Zum Sportverständnis von Jugendlichen. Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen?

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Transkript:

287 Zum Sportverständnis von Jugendlichen. Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen? Ulrike Burrmann (Projektleiterin), Jürgen Baur (Projektleiter), Silvester Stahl & Sandra Polchow Universität Potsdam Institut für Sportwissenschaft, AB Sportsoziologie/Sportanthropologie 1 Problemlage und Zielstellung Obwohl sich heutzutage die allermeisten Kinder und Jugendlichen in erheblichem Umfang und dies wahrscheinlich mehr als zu früheren Zeiten am Sport beteiligen, lassen sich zugleich Defizite in deren (sport)motorischen Leistungsfähigkeiten registrieren, die offenbar heutzutage deutlicher in Erscheinung treten als bei früheren nachwachsenden Generationen. Bei der Suche nach einer plausiblen Auflösung dieses Widerspruchs sind Überlegungen in Betracht zu ziehen, die in der bisherigen Diskussion zwischen den Vertretern der Versportlichungsthese auf der einen und der Bewegungsmangel-These auf der anderen Seite nur selten aufgenommen wurden. Sie lassen sich so skizzieren: Im Zuge der Expansion und Pluralisierung des Sports dürften sich das Sportverständnis und in Zusammenhang damit auch die Sportengagements von Heranwachsenden gewandelt haben. Während früher wahrscheinlich das Sportkonzept eines relativ strikt definierten wettkampforientierten Sportarten-Sports dominierte, hat sich dieses Sportverständnis in neuerer Zeit ausdifferenziert, wobei es erweitert wurde durch Sportkonzepte, welche die vielfältigen Formen des nicht wettkampfgebundenen Sports, eines Alltags- oder Freizeitsports, eines nicht-sportlichen Sports einschließen (Dietrich, Heinemann & Schubert, 1990; zur Ausdifferenzierung des Sports und den daraus abgeleiteten Sportmodellen vgl. u. a. auch Heinemann, 1989, 1998; Digel, 1990). Dabei handelt es sich möglicherweise um Sportkonzepte und damit verkoppelte Sportengagements, welche die (sport)motorischen Leistungsfähigkeiten weniger beanspruchen und deren Entwicklung weniger förderlich sind als der tradierte wettkampforientierte Sportarten-Sport. Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit dem subjektiven Sportverständnis der Jugendlichen. Es wird angenommen, dass sich das subjektive Sportverständnis und die daraus resultierenden Sportengagements der Jugendlichen gewandelt und ausdifferenziert haben. Da in den vorliegenden Jugendsportsurveys die möglichen subjektiven Varianten des Sportver-

288 Zum Sportverständnis von Jugendlichen ständnisses der Jugendlichen nicht erfasst werden, sondern ein einheitliches Sportverständnis zugrunde gelegt wird (das wahrscheinlich dem eigenen und vielleicht konservativen Sportverständnis der jeweiligen Forschergruppe entspringt), bleibt unklar, inwiefern die darauf basierenden Daten zur Sportbeteiligung und zu den verschiedenen Varianten der Sportengagements der Heranwachsenden die Sicht der Jugendlichen tatsächlich abbilden und realitätsbezogene Interpretationen des Sportinvolvements der Jugendlichen überhaupt zulassen. Weiterreichend: Möglicherweise wird anhand der so erhobenen Daten in den Untersuchungen eine Sportwirklichkeit konstruiert, die von jener Sportwirklichkeit abweicht, wie sie durch die Sportbeteiligung und die Sportengagements der Jugendlichen hergestellt wird. Es liegt deshalb in einem weiterführenden Erkenntnisinteresse, (1) dem subjektiven Sportverständnis und (2) der vermuteten Ausdifferenzierung der subjektiven Sportkonzepte der Heranwachsenden detaillierter nachzugehen, um (3) die Zusammenhänge zwischen Sportverständnis und Sportkonzepten einerseits und konkreten, praktischen Varianten der Sportbeteiligung der Jugendlichen andererseits zu eruieren. Erst dann kann präziser gefasst werden, was Jugendliche meinen, wenn sie auf verschiedene Formen von Sportengagements, auf breiten- und wettkampfsportliche Auslegungen des Sports, auf den vereinsorganisierten Sport und seine Alternativen verweisen. Und erst auf dieser Basis lassen sich wiederum Items entwickeln oder revidieren, die in (quantitativ angelegten) Jugendsportsurveys validere Befunde zur Sportbeteiligung und zu den verschiedenen Formen von Sportengagements zu liefern versprechen. 2 Methode Ein schriftlicher Kurzfragebogen, der ausgewählte Sport-Indikatoren aus neueren Jugendsporterhebungen enthielt, wurde von etwa 250 brandenburgischen Schülerinnen und Schülern der zwölften Klassenstufe bearbeitet. Beispielsweise wurde nach der Häufigkeit des Sporttreibens, nach der Mitgliedschaft im Sportverein, nach der Teilnahme am Wettkampfsport oder nach den ausgeübten Sportarten in den verschiedenen Sportkontexten gefragt. Mit 50 Jugendlichen wurde anschließend ein Interview durchgeführt. Aus der Vielzahl von Interviewmethoden wurde das Konstrukt-Interview ausgewählt. Diese Interviewtechnik wurde entwickelt, um die subjektiven Konstruktionen der Wirklichkeit eines Gesprächspartners zu einem bestimmten Themenbereich (Friebertshäuser, 1997, S. 384) zu erfassen. Ein Interview-Leitfaden mit Leitfragen und entsprechenden Nachfragekategorien zum Abklären wichtiger Begriffe bildet die Grundlage dieser Interviewtechnik. Begonnen wird mit dem freien Assoziieren. Der Gesprächspartner nennt alle Assoziationen, die ihm zum Thema (z. B. Sport, Vereinssport, Wettkampfsport) einfallen. Diese

