Sind jetzt alle Autisten? Autismus-Spektrum-Störungen bei Kindern und Jugendlichen Dr. med. Evelyn Herbrecht, KJPK Evelyn.Herbrecht@upkbs.ch 1
Sind jetzt alle Autisten? Autismusspekrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen Was heißt eigentlich Autismus? 2
Zum Begriff Autismus (v. gr. αὐτός Selbst ), auf sich selbst bezogen sein, Einführung des Begriffs in die Psychiatrie durch E. Bleuler Autismus ist kein neues Störungsbild Leo Kanner (1896 1981) Autistische Störungen des affektiven Kontaktes (1943) Hans Asperger (1906 1980) Die autistischen Psychopathen im Kindesalter (1944) Kanner* und Asperger* wendeten den Begriff Autismus für Kinder mit massiven Interaktions- und Kommunikationsstörungen an Übersetzung der Arbeit Aspergers ins Englische (L. Wing, 1981) Autismus zählte zu den schizophrenen Erkrankungen bis zur Einführung des Konzeptes der Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-9 (1978) und DSM-III (1980) 3
Autismus-Triade The outstanding, pathognomonic, fundamental disorder is the children s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life (Kanner, 1943) Autistic aloneness Desire for sameness Islets of ability Autismus ist keine Störung des Kindesalters, es ist eine Störung der Entwicklung (U. Frith, 2003) 4
Autismus-Spektrum-Störungen ASS treten kulturunabhängig überall gleich häufig auf Auftreten & Häufigkeit Häufigkeit: ~ 1%, frühkindlicher Autismus: ca. 0,3% (Baird et al., 2006, Poserud, 2010) M : W = 2-3 : 1 (Lai, Lombardo, Baron-Cohen, 2013) Erhöhung wahrscheinlich durch: Erweiterung der diagnostischen Kriterien, bessere diagnostische Erfassung und höhere Sensibilität von Eltern und Fachpersonen (Williams et al., 2006; Fombonne, 2009) Verlauf Chronischer Verlauf, 60% der Patienten benötigen im Erwachsenenalter Unterstützung (Howlin, 2004) Symptome variieren von Person zu Person, aber auch innerhalb einer Person im Laufe der Entwicklung Verlauf ist abhängig vom Schweregrad, den sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten, der sozialen Integration und begleitenden Störungen 5
Autismus betrifft alle Lebensbereiche Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Beziehungen Frühkindlicher Autismus Low-functioning-Autismus Atypischer Autismus Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation & Sprache Repetitives & stereotypes Verhalten / Interessen Asperger-Syndrom High-functioning-Autismus sonst. TES Subklinische Varianten ( erweiterter Phänotyp ) 6
Klassifikation im Wandel der Zeit Aus drei Kriterien werden zwei: - Soziale/ Kommunikationsdefizite - repetitive Verhaltensweisen/ eingeschränkte Interessen DSM-5: Darstellung der Autismus-Spektrum-Störungen mit definierbaren Symptome seit der frühen Kindheit Kernsymptomen: Übergreifende Beeinträchtigungen der sozialen Beeinträchtigung Kommunikation des & Funktions-niveaus Interaktion Eingeschränkte und repetitive Muster in Verhalten, Interessen und Aktivitäten Schweregradeinteilung (3) anhand der zusätzlich: notwendigen Unterstützung Beginn in der frühen Kindheit Beeinträchtigung des Funktionsniveaus Spezifizierungen: IQ, genetische & Bestimmung des Schweregrades anhand der notwendigen andere assoziierte Unterstützung Störungen (3) Beschreibung zusätzlicher individueller Faktoren (IQ, genetische/andere assoziierte Störungen, Sprachentwicklung)
