SACHVERSTÄNDIGENRAT zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Sektorenübergreifender und populationsorientierter Qualitätswettbewerb Berlin, 18. September 2012 Prof. Dr. Ferdinand M. Gerlach, MPH
Von der sektoralen zur sektorenübergreifenden und populationsorientierten Versorgung SGA 2009
Beispiel: Patient mit kolorektalem Karzinom Hausarzt/ärztin findet Blut im Stuhl Behandlung von Nebenwirkungen, Nachsorge, Ko- / Multimorbidität Niedergelassene/r Gastroenterologe/in: Koloskopie Krankenhaus: OP und adjuvante Chemotherapie Pflege: ambulant, stationär Niedergelassene/r Onkologe/in: Nachsorge (CEA, CT) Uniklinik: erneute OP wg. Komplikationen
sektorenübergreifend Ist-Zustand bisher Kein adäquates Schnittstellenmanagement zwischen ambulanter und stationärer Versorgung: Versorgungskontinuität gefährdet Stationär: eher externe Qualitätssicherung Ambulant: eher internes Qualitätsmanagement Versorgung und Qualitätssicherung sind nach Sektoren getrennt
2. Qualitätstransparenz Ist-Stand Qualitätsmanagement/-sicherung: Status quo Stationär: externe QS nach 137a SGB V + alle Krankenhäuser, transparent auf Operationen fokussiert, bisher nicht zur Selektion genutzt (weder Einweiser noch Patienten) Ambulant: einrichtungsübergreifende QS und Qualitätsmanagement in der Praxis nach 135a SGB V keine Transparenz, zu kleine Fallzahlen + Lernen von den Besten in (strukturierten) Qualitätszirkeln Pflege: Pflegenoten des MDK nach 114 SGB XI + transparent, zur Selektion genutzt nur Stichprobenprüfung, Validitätsprobleme, hoher Dokumentationsaufwand
1. Qualitätsmessung Qualitätsindikatoren: Was wird gemessen? Strukturindikatoren (z.b. Öffnungszeiten, technische Ausstattung, Ausbildung des Personals) Prozessindikatoren (z.b. Leitlinientreue) Ergebnisindikatoren (z.b. Sterbefälle, Komplikationsraten)
Qualitätsmessung Validität Qualitätsindikatoren: Grenzen Positive Ausprägungen von Struktur- und Prozessindikatoren sind nicht gleichbedeutend mit besserer Ergebnisqualität (z.b. Überversorgung infolge Leitlinientreue bei Mehrfacherkrankten) Zurechenbarkeit: Ausprägung von Ergebnisindikatoren wird nicht nur durch einzelnen Arzt / einzelne Klinik beeinflusst (u.a. andere Ärzte, andere Kliniken, Patient)
Qualitätsmessung Reliabilität Fallzahlproblematik Von 100 Knie-TEPs 2010 wurden 1,3 wegen Komplikationen erneut operiert*. Um Qualitätsunterschiede (und nicht Zufallsverteilungen) zu erkennen, braucht ein Krankenhaus mindestens 447 Knie-TEPs. Diese Fallzahl erreichen nur 2,5% aller Häuser.* Je geringer das Risiko, desto höher die statistisch erforderliche Mindestfallzahl: beim zentralen Ergebnisindikator Sterblichkeit erreichen nur Herzoperationen ausreichende Fallzahlen** In der niedergelassenen Praxis sind die Fallzahlen für Ergebnisindikatoren nahezu generell zu klein. * AQUA (2011): Bericht zur Schnellprüfung und Bewertung der Indikatoren der externen stationären Qualitätssicherung hinsichtlich ihrer Eignung für die einrichtungsbezogene öffentliche Berichterstattung; Anhang 3 ** AQUA (2011): Qualitätsreport 2010
Ausgangspunkt Der Qualitätswettbewerb fristet in der deutschen Gesundheitsversorgung auch im Vergleich zum Mengen- bzw. Preiswettbewerb noch immer ein Schattendasein.
