Häusliche Gewalt im Migrationskontext: Ausmass und mögliche Ursachen

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Transkript:

Häusliche Gewalt im Migrationskontext: Ausmass und mögliche Ursachen 1. Tagung des Walliser Netzwerks gegen häusliche Gewalt 3. April 2014 Luzia Siegrist, Fachbereich Häusliche Gewalt FHG Inhalt Ausmass: statistische Zahlen Ursachen und Risikofaktoren häuslicher Gewalt Mögliche Ursachen der höheren Belastungsraten Aufenthaltsrechtliche Problematik: Intensitätsbegriff Massnahmen EBG 2 1

Ausmass häuslicher Gewalt in der Schweiz Polizeiliche Kriminalstatistik PKS 2013: - 16 496 Straftaten im Bereich häusliche Gewalt (41% der für den häuslichen Bereich relevanten Straftaten). - 24 vollendete Tötungsdelikte. - 49,2% bestehende, 26,8% ehemalige Paarbeziehung. Polizeiliche Kriminalstatistik VS 2013: - 715 Straftaten im Bereich häusliche Gewalt - 243 polizeiliche Interventionen BFS-Übersichtspublikation häusliche Gewalt: - 2009 2011 Zunahme schwerer Fälle häuslicher Gewalt, aber gesamthaft Rückgang von 7,3%. - Frauen 3,1-mal häufiger Opfer als Männer (2011). - Männer 4,1-mal häufiger Tatperson als Frauen (2011). Div. Kantonale Statistiken: - In 50-60% der Polizeiinterventionen waren Kinder involviert. 3 Ausmass häuslicher Gewalt in der Schweiz ausländische Staatsangehörige Ausländische Staatszugehörigkeit = kein Schweizer Pass BFS-Übersichtspublikation häusliche Gewalt: - Weibliche Opfer: 4,2-mal mehr Ausländerinnen. - Männliche Tatpersonen: 3,5-mal mehr Ausländer. Kantonale Statistiken: - VS 2012, PKS: Beschuldigte 51,8% ausl. Staatsangehörige - BS 2012, Monitoringbericht Häusliche Gewalt: 54% der gewaltbetroffenen und 59% der gewaltausübenden Personen waren ausländische Staatsangehörige. - ZH 2012, Evaluation Gewaltschutzgesetz: 57,2% der Gefährder und 48,6% der Gefährderinnen waren ausländische Staatsangehörige. Prävalenzstudien (Dunkelfeld): Keine Überrepräsentation von Ausländerinnen als Opfer. 4 2

Ursachen und Risikofaktoren häusliche Gewalt 5 Mögliche Ursachen der höheren Belastungsraten Folgende Risikofaktoren können bei ausländischen Staatsangehörigen gehäuft auftreten: Individuelle Faktoren: häufiger jung und verheiratet; Tatpersonen häufiger jünger (Einfluss auf finanzielle und soziale Situation). Sozioökonomische Probleme: schwierige Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, ungünstige Wohnverhältnisse. Anpassungsstress und Übergangssituationen: gewaltbegünstigend (Migration, Integration, sozialer Status, Rollenverständnis). Gewalterfahrung vor der Migration: Herkunft aus Konfliktgebieten; je nach Land und Region unterschiedliche Häufigkeit häusliche Gewalt; Gewalterfahrungen während Kindheit. 6 3

Gewaltbejahendes Umfeld: Gewalttoleranz Herkunftsgesellschaft; Rollenbilder und Stereotypen (überlegene Männlichkeit, Ernährerrolle) Unzureichende Inanspruchnahme Hilfeleistungen: erschwerte Zugänglichkeit für Migrant/-innen (z.b. Sprache, Kosten, Zeit, Informationszugang, fehlendes Vertrauen in Behörden, fehlendes soziales Netz) frühzeitige Durchbrechung Konflikt- und Gewaltspirale dadurch erschwert. Ungleichheit der Geschlechter: Lohnungleichheit hat verstärkte Auswirkungen auf Migrantinnen im Niedriglohnsektor (finanzielle Abhängigkeit, Lösung aus Gewaltbeziehung erschwert); Rollenverständnis der Geschlechter. Kultur: Gewalttoleranz, Rollenbilder, Idealvorstellungen Familie und Geschlechter, gesellschaftliche Codes, Religion,. Bei fremdsprachigen Migrant/-innen kumulieren sich vermehrt Faktoren, die generell zu einem erhöhten Konfliktund Gewaltrisiko beitragen. 7 Aufenthaltsrechtliche Problematik: Intensitätsbegriff BGE 2C_554/2009, E. 2.1: Wird eheliche Gewalt geltend gemacht, ist jedoch erforderlich, dass diese einen gewissen Schweregrad aufweist (vgl. zur Publikation bestimmtes Urteil 2C_460/2009 vom 4. November E. 5.3). Dies ist der Fall, wenn die im Familiennachzug zugelassene Person durch das Zusammenleben in ihrer Persönlichkeit ernstlich gefährdet ist und ihr eine Fortführung der ehelichen Beziehung nicht länger zugemutet werden kann. Problematik gemäss dem von Social Insight erstellten sozialwissenschaftlichen Grundlagenbericht Beurteilung des Schweregrades häuslicher Gewalt : Unterscheidung in Fälle mit genügend und zu wenig Gewalt zur Erlangung eines unabhängigen Aufenthaltsstatus (ethisch bedenklich). 8 4

Hinweis auf staatliche Sorgfaltspflicht (Due Diligence), Einzelne gegen Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Für eine Beurteilung müssen Verhaltensmuster der Tatperson sowie Gewalterfahrung der betroffenen Person einbezogen werden, und nicht die Intensität der Gewalt. Differenzierung Häusliche Gewalt in systematisches Gewaltund Kontrollverhalten und situativ übergriffiges Konfliktverhalten. Verhalten Betroffener verlangt sachgerechte Beurteilung. Bisher nur BGE zu Fällen mit situativ übergriffigem Konfliktverhalten. Fälle mit systematischem Gewalt- und Kontrollverhalten sind immer persönlichkeitsgefährdend. Fazit: Intensität ist unzulängliches Kriterium. Beurteilung der Fälle durch Fachpersonen. 9 Massnahmen EBG Weiterbildungen Fachpersonen Migration Workshops zu Art. 50 Abs. 2 AuG im Juni 2013 Bundesprogramm gegen Zwangsheirat Thematische Informationsblätter Studien: Forschungsbedarf, Kostenstudie Gewalt in Paarbeziehungen Gutachten Social Insight: Beurteilung des Schweregrades häuslicher Gewalt Koordination auf Bundesebene: Interdepartementale Arbeitsgruppe Häusliche Gewalt IAHG Nationale Konferenz am 20.11.2014: Häusliche Gewalt und Gesundheit 10 5