Sind jetzt alle Autisten? Autismusspekrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen Wodurch ist Autismus gekennzeichnet? 8
Beeinträchtigung der sozialen Gegenseitigkeit Mangel an sozialer Wechselseitigkeit Gestaltung der sozialen Kontaktaufnahme Erkennen und Interpretation sozialer Signale, Einfühlungsvermögen und angemessene Reaktionen Mangel an nichtsprachlichem Ausdruck Mangel an geteilter Aufmerksamkeit oder Freude mit Anderen Mangelnde Fähigkeit, Kontakte zu Gleichaltrigen herzustellen 9
Beeinträchtigung der Sprache/ Kommunikation und stereotype Verhaltensweisen 1/3 der Kinder entwickeln keine oder nur eingeschränkte Sprache Stereotype und/oder eigentümliche Sprache Wenig Unterhaltung und Small-talk Spezialinteressen Rituale und Routinen Stereotype Beschäftigungen Sensorische Interessen & Besonderheiten 10
Das Asperger-Syndrom Kein Hinweis auf grundsätzliche Unterschiede zum «frühkindlichen Autismus» Keine Sprachentwicklungsverzögerung Häufig motorische Auffälligkeiten, Ungeschicklichkeit Häufig stark ausgeprägte Spezialinteressen Sprache oft auffallend differenziert, «professoral», aber auf oberflächlichem Niveau, Floskeln Diagnosestellung häufig deutlich später Primarschulalter, teilweise noch später Nicht unbedingt «leichte Form des Autismus» 11
Autismus eine andere Wahrnehmung der Welt Zentrale Kohärenz oder der Blick für das Grosse Ganze Aus drei Kriterien werden zwei: Theory of mind - Soziale/ Kommunikationsdefizite oder der Blick für - repetitive das Wesentliche Verhaltensweisen/ eingeschränkte Interessen Symptome seit der frühen Kindheit Beeinträchtigung des Funktions-niveaus Schweregradeinteilung (3) anhand der notwendigen Unterstützung Spezifizierungen: IQ, genetische & andere assoziierte Störungen
Autismus eine andere Wahrnehmung der Welt Kognitive und emotionale Empathie Kognitive Empathie: verstehen, wie sich jemand fühlt Informationsverarbeitungsprozesse, die uns befähigen, Gefühle, Absichten, Motivationen und Wünsche des Gegenübers zu erkennen Emotionale Empathie: (mit)fühlen, was jemand fühlt Angemessene emotionale Antwort eines Beobachters auf den emotionalen Zustand seines Gegenübers Bei Autismus ist die kognitive Empathie beeinträchtigt, die emotionale nicht! (Frith, Baron-Cohen) 13
Sind jetzt alle Autisten? Autismusspekrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen Woher kommt Autismus und wie kann man Autismus feststellen? 14
Hypothesen zur Pathophysiologie Zusammenspiel und Wechselwirkung von Gehirnentwicklung (genetisch, epigenetisch, neurobiologisch), Verhalten und Umweltfaktoren beeinflusst die Entstehung und Ausprägung von ASS (Dawson, 2008) Veränderte Interaktion zwischen Kind und Umwelt und verminderte Teilnahme an frühen sozialen Interaktionen führen zu Entwicklungsbeeinträchtigungen neuronaler Netzwerke Genetische Disposition Umweltfaktoren Soziale Motivation Abweichungen der Neurochemie Entwicklungs störung synaptischer Verschaltungen Abweichende Informationsverarbeitung Klinische Symptomatik Autismus 15
Die Bedeutung der sozialen Motivation Bereits Säuglinge orientieren sich an sozial relevanten (biologischen) Reizen wie Gesicht und Augen 20-Monate alte Kinder mit ASS: weniger Beobachtung sozialer Interaktionen (Shic, 2011) Mangelnde Orientierung an sozial relevanten Reizen beeinträchtigt das soziale Lernen (Dawson et al., 2004, Chevallier et al., 2012) Fehlender Blickkontakt Auffallendes Fehlen von Freude Fehlendes Interesse am gemeinsamen Spiel Fehlende Reaktion auf den eigenen Namen Fehlende Koordination von Blick, Mimik und Gestik Fehlendes Zeigen um Aufmerksamkeit zu erreichen Ungewöhnliche Prosodie der Lautbildung Repetitive Bewegungen und Handlungen mit Objekten SORF, Wetherby & Woods, 2002 16
