Der Urologe. Elektronischer Sonderdruck für K.-J. Sommer. Prozessgestaltung in Hochzuverlässigkeitsorganisationen. Ein Service von Springer Medizin



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Transkript:

Der Urologe Organ der Deutschen Gesellschaft für Urologie Organ des Berufsverbandes der Deutschen Urologen Elektronischer Sonderdruck für K.-J. Sommer Ein Service von Springer Medizin Urologe 2014 53:645 649 DOI 10.1007/s00120-014-3484-6 Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 K.-J. Sommer J. Kranz J. Steffens Prozessgestaltung in Hochzuverlässigkeitsorganisationen Diese PDF-Datei darf ausschließlich für nicht kommerzielle Zwecke verwendet werden und ist nicht für die Einstellung in Repositorien vorgesehen hierzu zählen auch soziale und wissen schaftliche Netzwerke und Austauschplattformen. www.derurologe.de

Leitthema Urologe 2014 53:645 649 DOI 10.1007/s00120-014-3484-6 Online publiziert: 19. April 2014 Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 K.-J. Sommer 1 J. Kranz 2 J. Steffens 2 1 smacmed, Bad Camberg 2 Klinik für Urologie und Kinderurologie, St. Antonius-Hospital, Akademisches Lehrkrankenhaus der RWTH Aachen, Eschweiler Prozessgestaltung in Hochzuverlässigkeitsorganisationen Im Rahmen der immer wiederkehrenden Diskussion um Patientensicherheit wird häufig die Überlegung aufgeworfen, ob und was die Medizin von anderen hochkomplexen Tätigkeitsfeldern lernen kann. Eines dieser Felder ist die Luftfahrt. Sicherheit hat dort im betrieblichen Alltag den höchsten Stellenwert noch vor Wirtschaftlichkeit, Pünktlichkeit und Passagierkomfort, was sich letztlich in dem Slogan safety first widerspiegelt. Eine grundsätzliche Einführung zu diesem Thema bietet der Artikel Aus Fehlern lernen Sicherheitskonzepte der Luftfahrt in der Medizin anwenden von Kai-Jörg Sommer aus dem Jahre 2012 [10]. Gegenstand dieses Artikels ist die Prozessgestaltung in der Luftfahrt als Hochzuverlässigkeitsorganisation, welche sich grundlegend in den medizinischen Praxis- und Klinikalltag übertragen ließe und folglich mit einem signifikanten Sicherheitsgewinn einherginge. Standardisierte Verfahren zur Erledigung alltäglicher Routinetätigkeiten als auch zur Abhandlung von Zwischenfällen sind eine der Sicherheitssäulen in der Luftfahrt. Seit Beginn der Fliegerei haben Piloten ihre Erfahrungen ausgetauscht. Was anfangs noch als handschriftliche Notizhefte die Runde machte, wurde bald in verbindliche Flugbetriebsvorschriften zusammengefasst. Fliegen war gefährlich und der freie Austausch von Erfahrungen und das Lernen aus den Fehlern anderer überlebensnotwendig. Die Sicherheitsbestrebungen fokussierten sich anfänglich auf Verbesserungen bei der Ergonomie und den Verfahren selbst. Da das Cockpit oft bis auf einige Leuchtzeiger dunkel war, um die Nachtsicht nicht zu behindern, bekamen wichtige Bedienelemente wie Fahrwerk-, Klappen- und bestimmte Triebwerkshebel eine unverwechselbare Form, die sie bis heute behalten haben. Dies macht durchaus Sinn, denn auch heutzutage kann es im Cockpit zu Situationen mit starker Sichtbehinderung kommen (Rauch, Dekompression), bei denen die Piloten allein auf taktiles Feedback angewiesen sind. Aus dem gleichen Grund wurden bestimmte Verfahren standardisiert. Letztlich ist es egal, wie ein Flugplatz angeflogen wird. Wenn das jedoch von mehreren Flugzeugen gleichzeitig bei Nacht und Nebel geschehen soll, erübrigt sich die Frage nach dem Sinn von Standardverfahren ( standard operating procedures, SOP).» Standardverfahren erleichtern die Koordination und Absprache innerhalb eines Teams Die SOP verbessern die Sicherheit bei der Zusammenarbeit von Flugzeugbesatzungen untereinander. In nur wenigen Flugbetrieben arbeiten die Besatzungen in konstanter Teamzusammensetzung zusammen; in nennenswertem Ausmaß findet sich dies heutzutage nur in hochspezialisierten Besatzungen beim Militär. Standardverfahren