Zum Sportverständnis von Jugendlichen 289 werden im Verlauf des Gesprächs präzisiert, in dem nachgefragt, fokussiert, mit anderen Begriffen verglichen wird. Da es sich bei der Studie um eine theoriegeleitete Untersuchung handelt, konnte die Interview-Stichprobe bereits vor Beginn der Untersuchung systematisch festgelegt werden. Die Rekrutierung erfolgte hinsichtlich folgender Differenzierungskriterien: Geschlecht, Beteiligung am Vereinssport vs. am nicht vereinsgebundenen Sport vs. keine Sportteilnahme, Teilnahme am Wettkampfsport vs. am nicht wettkampfgebundenen Sport. Zusätzlich wurden Schülerinnen und Schüler aus sportbetonten Schulen interviewt. Für jede Gruppe waren vier Jungen und vier Mädchen avisiert. Dies konnte nicht immer realisiert werden (vgl. Tabelle 1; Stahl, 2006). Tab. 1: Stichprobe (überwiegend) Vereinssportler Breitensporsport Wettkampf- Thomas Thorsten Jan Phillip Daniela Fabian Elke Caspar Peggy Alexander Sabine Gina Birgit Anke Sportaktive in alternativen Sportkontexten Breitensporsport Wettkampf- Mark Simon Matthias Lothar Michael Beate Boris Conny Daniel Julia Heike Christina Fiona Betty Silke Nicht- oder Gelegenheitssportler Tobias Kai Patrick Melanie Ina Tamara Anna Katja Schüler aus sportbetonten Schulen Peter Tim Sebastian Max Nadine Maja Lena Jana Die Ergebnisse in den Kapiteln 4 und 5 beziehen sich auf die Auswertung der Interviews. Das transkribierte Material wurde mittels Textanalysesystem MAXqda nach Themen und Einzelaspekten geordnet und thematisch zusammengefasst. Im Kapitel 5 erfolgt exemplarisch ein Abgleich von Interviewaussagen mit den schriftlichen Angaben im Fragebogen. Ziel dieser Analysen war es, ggf. Itemrevisonen oder Itementwicklungen vornehmen zu können.

