schütteln, packen mit Messer oder einer Schusswaffe bedrohen mit Messer zustossen oder mit Schusswaffe schiessen 2. psychische Gewalt Drohen jemanden zu schlagen oder einen Gegenstand anzuwerfen Beschimpfungen, Beleidigungen Demütigungen, Erniedrigungen Gegenstände werfen, zerschlagen oder dagegen treten jemanden daran hindern, aus dem Haus zu gehen oder einzusperren jemanden daran hindern, ins Haus zu kommen oder auszusperren jegliche Formen von Gewalt, welche unter den Tatbestand der Nötigung fallen Stalking, beharrliche Verfolgung, belästigen, überwachen Opferhilfestelle Liechtenstein www.ohs.llv.li -2-

Darin eingeschlossen sind sämtliche Formen von ökonomischer Gewalt im Sinne von Entziehung des Haushaltgeldes, Entziehung von Lebensgrundlagen (z.b. wenn eine Person ihre Kleidung nicht mehr selber einkaufen darf/kann) und Vernachlässigung (z.b. wenn ärztliche Versorgung unterlassen wird). 3. sexuelle Gewalt Alle sexuellen Handlungen, welche unter Einsatz von Drohungen oder Gewalt aufgezwungen werden. D. Betroffene Häusliche Gewalt wird häufig mit Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen gleichgesetzt. Der Begriff umfasst jedoch weit mehr. Es wird darunter verstanden: Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen und Trennungssituationen Gewalt gegen Männer in Paarbeziehungen und Trennungssituationen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Familie, direkt als Betroffene oder indirekt als Zeugen Gewalt gegen ältere Menschen im Familienverband Gewalt zwischen Geschwistern Das eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann konzentriert sich auch auf die Problematik der Gewalt gegen Frauen und Männer in Paarbeziehungen und Trennungssituationen. Auf der Website www.gleichstellung-schweiz.ch / häusliche Gewalt / Informationsblätter sind gezielte Informationsblätter zu dieser Gruppe von Betroffenen zu finden, zum Beispiel: häusliche Gewalt gegen Frauen und Männer, Infos und Unterstützungsangebote häusliche Gewalt im Migrationskontext Gewaltspirale in Paarbeziehungen Gewalt in Trennungssituationen Gewalt gegen Kinder und Jugendliche Stalking: bedroht, belästigt, verfolgt Unterstützungsangebote für gewaltbetroffene Frauen und Männer Zahlen zu häuslicher Gewalt in der Schweiz und International E. Folgen 1. Folgen für die Betroffenen auf Gesundheit und Persönlichkeit Die Folgen und Konsequenzen häuslicher Gewalt, insbesondere systematischen Gewalt- und Kontrollverhaltens, auf die körperliche und psychische Gesundheit ebenso im Hinblick auf die Alltagsbewältigung der Betroffenen sind schwerwiegend. Mag diese Tatsache für Fachleute, die im Bereich häuslicher Gewalt forschen oder praktisch arbeiten, nur allzu gut bekannt sein, so ist sie ausserhalb eines spezialisierten Fachkreises immer noch viel zu wenig diffundiert. Insbesondere wird die Reichweite und Bandbreite der Auswirkungen und Folgen häufig verkannt oder unterschätzt. Eine Studie der Maternité Inselhof Triemli in Zürich (Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann der Stadt Zürich 2004) hat die dramatischen gesundheitlichen Folgen für Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben, aufgezeigt. Häusliche Gewalt hinterlässt deutliche, unmittelbare körperliche und psychische sowie psychosomatische Spuren. Diese reichen je nach Intensität der Opferhilfestelle Liechtenstein www.ohs.llv.li -3-