erleichtern die Koordination und Absprache innerhalb eines Teams. So muss nicht jeder Arbeitsablauf im Vorfeld besprochen werden, sondern es findet eine Beschränkung auf die jeweiligen Besonderheiten des gemeinsamen Fluges statt. Eine Fokussierung auf das Essentielle ist hiermit gesichert und das Risiko möglicher Fehlerquellen wird auf das Minimum reduziert. Sog. Briefings (Besprechungen) sind wiederum ein verbindlicher Teil der Flugvorbereitung. Ihre Inhalte sind im Flugbetriebshandbuch dezidiert festgelegt. Sie dienen neben der allgemeinen Teambildung der Fokussierung auf den jeweiligen Flugauftrag und seine Besonderheiten. So informiert beispielsweise der Kommandant die Kabinenbesatzung beim gemeinsamen Briefing über eventuelle Schlechtwettergebiete, damit diese den Service entsprechend planen kann. Ähnliches findet heutzutage in Operationsbesprechungen statt, in denen auf eventuelle Komorbiditäten, Voroperationen im jeweiligen Operationsgebiet, Medikamentenunverträglichkeiten etc. eingegangen wird. Nicht immer treffen klare Vorschriften auf die uneingeschränkte Zustimmung al- K-J. Sommer und J. Kranz sind gleichberechtigte Erstautoren. Der Urologe 5 2014 645

Leitthema ler Mitarbeiter. So fühlt sich manch einer in der Freiheit seiner handwerklichen Kunst unzulässig eingeschränkt nach dem Motto: Regeln sind nur für schwache Piloten. Die Statistik hingegen zeichnet diesbezüglich allerdings ein anderes Bild. Nicht selten haben Selbstüberschätzung und Risikofehleinschätzung als entscheidendes Element zu Unfällen beigetragen [7, 8, 11]. Heutzutage sind Standardverfahren eine nicht wegzudenkende Sicherheitssäule in der Luftfahrt. Dabei gilt die Regel: je kritischer ein Prozess, desto rigider, dezidierter und detaillierter die Verfahrensanwendung. Selbst die Kommunikation ist für bestimmte Verfahren wortwörtlich festgelegt. Die Standardverfahren gliedern sich i. Allg. in drei Bereiche: F Routineverfahren, F ergänzende Routineverfahren, F Notverfahren. Ein Routineverfahren ist beispielsweise das Anlassen der Triebwerke. Das Verfahren wird durch den Kommandanten mit dem festgelegten Kommando Before Start Items eingeleitet. Im Anschluss nehmen beide Piloten die im Verfahren festgelegten Schaltungen zur Vorbereitung des Triebwerkstarts vor. Deren korrekte Durchführung wiederum wird durch die Before Start -Checkliste überprüft, auch hier wieder auf Kommando des Kapitäns. Erst dann erfolgt das Anlassen der Triebwerke in der vorgeschriebenen Reihenfolge mit dem Kommando Engine No. X:Start ( Triebwerk Nr. X: Anlassen ). Ein Beispiel für ein ergänzendes Routineverfahren ist die Flugzeugenteisung. Bei diesem Verfahren werden Flügel, Steuerelemente und ggf. der Rumpf von Schneeund Eisablagerungen befreit. Da dieses Verfahren nicht zur alltäglichen Routine gehört, die Verfahrensabläufe jedoch bei fehlerhafter Ausführung die Sicherheit extrem gefährden können, werden solche Verfahren oft als sog. Read&Do - (Vorlesen&Ausführen-)Checkliste abgearbeitet. Bei diesem Vorgehen liest ein Besatzungsmitglied die vorzunehmende Schaltung vor und das jeweils andere Besatzungsmitglied führt sie anschließend aus. Diese Vorgehensweise wird auch bei den meisten Notverfahren angewendet. Eine Ausnahme bilden die sog. Memory- Items (Gedächtnisschritte). In Situationen, bei denen die Sicherheit des Flugzeugs oder Leib und Leben der Insassen akut gefährdet sind, wie durch Rauch und Feuer, Triebwerkbrand, plötzlicher Druckverlust mit anschließendem Notsinkflug, werden überlebensnotwendige Schritte auswendig ausgeführt und erst anschließend anhand einer Checkliste überprüft. Diese Verfahren und Checklisten sind zwecks schnellerer Erreichbarkeit durch die Piloten in einem laminierten Handbuch, dem sog. Quick-Referenz- Handbuch (QRH) zusammengefasst. Auch in der Medizin, hier v. a. in chirurgischen Fachdisziplinen, haben sich Checklisten nach