290 Zum Sportverständnis von Jugendlichen 3 Sport für harte Jungs und softe Mädchen Geschlechtertypisierungen im Sport? Als gesprächsstrukturierende Fragen wurden u. a. folgende in das Interview eingespielt: Gibt es eigentlich Unterschiede, wenn Jungen und Mädchen Sport treiben? Gibt es eigentlich Unterschiede, wie Jungen und wie Mädchen Sport machen? Auf der Grundlage der verschriftet vorliegenden Interview-Texte und nach mehrmaliger Textlektüre wurden die Antworten der jugendlichen Interviewpartner so kategorisiert, dass alle Aussagen sinnvoll zugeordnet werden konnten. In der vorgenommenen Kategorisierung (vgl. dazu auch Schmidt, 1997) sind also alle jene Aspekte erfasst und benannt, die von den Jugendlichen im Zusammenhang mit der Frage nach den geschlechtertypischen Auslegungen des Sports selbst thematisiert wurden. Ausgewertet wurden die Aussagen von vereinsorganisierten Wettkampfsportler/-innen, informell sporttreibenden Breitensportler/-innen, Schüler/-innen aus sportbetonten Schulen sowie Nicht- oder Gelegenheitssportler/-innen (N = 34). Als Ergebnis lässt sich festhalten (vgl. Baur, 2006): (1) Von den interviewten Jugendlichen werden Geschlechterdifferenzen im Sport fast durchweg thematisiert; nur drei der 34 Befragten leugnen derartige Differenzen konsequent. Die Beschreibungen der Jugendlichen folgen dabei den geläufigen Geschlechtertypisierungen im Sport, die sich kurz und bündig so kontrastieren lassen: Der männliche Sport ist ein kraftbetonter und mit hohem Körpereinsatz betriebener Sport, der auf Demonstration sportlicher Leistungsfähigkeit und Leistungsverbesserung abzielt und deshalb oft auch als Wettkampfsport ausgelegt wird. Dagegen steht der weibliche Sport, der gemäßigt betrieben wird, der weniger auf das Erreichen hoher und höchster Leistungsziele hin ausgerichtet, sondern eher gesundheitsund fitnessorientiert angelegt ist. Unterm Strich: Die Jungen werden in vielen Fällen als sportlicher und das heißt: als sportlich leistungsfähiger wahrgenommen als die Mädchen. Noch genauer zu eruieren bleibt, ob die Wahrnehmung und der Gebrauch des Körpers beim Sporttreiben und die dahinter liegende Zweck-Mittel-Relation in der Weise geschlechtertypisch variieren, wie es einige Interviewpassagen vermuten lassen. Danach würden die Jungen ihren Körper vornehmlich als Mittel zur Leistungsverbesserung im Sport einsetzen, während die Mädchen umgekehrt vorrangig den Sport als Mittel nutzen wollen, um ihren Körper in Form zu halten oder in Form zu bringen. (2) Jene Charakterisierung des männlichen und weiblichen Sports, wie sie von den befragten Jugendlichen gegeben wird und den geläufigen sozialen Typisierungen entspricht, wird nun aber von den Interviewpartnern ebenfalls fast durchgängig mit einem doppelten Vorbehalt versehen:

Zum Sportverständnis von Jugendlichen 291 Zum einen werden die Geschlechterdifferenzen von den meisten der befragten Jugendlichen heruntergespielt und als geringfügig ausgewiesen mit dem Hinweis: Letztlich kann doch jeder und jede den Sport betreiben, den er oder sie ausüben will; und eigentlich kann doch jede und jeder den Sport so betreiben, wie sie oder er es für sich selbst als angemessen betrachtet. Unter dieses Motto wird auch der andere Vorbehalt gestellt, mit dem auf die Differenz zwischen sozialer Geschlechtertypisierung und persönlicher Meinung abgehoben wird: Zwar verweisen die Jugendlichen auf die skizzierten sozial verbreiteten Geschlechtertypisierungen, die sie jedoch für sich selber nur unter den oben genannten Einschränkungen gelten lassen wollen: Eigentlich sind jene Differenzen zu vernachlässigen.... Auch in diesem Fall empfiehlt es sich, in künftigen Untersuchungen detaillierter auf jene Differenz zwischen öffentlicher (bzw. wahrgenommener öffentlicher) und persönlicher Meinung einzugehen. (3) In die Geschlechtertypisierung einbezogen werden diejenigen Sportarten, in denen die Merkmale eines männlich bzw. weiblich definierten Sports (vermeintlich) gut zu erkennen sind: die kraftbetonten und mit hohem Körpereinsatz betriebenen Sportarten wie z. B. Boxen, Ringen, Gewichtheben, Bodybuilding, andere Kraftsportarten oder -disziplinen oder Eishockey, Fußball, Handball, Wasserball werden als typisch männliche Sportarten, die eher gemäßigten und ästhetischen Sportarten wie Gymnastik, Ballett, Tanzen, Reiten gelten als typisch weibliche Sportarten. Aber die Zuordnung der befragten Jugendlichen ist nur dort konsensfähig, wo die erwähnten Merkmale eines weiblichen bzw. männlichen Sports deutlich in Erscheinung treten. Das heißt zugleich, dass eine Vielzahl von Sportarten und Sportdisziplinen, bei denen dies nicht der Fall ist, als geschlechtsneutral wahrgenommen werden. (4) Die Sicht der Mädchen und die Sicht der Jungen auf Geschlechterdifferenzen im Sport weichen nicht nennenswert voneinander ab. Vielleicht werden solche Geschlechterdifferenzen von den Mädchen sogar noch vorbehaltloser angesprochen als von den Jungen, obwohl der Vergleich der sportlichen Leistungsfähigkeiten und der Engagements im Sport durchweg sozusagen zu ihrem eigenen Nachteil ausfällt. Damit mag zusammenhängen, dass die Jungen jene Geschlechterdifferenzen im Sport eher zögerlich und mit Vorbehalten ansprechen, um womöglich zu vermeiden, dass sich ihre Äußerungen dem Verdacht der Diskriminierung aussetzen. Stehen die Äußerungen der Jungen womöglich unter dem Druck einer besonderen political correctness, oder sollten Vorstellungen von Gleichstellung im Sport bei den Jungen tatsächlich schon weiter entwickelt sein als bei den Mädchen? (5) Ein letzter Verweis sei angefügt: Die hier vorgetragenen qualitativen Befunde stimmen sehr gut überein mit den Ergebnissen der vorliegenden Studien und der neueren Jugendsport-Surveys, in denen derartige Geschlechterdifferenzen in den Sportengagements und in den zugrunde liegenden sportbezogenen Kompetenzen und Orientierungen ebenfalls durchweg registriert wurden (u. a. Baur, Burrmann & Krysmanski, 2002; Berndt & Menze, 1996; Hartmann-Tews, 2003). Geschlechterdifferenzen im