Diagnostik Früherkennung: 18.-24. Lebensmonat, Symptome vorher oft noch unspezifisch zuverlässige Diagnosestellung ab Entwicklungsalter von 24 Mt. möglich Einsatz standardisierter Diagnoseverfahren (ADOS/ADI-R) Die Diagnose erfolgt klinisch und ergibt sich aus einer Summe/ Muster von Beeinträchtigungen in den drei relevanten Bereichen Es gibt nicht ein einzelnes beweisendes oder ausschliessendes Merkmal! Symptome sind häufig zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr am stärksten ausgeprägt ASS bei Mädchen häufig unterdiagnostitziert 17
Wichtige begleitende Störungen Intelligenzminderung (bei 55 %) Sprachstörungen Motorische Auffälligkeiten Epilepsie (~20 %) Meist unspezifische gastrointestinale Symptome Schlafstörungen Psychiatrische Komorbiditäten 50-80%! Hofvander et al., 2009, Gjevik et al., 2011, Lai et al., 2013 ADHS Angststörungen (am häufigsten soziale Ängste und generalisierte Angststörung), alle Altersgruppen Depression (häufig ab späterem Jugendalter) Zwänge Essstörungen, cave: ASS nicht erkannt Baird et al. 2006; Freitag, 2007; Bölte, 2009; Lai et al., 2013 18
Sind jetzt alle Autisten? Autismusspekrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen Was kann man tun? 19
Therapieansätze des Autismus Es gibt heute keine Therapie, die Autismus heilt! Aufbau & Verbesserung Interaktionsfähigkeit Kommunikation/Sprache Selbständigkeit soziale Integration/ Teilhabe Abbau (Auto-) Aggression Rigidität Hyperaktivität Rituale, Zwänge, Stereotypien frühzeitige Behandlung könnte Einfluss genetischer Faktoren, Hirnentwicklung und Symptomausprägung positiv beeinflussen, insbesondere wenn Therapie einsetzt, bevor die Symptome vollständig ausgeprägt sind (Dawson, 2008) in diesem Sinne könnte eine frühzeitige Intervention präventiven Charakter haben und möglicherweise das Vollbild einer ASS verhindern 20
Autismus eine andere Wahrnehmung der Welt Therapie heisst auch: Stärken und Interessen berücksichtigen Die Familie/ das soziale Umfeld/ den Patienten selbst für die Besonderheiten sensibilisieren Es geht nicht primär um Änderung, sondern um Anpassung 21
Frühintervention bei Autismus In den letzten Jahren zunehmende Entwicklung intensiver Frühinterventions-programme Ziel: nachhaltige Verbesserung der autistischen Kernsymptome mit dem Ziel der besseren sozialen Integration Zentral: Einbezug der Eltern und des sozialen Umfeldes, kein isoliertes Training umschriebener Fertigkeiten Fokus intensiver Interventionen richtet sich mehr und mehr auf die Förderung der frühen Vorläufer sozialer Kommunikation wie gemeinsame Aufmerksamkeit und Symbolspiel im natürlichen Lebensumfeld und Alltag der Kinder und Familien (Zwaigenbaum et al., 2016) Schweizweites Pilotprojekt des Bundesamtes für Sozialversicherung (2014-2018): Mitfinanzierung intensiver Frühintervention in insgesamt 6 Zentren 22
