Der Begriff Schizophrenie : Geschichte, Gegenwart und Zukunft? Paul Hoff Freitagskolloquium KPPP PUK Zürich 29. Mai 2015
Agenda Conceptual History ist nicht l art pour l art Der Beginn: Eugen Bleuler, 24. April 1908 Gibt es eine schizophrene Grundstörung? Ein gordischer Knoten der Psychiatrie ICD-10 & DSM-5: Die Sz-Diagnose heute Kritik aus (mindestens) drei Richtungen Antipsychiatrie, Stigmatisierung, Reifizierung Résumé Seite 2
Agenda Conceptual History ist nicht l art pour l art Der Beginn: Eugen Bleuler, 24. April 1908 Gibt es eine schizophrene Grundstörung? Ein gordischer Knoten der Psychiatrie ICD-10 & DSM-5: Die Sz-Diagnose heute Kritik aus (mindestens) drei Richtungen Antipsychiatrie, Stigmatisierung, Reifizierung Résumé Seite 3
«Psychisch krank» Hypothesen und Metaphern von 1750 bis heute Krankheit der Vernunft Lebensführung & Verantwortung Erkrankung des Gehirns Natürliche Krankheitseinheiten Psychische Fehlentwicklung Pathogenität des Unbewussten Degeneration ( Entartung ) Folge sozialer Missstände Existentielles Anderssein Repressiver Begriff Kommunikationsstörung Bio-psycho-soziales Modell Seite 4
Praxisrelevante Psychiatriegeschichte? Ohne Einbezug der psychiatrischen Ideengeschichte werden Kernelemente des Faches nicht verständlich. Ein solches Verständnis ist aber zwingend, um aktuelle Versorgungs- und Forschungsfragen einordnen zu können. Der Begriff Schizophrenie bündelt zentrale psychiatrische Fragen wie in einem Brennglas. Seite 5
Angelika Linke Yvonne Ilg Deutsches Seminar UZH Jakob Tanner Marina Lienhardt Forschungsstelle Sozial-/ Wirtschaftsgeschichte UZH Margit Tröhler Veronika Rall Seminar für Filmwissenschaft UZH Paul Hoff Anke Maatz KPPP PUK ZH www.schizophrenie.uzh.ch Seite 6
Agenda Conceptual History ist nicht l art pour l art Der Beginn: Eugen Bleuler, 24. April 1908 Gibt es eine schizophrene Grundstörung? Ein gordischer Knoten der Psychiatrie ICD-10 & DSM-5: Die Sz-Diagnose heute Kritik aus (mindestens) drei Richtungen Antipsychiatrie, Stigmatisierung, Reifizierung Résumé Seite 7
Christian Scharfetter 1936 2012 Seite 8
Eugen Bleulers Vortrag an der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie, Berlin, 24.04.1908 Seite 9
Seite 10
Bleuler E (1911) Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien In: Aschaffenburg G (Hrsg.) Handbuch der Psychiatrie Spezieller Teil. 4. Abteilung 1. Hälfte Deuticke, Leipzig Wien S. 1-420 Seite 11
Wovon Bleuler ausging: Drei wesentliche Wurzeln Johann Friedrich Herbart 1776-1841 Assoziationslehre Emil Kraepelin 1856-1926 Klinische Forschung Sigmund Freud 1856-1939 Psychoanalyse Seite 12
Marksteine der Schizophrenielehre Bleulers (nach Scharfetter 2006) Kraepelinsche Krankheitsumgrenzung Angenommene Physiogenie des Krankheitsprozesses Dissoziation oder Spaltung psychischer Funktionen Freudsche Mechanismen der Symptomformung und Inhalte Seite 13
Bleulers Schizophreniekonzept: Die klinische Perspektive Grund- vs. akzessorische Symptome Primäre vs. sekundäre Symptome Vielgestaltiger Verlauf Hermeneutische Elemente als explizite (!) Bestandteile der Diagnostik und Behandlung Seite 14
Wachsendes Interesse an Bleuler 2006 2001 2011 Seite 15
Agenda Conceptual History ist nicht l art pour l art Der Beginn: Eugen Bleuler, 24. April 1908 Gibt es eine schizophrene Grundstörung? Ein gordischer Knoten der Psychiatrie ICD-10 & DSM-5: Die Sz-Diagnose heute Kritik aus (mindestens) drei Richtungen Antipsychiatrie, Stigmatisierung, Reifizierung Résumé Seite 16
Auf der Suche nach «der» Grundstörung «Autointoxikation» (Kraepelin) «Apperzeptive Verblödung» (Weygandt) «Assoziationsstörung» (Bleuler) «Verminderte Bewusstseinsspannung» (Jung) «Einheit der Person des Schizophrenen» (Kronfeld) «Primäre Insuffizienz der psychischen Aktivität» / «Hypotonie des Bewusstseins» (Berze) «Intrapsychische Ataxie» (Stransky) Seite 17
Mishara & Schwartz 2013 Seite 18
Seite 19
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Die «schizophrene Grundstörung» bei Arthur Kronfeld Der zweite Weg wäre der, die Primärsymptome in einer Grundstörung zu suchen, die deren Einheitlichkeit dadurch gewährleistet, dass sie selber nichts anderes ist als die Einheit der Person des Schizophrenen. Hier handelt es sich also durchaus noch um psychologische Fassbarkeiten. Kronfeld 1930: 359 Seite 21
Zur Kritik am Konzept der «Grundstörung» Seite 22
Mishara & Schwartz 2013 Seite 23
Nach 1945: «Anthropologische Psychiatrie» Subjektivität und «Sinn» von Krankheit (bei Anerkennung biologischer Faktoren!) Ludwig Binswanger 1881-1966 Medard Boss 1903-1990 Seite 24
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Phänomenologische Ansätze heute Seite 26