292 Zum Sportverständnis von Jugendlichen Sport bestehen offenbar nach wie vor, und die befragten Jugendlichen beschreiben detailliert, wie sie deren Ausprägung wahrnehmen und bewerten. 4 Die Sicht der Jugendlichen auf den Vereinssport Auf der Grundlage der Assoziationsanalyse und der Interviewfragen zum Vereinssport wurden die subjektiven Vorstellungen rekonstruiert, die mit dem Vereinssport verknüpft werden. Um Unterschiede in den Sichtweisen der Jugendlichen noch schärfer herauspräparieren zu können, wurde zum einen zwischen einer Innen- und Außenperspektive, zum anderen zwischen wettkampfsportlicher und breitensportlicher Auslegung des Sports unterschieden. Der Einfachheit halber wird im Folgenden nur die männliche Sprachform verwendet, obwohl beide Geschlechter gemeint sind. Resümierend lässt sich festhalten: (1) Das Bild vom Sportverein fällt bei den Vereinssportlern erwartungsgemäß positiver aus als bei den Nichtmitgliedern. (2) Die Vereinssportler schätzen v. a. die Regelmäßigkeit des Sporttreibens, die sozialen Kontakte, den Ansporn durch andere Mitglieder und die Anleitung durch den Trainer. Insbesondere die Wettkampfsportler trainieren zielgerichtet auf die Teilnahme an Wettkämpfen hin und streben eine Leistungsoptimierung an. Folglich empfinden sie den Verein mit seinem methodisch-systematischen, regelgeleiteten, angeleiteten und konsequenten Training als idealen Ort für ihre Leistungsentwicklung. Sie gehen häufig auch dann zwei- bis dreimal wöchentlich zum Training, wenn sie keine Lust haben, weil sie von ihren Trainern angetrieben werden oder weil sie an die nächsten Wettkämpfe oder an ihren sportlichen Erfolg denken. (3) Auch wenn die vereinsorganisierten Breitensportler den Sinn ihrer sportlichen Aktivitäten nicht vordergründig in der Leistungsverbesserung sehen, sondern im Spaß haben oder im Knüpfen von sozialen Kontakten, akzeptieren sie die mit dem Vereinssport einhergehenden Verpflichtungen und Vorschriften, die jedoch offenbar nicht so starr sind wie bei den wettkampfsportlichen Angeboten. (4) Im Gegensatz zu den Vereinssportlern lehnen die Sportaktiven aus den alternativen Kontexten insbesondere die vielen ehemaligen Vereinssportler die mit dem Vereinssport verbundenen Verpflichtungen ab. Mit Ausnahme von zwei Interviewten geben die Nichtmitglieder an, dass sie sich nicht vorschreiben lassen wollen, wann, was und wie sie ihre Freizeit gestalten. Stattdessen wollen sie ihre sportlichen Aktivitäten selbst bestimmen und organisieren können. Die Unabhängigkeit und Freiheit ihrer Entscheidungen sehen sie in den Vereinen nicht berücksichtigt. Sie genießen das lockere, informelle Sporttreiben, wobei sportliche Leistungen und Erfolge eher nebensächlich sind. Stattdessen stehen das Unterhalten und Erzählen sowie das Lachen und Spaßhaben im Mittelpunkt.