zögerlichem Einzug etabliert. Sie werden vorzugsweise an neuralgischen Punkten einer Prozesskette eingesetzt um dort Verantwortlichkeiten, Aufgabenverteilungen sowie die Verfügbarkeit erforderlicher Ressourcen und einzuhaltende Sicherheitsstandards zu regeln und kontrollieren [1]. Die von der World Health Organization (WHO) im Rahmen der The safe surgery saves lives- Initiative strukturierte und weltweit genutzte OP-Sicherheitscheckliste trägt mit hohem Maß zu der perioperativen Patientensicherheit bei (. Abb. 1, [12]).» Die Implementierung und stringente Nutzung von Checklisten kann die Zwischenfallrate bei chirurgischen Eingriffen deutlich reduzieren Haynes et al. [5] konnten 2009 nachweisen, dass die Implementierung und stringente Nutzung solcher Checklisten die Zwischenfallrate deutlich reduzieren kann; die Rate schwerwiegender Komplikationen bei chirurgischen Eingriffen fiel von 11% (411 von 3733 Fälle) auf 7% (288 von 3955 Fälle), die Anzahl der Todesfälle sank von 1,5% (56 von 3733 Fälle) auf 0,8% (32 von 3955 Fälle). Auch die niederländische SURPASS- (SURgical Patient Safety System-)Studie zeigte, dass nahezu ein Drittel aller ursächlichen Faktoren, die zu einer Klage bei einem chirurgischem Kunstfehler führten, durch den flächendeckenden Gebrauch einer Checkliste hätten vermieden werden können [2]. Die Etablierung und exakte Umsetzung von Standardverfahren hat sich jedoch nicht als alleiniger Schlüssel zur Sicherheit erwiesen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie nicht alle möglichen Komplikationen abdecken können. Mitte der 1970er Jahre ereigneten sich einige Unfälle, in denen es der Crew trotz Standardnotverfahren und grundsätzlich beherrschbarer Situationen nicht gelungen war, das Flugzeug sicher zu landen. Mängel in der Priorisierung der anstehenden Aufgaben, der Koordination innerhalb der Crew und der Führung i. Allg. wurden als Hauptverursacher identifiziert. In der Folge wurde das sog. Crew Ressource Management (CRM) entwickelt. Ziel des CRM ist die wirkungsvolle Nutzung aller Ressourcen (Hard-, Softund Liveware) für die sichere und effiziente Operation. Dabei wird besonderer Wert gelegt auf: F Informationsbeschaffung und -verarbeitung, F Festsetzen von Prioritäten, F Aufgabendelegation und Zuweisung von Verantwortlichkeiten, F Vermeidung von Ablenkung und Voreingenommenheit, F strukturierte Entscheidungsfindung, F Überwachung und Überprüfung, F Führungsverhalten. Kernpunkt des CRM ist die strukturierte Entscheidungsfindung. Nach Sammeln der Fakten werden mögliche Alternativen in Bezug auf Vorteile und Risiken bewertet um anschließend zu einer fundierten Entscheidung über das weitere Vorgehen zu kommen. In der Praxis sieht das so aus, dass zunächst der Systemzustand bzw. die Komplikation ausgerufen wird, damit alle auf das Problem aufmerksam gemacht werden. Anschließend entscheidet der Kommandant, wer das Flugzeug führt und welche Verfahren/Notverfahren ggf. anzuwenden sind. Erst dann arbeitet die Besatzung die Verfahren ab. Nach Abschluss des Verfahrens entscheidet die Crew anhand des strukturierten Entscheidungsfindungsmodells über die weitere Vorgehensweise, z. B. ob der Flug zum Bestimmungsort fortgesetzt werden kann oder ob aus Sicherheitsgründen eine Ausweichlandung angezeigt ist. 646 Der Urologe 5 2014

Zusammenfassung Abstract Tab. 1 Kombinierte Fehlerraten: sinkende Ergebnisqualität bei zunehmenden Prozessschritten Schritte (n) Fehlerrate pro Schritt 0,05 0,01 0,001 0,0001 1 0,05 0,01 0,001 0,0001 25 0,72 0,22 0,02 0,003 50 0,92 0,39 0,05 0,005 100 0,99 0,63 0,1 0,01 Die Grundsätze des CRM wurden u. a. schon von Gaba vor rund 20 Jahren in der Anästhesie umgesetzt [3]. In Europa leistete Schaefer mit dem Aufbau eines der ersten Anästhesiesimulatoren am Kantonspital in Basel Pionierarbeit [6]. Leider hat sich das CRM außerhalb der Anästhesie und besonders in den nichtoperativen