Ein Beispiel: das FIAS-Therapiezentrum (Frühintervention bei autistischen Störungen) Teilstationäre Intensivtherapie (~ 100 Stunden) Therapiezentrum und Familien-Wohnung in Muttenz 1 Familie, 18 Tage durchgehend, bis zu 6 Std. täglich in diversen Settings Individuelle Parallelarbeit mit allen Personen der Kernfamilie Multimodaler Ansatz mit unterschiedlichen Methoden und Disziplinen Besondere Spiel- und Videointerventionstherapie 2 Jahre Nachsorge Hausbesuche, Beratungen, Elterntraining Videoanalysen zu Spiel- und Alltagssituationen 23
Triage und therapeutische Angebote - Interventionsauswahl ist abhängig von Alter, Entwicklungsstand und Problembereichen im Alltag allgemeine Aspekte der Behandlung Psychoedukation Beratung/ Begleitung der Familie, (Schule, häusliche Situation, Alltagsgestaltung) Kinderpsychiatrische und psychotherapeutische Behandlung, ggf. medikamentöse Behandlung von Begleitsymptomen autismusspezifische Angebote heilpädagogische Frühförderung, Logopädie intensive Frühintervention Gruppentherapie, Training sozialer Fertigkeiten Einzeltherapie (verhaltenstherapeutisch) Ergänzende therapeutische Angebote: Ergotherapie, Psychomotorik, Je höher das allgemeine Funktionsniveau, desto zentraler ist die Verbesserung der sozialen Schwierigkeiten 24
Befunde zum Langzeitverlauf: soziale Defizite sind zentral und bestimmen massgeblich den Verlauf Auswirkungen im Jugend-/ Erwachsenenalter* Meist Interesse an Sozialkontakten, aber Mangel an (Lern-) Gelegenheiten Jugendliche erleben häufig Zurückweisung und Ausschluss mit negativen Auswirkungen auf Selbstwertgefühl & soziale Integration Berufstätigkeit auf niedriger Ebene, hohe Arbeitslosigkeit Selten selbständige Lebensführung Mangel an Partnerschaften/ sozialen Beziehungen Hoher Anteil an begleitenden psychiatrischen Störungen Bei höherem Funktionsniveau generell große Diskrepanz zwischen kognitiven und sozialen Fähigkeiten *Attwood, 2008; Krasny et al., 2003; Paul, 2003; Weiss et al., 2001;Tsatsanis, 2002; Poustka et al., 2012; 25
Gruppentherapeutische Ansätze Training spezifischer neuropsychologischer Funktionen hilft nicht bei der Bewältigung sozialer Interaktionen im Alltag (Begeer et al., 2011) Bei hochfunktionalem Autismus hat die verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Gruppentherapie die höchste Wirksamkeit (Freitag et al., 2013) Techniken: soziales Modelllernen, komplexe soziale Fertigkeiten in Einzelfertigkeiten/ Regeln zerlegen und direkt einüben und positiv verstärken, z.b. im Rollenspiel, mithilfe von Gruppen- und Videofeedback; Erleben einer unterstützenden Atmosphäre, in der der Ängste abgebaut und positive Beziehungserfahrungen gesammelt werden können Zentral: Generalisierung von Fertigkeiten: Hausaufgaben, Interaktionen mit Gleichaltrigen außerhalb Gruppenkontext; in der Gruppe Therapeutenwechsel 26
Sind jetzt alle Autisten? Nein, und Erhebliche Fortschritte bei Frühdiagnostik & Frühintervention Ausnahmen sind die Regel, es gibt nicht «den Autismus»; Wichtig ist es, daran zu denken! Entwicklungsverlauf! Fazit Kein beweisendes und kein ausschliessendes einzelnes Symptom Wichtig: Berücksichtigung begleitender Störungen, häufig Autismus und Behandlungsprioritäten nach Beeinträchtigungen im Alltag Bei Verdacht Überweisung an eine spezialisierte kinder- und jugendpsychiatrische Fachstelle 27
Kontakt: Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik Basel Fachstelle Autismus www.upkbs.ch Evelyn.Herbrecht@upkbs.ch www.autismusschweiz.ch Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit 28