Schichtarbeit unter demografischen Herausforderungen Frank Lennings Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Schichtarbeit nimmt zu. Gleichzeitig sind Schichtarbeitnehmer heute im Durchschnitt älter als noch vor einigen Jahren. Eine Entwicklung, die sich fortsetzen wird. Schichtarbeit wird also zukünftig unter immer größeren demografischen Herausforderungen stattfinden und muss dabei sowohl den betrieblichen Bedarf als auch die Situation der Mitarbeiter berücksichtigen. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen Maßnahmen zur Gestaltung von Schichtarbeit, die präventiv wirken und den Einsatz von Mitarbeitern mit körperlichen oder situativen Beeinträchtigungen ermöglichen und fördern. Dafür ist in der Regel ein erhöhter Planungs- und Umsetzungsaufwand erforderlich. Wie viel Aufwand im Einzelfall erforderlich und wie viel überhaupt möglich ist, hängt jeweils von der spezifischen Unternehmenssituation ab. Geeignete Lösungen müssen u.a. die Branche, die Arbeitsaufgaben, die Region sowie die Zusammensetzung und Altersstruktur der Belegschaft berücksichtigen. Es gibt keine Einheitslösungen. Voraussetzung für alle hier beschriebenen Maßnahmen ist, dass der Betriebszeitbedarf des Unternehmens zuverlässig abgedeckt bleibt. 1 Schichtarbeit: Bedeutung, Verbreitung, Entwicklung Die Schichtarbeit nimmt in Deutschland abgesehen von temporären konjunkturellen Einflüssen kontinuierlich zu. Abbildung 1 verdeutlicht dies anhand der Entwicklung der Anteile abhängig Erwerbstätiger, die ständig, regelmäßig oder gelegentlich Wechselschicht leisten. Diese werden jährlich im Rahmen der Mikrozensuserhebung des Statistischen Bundesamtes bestimmt. Über alle Branchen hinweg betrug der Anteil im Jahre 2012 etwa 17 Prozent. Im Wirtschaftszweig»Bergbau und verarbeitendes Gewerbe«waren es etwa 27 Prozent. Wie viele Mitarbeiter Wechselschichtarbeit ohne Nachtschicht oder in Teilzeit leisten, ist den Daten nicht direkt zu entnehmen. 147
Praxisbeispiele 30 25 Anteil an den abh. Erwerbstätigen [%] 20 15 10 5 Wechselschicht (ständig, regelmäßig oder gelegentlich) alle Branchen [%] Wechselschicht (ständig, regelmäßig oder gelegentlich) Bergbau und verarbeitendes Gewerbe [%] 0 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Abb. 1 : Entwicklung ständiger, regelmäßiger oder gelegentlicher Wechselschichtarbeit in Deutschland (Statistisches Bundesamt 1998 2013) Treiber des Anstiegs sind sowohl betriebswirtschaftliche Gründe als auch der demografische Wandel. Industrielle Arbeit, die in Deutschland verbleibt, erfordert zunehmend kapitalintensive Produktionseinrichtungen. Längere Betriebszeiten erhöhen Produktionsmengen und senken so die erzielbaren Stückkosten. Auch zunehmender Betreuungsaufwand im Gesundheits- und Pflegebereich infolge des demografischen Wandels sowie allgemein erweiterte Service- und Einkaufszeiten tragen zum Wachstum der Schichtarbeit bei. Die meisten Wechselschichtarbeiter sind im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe beschäftigt. Dennoch entfällt auf diesen Wirtschaftszweig nur etwa ein Drittel der gesamten Arbeit in Wechselschicht (siehe Abbildung 2). Überlegungen zur Schichtarbeit unter demografischen Herausforderungen betreffen also nicht nur das verarbeitende Gewerbe, sondern weite Teile der Volkswirtschaft in Deutschland. 148
Schichtarbeit unter demografischen Herausforderungen Bergbau und verarbeitendes Gewerbe Öffentliche und private Dienstleistungen Handel, KFZ, Gastgewerbe, Verkehr, Lagerei Kommunikation Sonstige 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% Anteil an den abh. Erwerbstätigen in Wechselschicht [%] Abb. 2 : Wechselschichtarbeit in Deutschland nach Wirtschaftszweigen 2012 (Statistisches Bundesamt 2013) 2 Arbeitswissenschaftliche Empfehlungen zur Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit Der Mensch ist ein tagaktives Lebewesen, dessen physiologische Leistungsbereitschaft regelmäßig schwankt (siehe Abbildung 3). Der grundsätzliche Verlauf ist hormon- und lichtgesteuert und nicht bewusst beeinflussbar. Schicht- und vor allem Nachtarbeit kann für Mitarbeiter also eine Belastung darstellen, weil Arbeits- und Ruhephasen nicht mit dem natürlichen Rhythmus übereinstimmen. Zudem überschneiden sich die Arbeitszeiten, v.a. bei Spät- und Nachtschicht, mit der sozial wirksamen Freizeit. Tagesmittel 6 9 12 15 18 21 24 3 6 Uhr Abb. 3 : Tagesgang der physiologischen Leistungsbereitschaft (Graf 1954) 149