Fachdisziplinen nicht ausreichend durchgesetzt; es fehlt darüber hinaus an einer systematischen Umsetzung. Um das heutige Sicherheitsniveau der Flugsicherheit zu erreichen, bedarf es noch weiterer Maßnahmen. Hierzu gehört u. a. die antizipierende Risikoanalyse von Prozessen unter Zuhilfenahme von routinemäßig gesammelten Daten aus dem betrieblichen Alltag. Gesundheitsdienstleistungen sind keine linearen Prozesse, sondern werden in hochkomplexen Dienstleistungsnetzen erbracht. Je höher der Vernetzungsgrad ist und je gekoppelter solche Systeme sind, umso mehr steigt ihre Fehleranfälligkeit. Ein relativ einfacher Prozess wie die Patientenmedikation umfasst ca. 50 Prozessschritte. Legt man eine Handlungsfehlerquote von 0,001 und eine Unterlassensfehlerquote von 0,01 zugrunde [9], erkennt man sehr schnell die Konsequenzen. Ohne weitere Kontrollschritte läge die Fehlerwahrscheinlichkeit zwischen 0,05 und 0,39 und damit deutlich jenseits der Tolerabilitätsgrenzen (. Tab. 1). Ein modernes Prozessdesign als Teil eines Safety-Management-Systems (SMS) beinhaltet die folgenden Elemente: F Reduktion der Komplexität durch Reduktion der Anzahl von Prozessschritten, F verbindliche Zwischenchecks an kritischen Prozessknoten, F Definition von Prozessverantwortlichen, F Standardisierung von Routineabläufen, auch abteilungsübergreifend, F operative Risikoabschätzung ( operational risk evaluation, ORE), F Festlegung von Sicherheits-Performanz-Indikatoren, F Definition des betrieblich angestrebten Sicherheitsperformanzniveaus, F Erfassung und Auswertung von Routinedaten. Sicherheit in der Medizin ist nicht nur eine moralische sondern auch eine wirtschaftliche Herausforderung, so gab es geschätzte 18.000 Tote in Deutschland durch unerwünschte Behandlungsausgänge [4]. Um diesen Quantensprung zu deutlich mehr Sicherheit zu bewältigen, kommt die Medizin nicht umher, sich intensiv mit dem Erreichten aus anderen Hochzuverlässigkeitsbranchen auseinander zu setzen und nach kritischer Begutachtung Schritt für Schritt einzuführen. Fazit für die Praxis F Das Sicherheitsniveau der Medizin liegt signifikant unter dem anderer hochkomplexer Tätigkeitsfelder, wie beispielsweise der Luftfahrt. F Die zivile Luftfahrt hat über Jahrzehnte bewährte und erfolgreiche Methoden entwickelt. Diese Methoden sind grundsätzlich auf die Medizin übertragbar. F Standardverfahren, CRM sowie operative Risikoeinschätzung sind bewährte Bestandteile eines umfassenden und systemisch angelegten Sicherheitsprogramms. F Wenn die Medizin diesen Quantensprung auf dem Weg zu mehr Patientensicherheit nachvollziehen will, muss sie sich intensiv mit den Ergebnissen anderer Hochzuverlässigkeitsbranchen auseinander setzen und nach kritischer Begutachtung Schritt für Schritt einführen. Urologe 2014 53:645 649 DOI 10.1007/s00120-014-3484-6 Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 K.-J. Sommer J. Kranz J. Steffens Prozessgestaltung in Hochzuverlässigkeitsorganisationen Zusammenfassung Die moderne Medizin ist eine hochkomplexe Dienstleistungsbranche, in der die einzelnen Leistungserbringer stark vernetzt sind. Die Komplexität und Vernetzung birgt jedoch Risiken für die Sicherheit des einzelnen Patienten. Anderen hochkomplexen Branchen wie der Luftfahrt ist es gelungen, trotz stark gestiegener Passagierzahlen das Sicherheitsniveau konstant zu halten bzw. sogar zu steigern. Standardverfahren, crew ressource management (CRM) sowie operative Risikoeinschätzung sind historisch gewachsene und bewährte Bestandteile eines umfassenden und systemisch angelegten Sicherheitsprogramms. Wenn die Medizin diesen Quantensprung auf dem Weg zu mehr Patientensicherheit nachvollziehen will, muss sie sich intensiv mit den Ergebnissen anderer Hochzuverlässigkeitsbranchen auseinander setzen und nach kritischer Begutachtung Schritt für Schritt einführen. Schlüsselwörter Patientensicherheit Fehlervermeidung