erlittenen Gewalt von (schweren) Verletzungen, über Schmerzen am ganzen Körper, Atemprobleme, Gleichgewichtsstörungen, Übelkeit oder Erbrechen, Verdauungsbeschwerden bis hin zu Essstörungen. Sehr häufig kommt es zu Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit, Nervosität und Angstgefühlen bis hin zu Panikattacken und Depressionen. Weiter kann es auch zu Alkohol- oder Drogenmissbrauch und zur Suizidalität kommen. Frauen mit Gewalterlebnissen haben signifikant mehr gesundheitliche Beschwerden als nicht betroffene Frauen. Zu den gesundheitlichen Auswirkungen kommen sehr häufig soziale Probleme wie Stigmatisierung und als Folge soziale Isolation. Opfer häuslicher Gewalt schämen sich für die erlebte Gewalt und sind von der immer noch herrschenden Tabuisierung des Themas betroffen. Viele haben nicht den Mut über ihre Erfahrungen zu sprechen oder Hilfe zu suchen. Sie ziehen sich immer mehr von ihrem Umfeld zurück. Besonders Frauen, die sich von ihren gewalttätigen Partnern trennen, sind häufig von finanziellen Schwierigkeiten betroffen. Die immer noch vorhandene strukturelle Ungleichbehandlung von Frauen im Erwerbsleben führt oft dazu, dass sie nach einer Trennung oder Scheidung finanziell nicht unabhängig sind und Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen. 2. Verhalten der Opfer bei häuslicher Gewalt Betroffene von häuslicher Gewalt unterscheiden sich in ihrem Verhalten von Personen, die Opfer einer ihnen fremden, nicht nahestehenden Person wurden. Das Verhalten von Opfern durch Fremdtatpersonen dient den Amtsstellen, Institutionen und Fachpersonen, die sich mit häuslicher Gewalt nicht auskennen, häufig als allgemeiner Massstab und wird fälschlicherweise auch auf Opfer häuslicher Gewalt angewendet. Dementsprechend beurteilen Behörden und Institutionen das Verhalten von Betroffenen häuslicher Gewalt oft als inkonsequent oder nicht nachvollziehbar. Es ist notwendig, dass Fachleute und beurteilende Stellen mit Kontakt zu Gewaltbetroffenen zum Thema häusliche Gewalt weitergebildet werden, damit die grundlegenden Zusammenhänge verstanden und das Verhalten der Betroffenen richtig interpretiert werden kann. Oft werden psychische Beeinträchtigungen und (psycho-)somatische Folgen, chronische Gesundheitsprobleme, ebenso gesundheitsgefährdende (Überlebens-)Strategien wie z.b. Medikamenten- oder Suchtmittelmissbrauch zu wenig als Folgen von Gewalterfahrungen erkannt und beachtet. Ausdrücklich hervorzuheben sind Feststellungen von Untersuchungen, dass die Belastungen und gesundheitlichen Auswirkungen für Betroffene im Falle psychischer Gewalt und Kontrolle oft schwerwiegender sein können als bei physischer Gewalt. Sind Folgen und Auswirkungen von Gewalt in Paarbeziehungen im Fokus, so ist es zwingend notwendig und wichtig, auch auf die Folgen der Kinder hinzuweisen. Kinder erleben häusliche Gewalt direkt oder indirekt mit. Ausländische Frauen haben noch zusätzlich Probleme hinsichtlich ihres Aufenthaltsstatus zu befürchten, da sie aufenthaltsrechtlich von ihrem Ehemann abhängig sind. Zwar hat die Neuerung des Ausländerrechts insofern eine Verbesserung gebracht, als die Betroffenheit von häuslicher Gewalt bei der Beurteilung der Verlängerung bzw. Gewährung des Aufenthaltsrechts berücksichtigt werden kann. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ausländische Frauen ein Recht auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht unabhängig von ihrem gewalttätigen Mann haben. Sie müssen so lange in Unsicherheit leben, bis sie eine positive Entscheidung bezüglich ihres Aufenthaltsstatus erhalten. Diese Unsicherheit ist für viele Frauen ein Grund bei ihrem gewalttätigen Ehemann zu bleiben, da sie grosse Angst haben das Land verlassen zu müssen. Opferhilfestelle Liechtenstein www.ohs.llv.li -4-