Praxisbeispiele Die arbeitswissenschaftlichen Empfehlungen zur Gestaltung von Nacht- und Schichtarbeit helfen, Belastungen zu mindern. 6 Absatz 1 des Arbeitszeitgesetzes fordert deshalb deren Berücksichtigung. Als arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse können Ergebnisse umfangreicher Forschungen zur Nacht- und Schichtarbeit angesehen werden, die in verschiedenen Empfehlungen zusammengefasst sind (z.b. Beermann 2005, Wedderburn et al. 1991, Knauth/Hornberger 1997, DGAUM 2006). Wesentliche Empfehlungen sind: Möglichst nicht mehr als drei Nachtschichten hintereinander Der biologische Rhythmus des Menschen und seine Körperfunktionen sind während der Zeit der Nachtarbeit überwiegend auf Erholung und nicht auf Leistung»eingestellt«. Entgegen dem subjektiven Empfinden vieler Schichtarbeiter kehrt sich dieser Rhythmus auch nach einigen Nachtschichten nicht um. Der Tagschlaf ist in der Regel kürzer und störanfälliger als der Nachtschlaf. Lange Nachtschichtphasen können deshalb zu Schlafdefiziten führen. Schnelle Rotation von Früh- und Spätschichten Frühschichten beginnen in unserem Kulturkreis in der Regel recht früh. Der Schlaf vor der Frühschicht ist oft kurz. Lange Frühschichtblöcke können deshalb Schlafdefizite fördern, schnelle Rotation fördert kürzere Früh- und Spätschichtblöcke. Dies beugt Schlafdefiziten vor und vereinfacht die Pflege sozialer Kontakte. Ausreichende Ruhezeiten zwischen zwei Schichten vorsehen Hier sind gemäß Arbeitszeitgesetz prinzipiell elf Stunden vorgeschrieben. Nach einer Nachtschichtphase sollte die Ruhezeit jedoch mindestens 24 Stunden, besser 48 Stunden, betragen. Dann ergeben sich keine ungünstigen Schichtfolgen wie»nacht-frei-früh«, und die Mitarbeiter haben nach der Nachtschicht genügend Zeit, sich auf neue Schichtzeiten einzustellen. Keine Massierung von Arbeitszeiten Sowohl lange Arbeitszeiten pro Tag als auch häufige lange Blöcke von Arbeitstagen sollten vermieden werden. Zwar ermöglichen sie längere zusammenhängende Freizeitblöcke, von diesen wird jedoch auch wiederum ein größerer Teil zur Erholung benötigt. Vorwärtsrotation der Schichten Nach den ersten beiden Empfehlungen sind lange Arbeitsblöcke mit gleicher Schichtart zu vermeiden. Dafür müsste die Schichtart idealerweise während eines Arbeitsblockes wechseln. Die Vorwärtsrotation z.b. FFSSNN (F: Frühschicht, S: Spätschicht, N: Nachtschicht) ermöglicht dies. Darüber hinaus beträgt die Ruhezeit bei den Wechseln Früh/Spät, Spät/Nacht jeweils 24 Stunden. Im Gegensatz 150
Schichtarbeit unter demografischen Herausforderungen zu 16 Stunden Ruhezeit bei gleichbleibender Schichtart stehen bei Vorwärtswechsel somit acht Stunden zusätzliche Freizeit zur Verfügung. Geblockte (Wochenend-) Freizeiten Geblockte (Wochenend-) Freizeiten sind für Erholung und Sozialkontakte wertvoller als einzelne freie Tage. Ungünstige Schichtfolgen vermeiden Hierzu gehören z.b. einzelne freie Tage, die insbesondere Nachtschichtblöcke unterteilen (Nacht-Frei-Nacht), einzelne Arbeitstage, die Freizeitblöcke»zerstückeln«(z.B. Frei-Früh-Frei), aber auch Schichtfolgen, die im Widerspruch zur biologischen Tagesrhythmik stehen (z.b. Nacht-Frei-Früh). Letztere sind mit Einschlafschwierigkeiten beim Nachtschlaf vor der Frühschicht und deshalb mit einem Übermüdungsrisiko verbunden. Flexibilität zulassen Dies umfasst Raum für individuelle Regelungen, wie beispielsweise den Schichttausch oder den individuell verschobenen Schichtwechsel nach Absprache unter den Schichtgruppen. Kurzfristige Änderungen der Schichtfolge möglichst vermeiden Um die Planungssicherheit zu erhöhen, sollte eine klare Schichtfolge eingehalten werden. Sind zum Erreichen der Wochenarbeitszeit Einbring- oder Freischichten vorgesehen, sollten diese rechtzeitig angekündigt werden oder Regelungen hierzu vereinbart sein. Die Lage eventuell erforderlicher flexibler Schichten sollte bekannt und ihre Handhabung vereinbart sein. Frühschicht nicht zu früh beginnen Wenn die Frühschicht zu früh beginnt, müssen die Schichtarbeitnehmer je nach Entfernung zum Arbeitsplatz so früh aufstehen, dass Schlafdefizite entstehen können. Spätschicht und Nachtschicht nicht zu spät beenden Die Spätschicht sollte möglichst bis 23:00 Uhr enden und keine halbe Nachtschicht werden. Auch die Nachtschicht sollte möglichst früh enden. Der Tagschlaf ist meist umso länger, je früher er beginnt. In Abbildung 4 ist die Umsetzung der Empfehlungen am Beispiel der Umstellung eines vollkontinuierlichen Schichtplans dargestellt. Die Betriebs- und Arbeitszeiten bleiben dabei unverändert. 151