Standardverfahren Crew ressource management Risikoeinschätzung Process design in high-reliability organizations Abstract Modern medicine is a highly complex service industry in which individual care providers are linked in a complicated network. The complexity and interlinkedness is associated with risks concerning patient safety. Other highly complex industries like commercial aviation have succeeded in maintaining or even increasing its safety levels despite rapidly increasing passenger figures. Standard operating procedures (SOPs), crew resource management (CRM), as well as operational risk evaluation (ORE) are historically developed and trusted parts of a comprehensive and systemic safety program. If medicine wants to follow this quantum leap towards increased patient safety, it must intensively evaluate the results of other high-reliability industries and seek step-by-step implementation after a critical assessment. Keywords Patient safety Error reduction Standard operating procedures Crew resource management Risk assessment 648 Der Urologe 5 2014

Abb. 1 8 OP-Checkliste der WHO [12] (mit freundlicher Genehmigung). Korrespondenzadressen K.-J. Sommer smacmed, Bad Sulza-Ring 2b, 65520 Bad Camberg sommer@smacmed.de Dr. J. Kranz Klinik für Urologie und Kinderurologie, St. Antonius-Hospital, Akademisches Lehrkrankenhaus der RWTH Aachen, Dechant-Deckers-Straße 8, 52249 Eschweiler jennifer.kranz@saheschweiler.de Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. J. Kranz und J. Steffens geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. K-J Sommer weist auf folgende Beziehung/en hin: Der Autor ist Inhaber von smacmed ( safety management consultants ). smacmed berät Personen und Institutionen im Gesundheitswesen und erhält im Rahmen dieser Beratungen und Vorträge Honorare. Der Autor ist Referent für die EBS Executive Education GmbH Health Care Management Institute Hauptstr. 31 65375 Oestrich- Winkel und erhält in diesem Rahmen ein Honorar. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren. Literatur 1. Bauer H (2010) Cockpit und OP-Saal: Checklisten verbessern Sicherheit. Berlin Medical 7(1):8 2. De Vries EN, Eikens-Jansen MP, Hamersma AM et al (2011) Prevention of surgical malpractice claims by use of a surgical safety checklist. Ann Surg 253:624 628 3. Gaba DM (2010) Crisis resource management and teamwork training in anaesthesia. Br J Anaesth 105(1):3 6 4. Geraedts M (2014) Das Krankenhaus als Risikofaktor, Krankenhaus-Report 2014. Schattauer, Stuttgart, S 3 5. Haynes AB, Weiser TG, Berry WR et al (2009) A surgical safety checklist to reduce morbidity and mortality in a global population. N Engl J Med 360:491 499 6. Helmreich RL, Schaefer HG (1994) Team performance in the operating room. In: Bogner MS (ed) Human error in healthcare. LEA, Mahwah, pp 225 253 7. Inglis M, Sutton J, McRandle B (2007) Human factors analysis of Australian aviation accidents and comparison with the United States, Australian Transport Safety Bureau. Report B2004/0321, p 16 8. Joseph C, Verma R, Chandana CR (2012) Risk perception and safety attitudes in IAF rotary and fixed wing aviators. IJASM 56(2):9 20 9. Nolan T (2000) System changes to improve patient safety. Br Med J 320(7237):771 773 10. Sommer KJ (2012) Aus Fehlern lernen Sicherheitskonzepte der Luftfahrt in der Medizin anwenden. Urologe 51:1533 1540 11. US Department of Transportation, Federal Aviation Administration (2009) Risk Management Handbook. US Department of Transportation, Federal Aviation Administration, Washington, pp 2 3 12. WHO (2008) World Alliance for Patient Safety: WHO surgical safety checklist and implementation manual, 1st edn. WHO/IER/PSP/2008.05, WHO, Genf Kommentieren Sie diesen Beitrag auf springermedizin.de 7 Geben Sie hierzu den Beitragstitel in die Suche ein und nutzen Sie anschließend die Kommentarfunktion am Beitragsende. Der Urologe 5 2014 649