ÜV Internationale Beziehungen, 29.10.02 Geschichte der internationalen Beziehungen: Von den Imperien zu modernen Nationalstaaten Vorbemerkung Zur Erinnerung: Der moderne Nationalstaat (Staatsgewalt, Staatsgebiet, Staatsvolk) ist ein Produkt der Neuzeit! Staatliche Ordnung als Zwang ausübende Organisationen, die innerhalb eines Territoriums in bestimmten Bereichen eine klare Vormacht über alle anderen Organisationen besitzen (Tilly 1995, 1); vgl. auch Weber: legitimes Gewaltmonopol Staatliche Ordnungen (im Gegensatz zu Haushalten oder auf Verwandtschaftsbeziehungen beruhenden Stammesgruppen) die Ausnahme statt die Regel über lange historische Zeiträume Erste rudimentäre Formen staatlicher Ordnung im 6. Jahrtausend v. Chr.
Imperiale Großreiche ( empires, vgl. Doyle 1986) Imperium = Beziehungen politischer Herrschaft und Kontrolle durch eine politisch organisierte Gesellschaft über die souveräne Ausübung politischer Herrschaft (nach innen und außen) anderer politisch organisierter Gesellschaften; kann formell und informell ausgeübt werden Imperiale Großreiche erstreckten sich historisch über kulturell höchst unterschiedliche und sozial sehr heterogene Gesellschaften. Imperiale Herrschaft normalerweise begrenzt durch die Reichweite militärischer Macht; imperialen Herrschern fehlten oft die administrative Kapazität zur effektiven Verwaltung der von ihnen beherrschten Territorien begrenzte Kontrolle eines sozialen und geographischen Raumes, keine klaren Grenzen der Territorien und der politischen Kontrolle, überlappende Herrschaftsstrukturen an der Peripherie der Imperien Antike Großreiche (China, Japan u.a.) entwickelten sich relativ isoliert voneinander, trotz Handel und technologischem Austausch Beispiel 1: Das persische Reich (1.100 600 v. Chr.) - Zentrum im heutigen Iran, erstreckt sich im Westen zum östlichen Mittelmeer, im Süden bis nach Ägypten, im Osten bis Indien - übernimmt die Infrastruktur aus Straßen des assyrischen Reiches - politische Herrschaft als System konzentrischer Kreise: direkte Verwaltung des inneren Kerns; dezentrale Kontrolle außerhalb; quasi-autonome Gesellschaften an der Peripherie, aber immer Drohung imperialer Militärmacht mit Garrisonen an wichtigen Stützpunkten 2
3 Beispiel 2: Das römische Reich (ca. 100 v. Chr. 450 n. Chr.) - Entwicklung und Ausdehnung des Stadtstaates Rom; im Norden und Westen bis zum heutigen Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien; im Süden bis Nordafrika und Ägypten; im Osten bis Iran - Herrschaft beruht nicht allein auf militärischer Zwangsgewalt, sondern Rom wird lange als legitime Autorität von den diversen unterworfenen Gesellschaften angesehen; Verbreitung griechisch-römischer Kultur über Sprachen, römisches Recht; gemeinsame Währung, Maßeinheiten etc. - ähnlich persischem Reich erfolgte römische Herrschaft indirekt; über lokale Herrscher, die von Rom kontrolliert wurden; lokale Gewohnheiten und Identitäten werden erlaubt - politische Herrschaft über Königsherrschaft Aristokratie mit Senat und Konsulen imperiale Kaiserherrschaft - Ende des römischen Reiches als Fall von imperialer Überausdehnung (imperial overstretch; vgl. Kennedy 1987)
Das mittelalterliche Europa als Ordnung überlappender Autoritäten (ca. 500 1.500 n. Chr.) Aufteilung Europas in verschiedene Reiche (Frankreich; Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) verdeckt Tatsache, dass Herrscher wie der deutsche Kaiser kaum politische Autorität im Sinne imperialer Kontrolle ausübten Politische Autorität aufgeteilt und fragmentiert: - politische Macht vor allem bei den lokalen Fürsten und nicht bei dem von ihnen gewählten König; - System der Lehnsherrschaft und Vasallensystem bedingt wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen König/ Kaiser und lokalen Fürsten - Papst und Kirche als oberste geistliche Autorität und Vermittlungsinstanz bei politischen Auseinandersetzungen in einer christlichen Ordnung (Bull 1977, 27) System überlappender politischer Autorität; Souveränität der Herrschaft über Territorium und Bevölkerung existiert nicht, da das Prinzip territorialer politischer Herrschaft mit anderen Prinzipien politischer Herrschaft (geistliche Ordnung; Vasallensystem) konfligiert keine internationalen Beziehungen im modernen Sinn Ständige Instabilität durch partikularistische Bestrebungen und kriegerische Machtkämpfe; Rebellionen von Bauern und städtischen Bürgern gegen Besteuerung und Lehnsherrschaft; Ausdehnung von Handels- und Marktbeziehungen; Machtkampf zwischen Kirche und Staat sowie zentrale Herausforderung der Macht des Papstes durch die Reformation allmähliches Ende der mittelalterlichen Ordnung 4