F. Anforderungen an Beratungs- und Interventionsstellen Für die Beratung und Intervention sind Kenntnisse über die Gewaltdynamik in Paarbeziehungen, die Kenntnis der unterschiedlichen Opfer- und Täter/-innentypologien und das Wissen um Risikofaktoren unabdingbar. Gewalt in Paarbeziehungen kann mit der Zeit häufiger und intensiver werden, daher ist frühzeitige Hilfe und Intervention notwendig. Vor allem auch im Hinblick auf die Folgeschäden für Kinder ist es angezeigt, Gewalt in Familien rechtzeitig zu erkennen und unterstützend einzugreifen. Die Reaktionen des sozialen und institutionellen Umfeldes spielen eine wichtige Rolle bei der Beendigung der Gewalt und bei der Verarbeitung der Folgeschäden. Diese Reaktionen werden stark beeinflusst von der gesellschaftlichen Bewertung der Gewalt ob diese toleriert oder als Straftat betrachtet wird. Berücksichtigt werden sollte insbesondere: Die Barrieren für die Inanspruchnahme von Hilfe bei Gewalt in Paarbeziehungen sind vielfältig und reichen von Scham- und Schuldgefühlen über die Angst vor weiterem gewalttätigem Handeln bis zu Angst vor der Zunahme der Gewaltintensität oder Todesangst. Daher ist alleine die Tatsache, dass Betroffene Kontakt zu einer spezialisierten Fachstelle aufnehmen ein aussagekräftiger Faktor hinsichtlich der Unerträglichkeit und Ausweglosigkeit der Situation Beratungsstellen und andere unterstützende Institutionen müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass die Inanspruchnahme ihrer Dienstleistungen von den betroffenen Personen die Kenntnis der bestehenden Unterstützungsmöglichkeiten voraussetzt. Für viele Betroffene ist das Sich-nicht-auskennen im institutionellen Netz eine nicht zu unterschätzende Hürde. Dies betrifft häufig Migrantinnen und Migranten. Verstärkt werden kann diese Hürde durch eine allgemeine Zurückhaltung oder fehlendes Vertrauen im Umgang mit Behörden, dies kann vor allem für den Kontakt zur Polizei gelten. Eine einzelne schwere Gewalthandlung ist meist nicht ein Einzelereignis, sondern Hinweis auf fortgesetzte Gewalt in Paarbeziehungen. In der Regel steht diese in einem Misshandlungskontext mit zusätzlicher schwerer psychischer und oft auch sexueller Gewalt. Daher ist von den beteiligten Fachpersonen in diesen Fällen der Gesamtzusammenhang der systematischen und fortgesetzten Gewalt unbedingt zu berücksichtigen. Um gewaltbelastete Beziehungen zu beenden, ist ein längerer Prozess nötig. Rückschritte und ambivalentes Verhalten von Gewaltopfern sind normal. Dies ist nicht als Versagen von Intervention und Beratung zu werten. Keinesfalls soll den Opfern die Unterstützung entzogen werden. Wichtig sind verlässliche Begleitung und wiederholte Interventionen, welche die Betroffenen darin unterstützen, ihre Selbstachtung und Entscheidungsfähigkeit wiederzugewinnen. Dazu gehören auch klare Stellungnahmen gegen Gewalt und das Zuweisen der Verantwortung an die gewaltausübende Person. Die spezifische Gewaltdynamik in erwachsenen Paarbeziehungen sowie deren Auswirkungen auf die psychische Situation des Opfers können dazu führen, dass dessen Bindung an die gewaltausübende Person durch die Gewaltsituation noch verstärkt wird: Die Tatperson verkörpert die Bedrohung und ist gleichzeitig jene oder gar die einzige Person, von dem das eigene Überleben abhängt. Oft ist ein Ausstieg aus der Beziehung erst möglich, wenn sich das Opfer emotional von der gewaltausübenden Person lösen kann. Die Trennung vom gewalttätigen Gegenüber darf deshalb nicht als einzige Lösung in Betracht gezogen werden. Ebenso wichtig ist das Ziel, mehr Schutz und Sicherheit innerhalb einer fortgesetzten Beziehung zu erlangen. Ambivalente Opfer tendieren häufig dazu, ihre in der Beziehung erlebte Abhängigkeit und die dabei gemachten guten und schlechten Erfahrungen auf Mitarbeiter/-innen der Bera- Opferhilfestelle Liechtenstein www.ohs.llv.li -5-

tungsstellen oder auf andere Fachpersonen zu übertragen. Je länger in der gewalttätigen Beziehung negative Erfahrungen gemacht wurden, desto grösser ist die Gefahr, dass die betroffenen Personen Schwierigkeiten damit haben, Beziehungen zu anderen Menschen als positiv und hilfreich zu erleben. Fachpersonen in Beratung, Intervention und anderen beurteilenden Stellen, die im Berufsalltag mit von häuslicher Gewalt betroffenen Personen konfrontiert werden, sollten zum Thema häusliche Gewalt kontinuierlich weitergebildet werden. Dies ist notwendig, um die Mechanismen in Gewaltbeziehungen zu er-kennen und so das Verhalten der Betroffenen richtig interpretieren zu können. (Aus Gewaltspirale, Täter/ innen- und Opfertypologien: Konsequenzen für Beratung und Intervention) Weitere Ausführungen finden Sie in den Informationsblättern Häusliche Gewalt des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Mann und Frau EBG unter www.gleichstellung-schweiz.ch Definition, Formen und Folgen häuslicher Gewalt Ursachen und Risikofaktoren von Gewalt in Paarbeziehungen Gewaltspirale, Täter/-innen- und Opfertypologien: Konsequenzen für Beratung und Intervention Das Grundlagenpapier wurde von der Opferhilfestelle in Zusammenarbeit mit Frauenhaus, Infra, Ausländer- und Passamt sowie der Stabsstelle für Chancengleichheit 2013 verfasst. Quellen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann der Stadt Zürich und Maternité Inselhof Triemli Zürich (Hrsg.). 2004. Frauen, Gesundheit und Gewalt im sozialen Nahraum Repräsentativbefragung bei Patientinnen der Maternité Inselhof Triemli. Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie. Bern. Gloor Daniela, Meier Hanna. 2012. Beurteilung des Schweregrades häuslicher Gewalt, Sozialwissenschaftlicher Grundlagenbericht (Im Auftrag des Eidg. Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann EBG, Bern Schwander Marianne. 2003. Interventionsprojekte gegen häusliche Gewalt: Neue Erkenntnisse neue Instrumente. In: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, Band 121, Heft 2. Bern. Opferhilfestelle Liechtenstein www.ohs.llv.li -6-

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