Zum Sportverständnis von Jugendlichen 293 (5) Geschlechtertypische Unterschiede in der Sicht auf den Verein und Vereinssport sind marginal. Die Ergebnisse deuten einerseits darauf hin, dass sich der wettkampforientierte Vereinssport kaum gewandelt hat (und auch nicht wandeln muss). Nach wie vor sind eine regelmäßige Teilnahme, hohe Verbindlichkeiten, feste Regeln und Leistungsorientierung konstitutive Merkmale, die von den gegenwärtig im Verein sporttreibenden Jugendlichen akzeptiert und befürwortet, von vielen (interviewten) Nichtvereinsmitgliedern jedoch abgelehnt werden. Die Befunde stimmen weitgehend überein mit der Studie von Telschow (2000). Zwar gibt es in den Sportvereinen auch Heranwachsende, die ein lockeres, spaßorientiertes Training bevorzugen und breitensportliche Vereinsangebote wahrnehmen. Jedoch scheint es den Vereinen selten zu gelingen, Jugendliche, die früher in wettkampfsportlich orientierten Vereinen integriert waren, auf breitensportliche Angebote umzulenken. Die meisten ehemaligen Vereinssportler treiben jetzt bei kommerziellen Anbietern oder im informellen Bereich Sport (vgl. Burrmann, 2006). 5 Was verstehen die Jugendlichen unter Freizeit- und Breitensport? In standardisierten Befragungen wird ein bestimmtes Sportverständnis unterstellt, welches sich möglicherweise nicht deckt mit dem subjektiven Sportverständnis der Jugendlichen. Es wurde u. a. überprüft, ob die in schriftlichen Fragebögen häufig verwendete Einteilung in Freizeit- und Breitensportler trägt. Zur Frage Wie würdest Du Deine sportliche Aktivität selbst einschätzen? sollten die Jugendlichen die für sie zutreffende Antwort ankreuzen. Sie konnten wählen zwischen Ich würde mich selbst als Freizeit-/Breitensportler Vereinssportler Leistungssportler Nicht- oder Gelegenheitssportler einschätzen. Im Interview wurden die jeweiligen Angaben hinterfragt. Die Jugendlichen sollten anführen, was sie z. B. unter Freizeitsport und Breitensport verstehen und warum sie sich als Freizeitsportler bzw. Breitensportler eingestuft haben. (1) Die nach eigener Zuordnung so ausgewiesenen Freizeit- und Breitensportler (N = 19) beschreiben ihre sportliche Betätigung als Hobby, welches außerhalb der Schule/neben dem Beruf ausgeübt wird. Sie würden ihren Sport mit Freunden ausüben, ohne Druck, Zwang, Vorschriften oder eine verpflichtende Vereinsbindung. Mit dem Freizeitsportler werden Begriffe wie Spaß, Selbstbestimmung und freiwilliges Sporttreiben verbunden. Die Angaben zur Häufigkeit des Sporttreibens liegen zwischen täglich und bis zu viermal in der Woche. (2) Ähnliche Vorstellungen zum Freizeitsport(-ler) äußern auch die anderen Jugendlichen (Nicht- und Gelegenheitssportler, Vereinssportler, Leistungssportler). Jedoch schätzen sie die Häufigkeit des Sporttreibens auf ein- bis zweimal in der Woche.