Stadtstaaten als Vorläufer moderner Staatlichkeit Beispiel 1: Hellas Das antike Griechenland (500 100 v. Chr.) Umgrenztes geographisches Gebiet (untere Balkanhalbinsel sowie sie umgebende Mittelmeerinseln in der Ägäis und Adria) und kulturelle Einheit mit gemeinsamer Sprache und Religion; starke gemeinsame Abgrenzung nach außen gegen die Barbaren (z.b. Perser) aber keine übergreifende staatliche Ordnung, sondern große Zahl unabhängiger Stadtstaaten (Athen, Sparta, Korinth etc.) mit unterschiedlichen Identitäten, religiösen Kulten und politischen Strukturen (Monarchien, Aristokratien, Demokratien ) elaboriertes System internationaler Beziehungen zwischen den Stadtstaaten, aber keine Vorstellung gleicher Rechte und Pflichten oder gleicher Souveränität ; internationale Ordnung beruht auf kulturell-religiöser Gemeinschaft statt auf politisch-rechtlichen Prinzipien Athen (Seemacht) und Sparta (Landmacht) als die machtpolitisch dominierenden Stadtstaaten; Hegemonialkonflikt um die Vorherrschaft, der mit Athens Niederlage 404 v. Chr. endet (vgl. Thukydides 1991 (ca. 410 v. Chr.)) 5
Beispiel 2: Oberitalienische Stadtstaaten der Renaissance (ca. 1300-1500 n. Chr.) Ökonomische Machtbasis aufgrund von Handels- und Finanzmacht (Medici oder Fugger als multinationale Familienunternehmen und Finanzkonglomerate ) Venedig, Florenz, Mailand u.a. brechen aufgrund ihrer ökonomischen Potenziale aus der mittelalterlichen Ordnung und ihren politisch-religiösen Autoritäten Politische Autoritätsstrukturen territorial auf die jeweiligen Städte und ihre Umgebung bezogen internationale Beziehungen entwickeln eine Reihe moderne diplomatischer Praktiken; außerdem Aufrechterhaltung eines, wenn auch prekären Mächtegleichgewichtes am Ende aber militärisch zu schwach und zu zerstritten, um sich gegen die größeren Territorialstaaten des ausgehenden Mittelalters wehren zu können 6
Die Herausbildung moderner Nationalstaaten und des internationalen Systems (ca. 1500-1900) wirtschaftliche Entwicklung + Reformation (allmähliche Trennung von politischer und religiöser Ordnung) + Territorialprinzip der oberitalienischen Renaissance-Städte allmählicher Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung Versuch des Habsburg-Imperiums zur Herrschaft Europas führt zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) mit weitgehender Zerstörung Europas Westfälischer Friede (1648) als Wendepunkt und Beginn der Herausbildung eines Systems territorialer Nationalstaaten (kritisch dazu Osiander 2001): - König herrscht in seinem eigenen Territorium (keine höhere Autorität) - Cuius regio eius religio (der Herrscher bestimmt die Religion seines Gebietes) - Politik des Mächtegleichgewichts: Allianzen zur Verhinderung von Versuchen zur Hegemonie: 1. gegen Spanien-Habsburg (Westfälischer Friede 1648) 2. gegen Frankreich (Wiener Kongressakte 1815) 3. gegen Deutschland (Versailler Vertrag 1919) Allmähliche Herausbildung eines hochkompetitiven und kriegsträchtigen Staatensystems; Kriegführung wichtiger Grund für die Mobilisierung von Ressourcen und die Herausbildung von Nationalstaatlichkeit (Mann 1993; Tilly 1975, 1985) Zwei dominante Staatsformen in Europa 15.-18. Jhdt.: absolutistische Monarchien (Frankreich, Preußen, Spanien, Österreich, Russland, Schweden) und konstitutionelle Monarchien (Großbritannien, Niederlande) 7
8 Absolutismus und die Herausbildung moderner Souveränität: - Unterordnung kleiner und schwacher politischer Einheiten unter eine starke und zentralisierte Zentralgewalt - Herausbildung des Gewaltmonopols nach innen (Gesetz und sanktionsbewehrte Ordnung) und außen (Kampf der Nationalstaaten gegen privatisierte Gewalt, z.b. Piraten, vgl. Thomson 1994) - Herausbildung einer kleinen Anzahl rivalisierender Großmächte Herausbildung der modernen internationalen Beziehungen auf der Basis souveräner Staaten Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen!
Literatur Bull, Hedley 1977: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York. Doyle, Michael W. 1986: Empires, Ithaca NY. Kennedy, Paul 1987: The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York. Mann, Michael 1993: The Sources of Social Power, Vol. 2: The Rise of Classes and Nation-States 1760-1914, Cambridge. Osiander, Andreas 2001: Sovereignty, International Relations, and the Westphalian Myth, in: International Organization 55: Nr. 2, 251-287. Thomson, Janice E. 1994: Mercenaries, Pirates, and Sovereigns. State-Building and Extraterritorial Violence in Early Modern Europe, Princeton NJ. Thukydides 1991 (ca. 410 v. Chr.): Geschichte des Peloponnesischen Krieges, München. Tilly, Charles 1975: The Formation of the Nation State, Princeton, NJ. --- 1985: War Making and State Making as Organized Crime, in: Bringing the State Back In, hrsg. von Peter B. Evans, Dietrich Rueschemeyer und Theda Skocpol, Cambridge, --- 1995: Coercion, Capital, and European States, AD 900-1992, Cambridge MA. 9