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Getrennte Wege nach 1960 Seite 28
Getrennte Wege nach 1960 Gregory Bateson, 1904-1980 Arvid Carlsson, *1923 Paul Watzlawick, 1921-2007 Seite 29
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Schizophrenie & Evolution Seite 31
Schizophrenie & Bedeutung (meaning) Seite 32
Zwischenstand In der mittlerweile 107-jährigen Geschichte «der Schizophrenie» ist es nicht gelungen, den Begriff der Grundstörung zu definieren, geschweige denn, einen Konsens zu finden, welche Phänomene er umfasst. Seite 33
Agenda Conceptual History ist nicht l art pour l art Der Beginn: Eugen Bleuler, 24. April 1908 Gibt es eine schizophrene Grundstörung? Ein gordischer Knoten der Psychiatrie ICD-10 & DSM-5: Die Sz-Diagnose heute Kritik aus (mindestens) drei Richtungen Antipsychiatrie, Stigmatisierung, Reifizierung Résumé Seite 34
Operationale Diagnosesysteme ICD-10 International Classification of Diseases World Health Organization (WHO) DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders American Psychiatric Association (APA) Seite 35
World Health Organization (WHO) ICD 10... und 11 1992 2017? Seite 36
American Psychiatric Association (APA) DSM-IV... seit Mai 2013: DSM-5 Seite 37
Schizophrenie im DSM-5: Wesentliche Änderungen Erstrangsymptome und bizarrer Wahn : deutlich niedrigeres Gewicht Negativsyndrom: präziser formuliert Mindestens ein Symptom aus delusions, halluzinations, disorganized speech Abschaffung der Schizophrenie-Subtypen Attenuated Psychosis Syndrome (APS) als Sonderkategorie / Forschungsbedarf Seite 38
Eine kritische Analyse 2013 Seite 39
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Antipsychiatrische Kritik Einige Klassiker Seite 41
Ungewöhnlich: Umbenennung als Antwort auf Stigmatisierung Seite 42
«Reifizierung» heisst Schizophrenie (bzw. eine psychische Erkrankung überhaupt) als Objekt [res] zu verstehen, das völlig unabhängig vom Beobachter existiert und charakteristische Eigenschaften hat (etwa im Sinne einer «Grundstörung»). Eine solche Reifizierung kann, muss aber nicht naturalistischer Prägung sein. Seite 43
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«Research Domain Criteria» (RDoC) Seite 48
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Die Zukunft der psychiatrischen Diagnostik? Seite 50
Programmatische Kernaussage «A key aim of schizophrenia research is to define the disorder in biological terms rather than clinical presentation.» Seite 51
Programmatische Kernaussage «A key aim of schizophrenia research is to define the disorder in biological terms rather than clinical presentation.» Aber: Was sind die Folgen dieser unhinterfragten Ausschliesslichkeit, die anderen Perspektiven der deskriptiven, phänomenologischen, hermeneutischen implizit die Wissenschaftlichkeit abspricht? Seite 52
Pragmatisch formuliert - + Neurowissenschaft oder Psychopathologie Neurowissenschaft und Psychopathologie, wobei der jeweils eigene Kernbereich als autonomes wissenschaftliches Feld respektiert wird Seite 53
Psychopathologie Psychopathologie als Klammer Deskriptiv: Kommunikation Klinisch: Diagnose und Klassifikation Struktural: Erfassen von Zusammenhängen und Bedeutungen Ebene Methodenkritik Ebene Wissenschaftstheorie / Philosophie mod. nach: Stanghellini G (2009) Curr Opin Psychiatry 22: 559-564 und Hoff P (2008) Int Rev Psychiatry 20: 515-520 Seite 54
Agenda Conceptual History ist nicht l art pour l art Der Beginn: Eugen Bleuler, 24. April 1908 Gibt es eine schizophrene Grundstörung? Ein gordischer Knoten der Psychiatrie ICD-10 & DSM-5: Die Sz-Diagnose heute Kritik aus (mindestens) drei Richtungen Antipsychiatrie, Stigmatisierung, Reifizierung Résumé Seite 55
Résumé 1 Im Begriff «Schizophrenie» selbst und in seiner Entwicklung von 1908 bis heute bündeln sich nahezu alle Kernfragen der Psychiatrie. Dies macht ihn bedeutsam für die psychiatrische Forschung, auch in Zukunft. Seite 56
Résumé 2 Ist Schizophrenie ein psychopathologisch oder neurowissenschaftlich klar definiertes Objekt? Darf sie reifiziert werden? Nein. Es handelt sich um eine begriffliche Konvention, die sich auf überprüfbare psychopathologische, somatische und Verlaufskriterien stützt. Seite 57
Résumé 3 Kann der Begriff Schizophrenie in Anbetracht der wachsenden Kritik eine Zukunft haben? Ja, aber nicht um seiner selbst willen, sondern nur dann, wenn er in eine umfassendes, undogmatisches Verständnis von Psychopathologie eingebettet ist. Seite 58
Résumé 4 Geht es allenfalls auch ohne den Begriff Schizophrenie? Ja, aber... nur wenn die mit ihm verknüpfte reiche Denktradition nicht unbesehen mit abgeschafft wird. Seite 59
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Seite 60