294 Zum Sportverständnis von Jugendlichen (3) Unter Breitensportler konnten sich jedoch nur sieben Jugendliche etwas vorstellen. Die meisten Interviewten konnten den Begriff nicht oder nur ansatzweise definieren. Hier einige Beispiele: I: Und was ist ein Breitensportler? - Phillip: [...] Ein Breitensportler geht in alle Bereiche rein, sag' ich mal kann alles, macht alles [...]. Aber Breitensportler ist eben meiner Meinung nach so, es trifft völlig auf mich zu, wenn ich jetzt, sag ich mal, montags Joggen [gehe], dienstags Fahrrad fahren gehe. Mittwochs gehe ich Schwimmen, donnerstags spiele ich Volleyball, freitags Fußball usw. - I: Also wenn ich dich richtig verstanden habe, heißt Breitensport, man hat selber eine breite Palette von Aktivitäten, macht verschiedene Sachen? - Phillip: Ja, genau. Sebastian: Breitensportler würde ich sagen, ist ein Sportler, der mehrere Sportarten in der Woche betreibt. Boris: [Unter] Breitensport verstehe ich solche Sportarten, die im nicht professionellen Bereich weit verbreitet sind, wie z. B. Fußball. In jeder Stadt gibt es Fußballplätze, wo man einfach nur hingeht und Leute trifft. Das definiert für mich Breitensport, also dass das sehr viele Leute machen. Nadine: Breitensport ist für mich: Ich war mal in Berlin auf der Sportschule. Da war ich mit rhythmischen Sportgymnasten im Internat. Da gab es immer die Klassifizierung Leistungs- und Breitensport. Breitensport waren die, die nicht so gut waren, die zu schlecht für die leistungsorientierte Gruppe waren. Wie die Interviewpassagen belegen, sollte der Begriff Breitensport zumindest bei der Befragung von ostdeutschen Jugendlichen erläutert werden, um valide Ergebnisse zu erhalten (Strahle & Burrmann, 2006). 6 Literatur Baur, J., Burrmann, U. & Krysmanski, K. (2002). Sportpartizipation von Mädchen und jungen Frauen in ländlichen Regionen. Köln: Sport und Buch Strauß. Baur, J. (2006). Sport für harte Jungs und softe Mädchen - Geschlechtertypisierungen im Sport? In U. Burrmann (in Vorb.). Zum Sportverständnis von Jugendlichen Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen? Köln: Sport und Buch Strauß. Berndt, I. & Menze, A. (1996). Distanz und Nähe Mädchen treiben ihren eigenen Sport. In D. Kurz, H.-G. Sack & K.-P. Brinkhoff (Hrsg.), Kindheit, Jugend und Sport in Nordrhein-Westfahlen: Der Sportverein und seine Leistungen (S.361-430). Düsseldorf: Moll. Burrmann, U. (2006). Die Sicht der Jugendlichen auf den Vereinssport. In U. Burrmann (in Vorb.). Zum Sportverständnis von Jugendlichen Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen? Köln: Sport und Buch Strauß.

Zum Sportverständnis von Jugendlichen 295 Dietrich, K., Heinemann, K. & Schubert, M. (1990). Kommerzielle Sportanbieter. Schorndorf: Hofmann. Digel, H. (1990). Die Versportlichung unserer Kultur und deren Folgen für den Sport - ein Beitrag zur Uneigentlichkeit des Sports. In H. Gabler & U. Göhner (Hrsg.), Für einen besseren Sport...: Themen, Entwicklungen und Perspektiven aus Sport und Sportwissenschaft (S. 73-96). Schorndorf: Hofmann. Friebertshäuser, B. (1997). Interviewtechniken ein Überblick. In B. Friebertshäuser & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 371-395). Weinheim: Juventa. Hartmann-Tews, I. (2003). Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport. Opladen: Leske und Budrich. Heinemann, K. (1998). Einführung in die Soziologie des Sports (4. Aufl.). Schorndorf: Hofmann. Heinemann, K. (1989). Der nicht-sportliche Sport. In K. Dietrich & K. Heinemann (Hrsg.), Der nicht-sportliche Sport: Beiträge zum Wandel im Sport (S. 11-28). Schorndorf: Hofmann. Schmidt, C. (1997). Am Material : Auswertungsstrategien für Leitfadeninterviews. In B. Friebertshäuser & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 544-568). Weinheim: Juventa. Stahl, S. (2006). Methoden der Datenerhebung und Auswertung. In U. Burrmann (in Vorb.). Zum Sportverständnis von Jugendlichen Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen? Köln: Sport und Buch Strauß. Strahle, Y. & Burrmann, U. (2006). Was verstehen die Jugendlichen unter Freizeit- und Breitensport?. In U. Burrmann (in Vorb.). Zum Sportverständnis von Jugendlichen Was erfassen schriftliche Jugendsporterhebungen? Köln: Sport und Buch Strauß. Telschow, S. (2000). Informelle Sportengagements Jugendlicher. Köln: Sport und Buch Strauß.

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