Preis- und Qualitätswettbewerb: Schieflage Gesundheitsversorgung Qualitätswettbewerb Preiswettbewerb
Empfehlungen
Qualitätswettbewerb als zweite Säule Gesundheitsversorgung Qualitätswettbewerb Preiswettbewerb
Qualitätswettbewerb Voraussetzungen für Qualitätswettbewerb 1. Qualitätsmessung 2. Qualitätstransparenz 3. Vergleich 4. Qualitätsverbesserung a) Informiertere Entscheidungen (Selektion) durch Patienten, Einweiser oder Selektivvertragspartner b) Verbesserung durch gegenseitiges Lernen von den Besten ( Benchmarking )
sektorenübergreifend Empfehlung: gemeinsam! Versorgung und Qualitätssicherung gemeinsam gestalten und verantworten: 1.Gemeinsam messen (sektorenüberschreitende, integrierte Versorgung) 2.Nach gleichen Kriterien messen (sektorengleich; neuer 116b SGB V, ambulantes Operieren) 3.Gegenseitig messen (Follow up im anderen Sektor)
Sektorenübergreifende Indikatoren 1. Lebensdauer/- erwartung des Patienten 2. Lebensqualität des Patienten
populationsbezogen Populationsorientierte Indikatoren Bezogen auf eine Population: z.b. alle Einwohner eines Kreises oder Regierungsbezirks oder alle eingeschriebenen Versicherten eines Ärzte- / Versorgungsnetzes Nicht nur für Patienten / eine Praxis / eine Klinik Auch Prävention oder Unterversorgung wird erfasst Gemeinsam für ambulante, stationäre und pflegerische Versorgung Übernahme von gemeinsamer Qualitätsverantwortung (wie heute nur für Klinikärzte innerhalb eines Hauses) wird gezielt gestärkt Qualitätsvergleiche zwischen Regionen möglich
Beispiel für Regionenvergleich patientenrelevanter Endpunkte Ursachen? (Bundesländer)
Beispiel verringerbare Sterblichkeit Ursachen: Kodierung? Sozioökon. Einflüsse? Versorgungsstruktur? (Regierungsbezirke) Quelle: eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt 2010
Populationsorientierter Qualitätswettbewerb Stadt / Ballungsräume: z.b. Wettbewerb um Versicherte / Patienten zwischen verschiedenen integrierten Versorgungsnetzen bzw. Selektivvertragsangeboten unterschiedlicher Krankenkassen Land / unterversorgte Regionen: eher Vergleich von Landkreisen bzw. Regierungsbezirken bzw. kommunal koordinierten Angeboten über Benchmarking (Risiko-) Adjustierung nicht nur nach Alter, Geschlecht, Fallschwere, sondern auch nach sozioökonomischem Status Individualbezug datenschutzrechtlich schwierig Deprivationsindex: eventuell nach Postleitzahlen
Vermeidbare Krankenhausaufnahmen Infolge unerwünschter Arzneimittelwirkungen (z.b. durch Wechselwirkungen, Überdosierungen) Bei Entgleisungen von chronischen Erkrankungen Indikator für Versorgung und Koordination im ambulanten Sektor Indikator für Pflege(-heime)
Datensparsamkeit: kolorektales Karzinom Qualitätssicherung soweit möglich mit Routine- bzw. Abrechnungsdaten Reduktion von Berichtspflichten: Vereinheitlichung von externer Qualitätssicherung und Krebsregistern Überlebensraten werden durch Krankenkassen erfasst
Weitere Empfehlungen (I.) Dokumentation von ungeplanten Re-Hospitalisierungen mit Aufnahme in Qualitätsberichterstattung Populationsbezogene Qualitätsindikatoren für ambulante Versorgung mit Schwerpunkt auf chronischen Erkrankungen Fokus auf patientenrelevanten Ergebnisindikatoren (Sterblichkeit, Krankenhausaufnahmen, Amputationen, Entgleisungen, Schocks etc.) Einbezug der Zahnheilkunde
Weitere Empfehlungen (II.) Einheitliche Qualitätssicherungs-Richtlinien für spezialfachärztlichen Versorgungsbereich Kein Wettbewerb der Qualitätsmesssysteme: Qualitätsinformationen sind Infrastruktur im Sinne eines Kollektivguts. Wichtig: kontinuierliche wissenschaftliche Weiterentwicklung Indikatoren auch für Versorgungsforschung und Evaluation von Modellvorhaben und Netzen nutzen
Fazit Qualitätswettbewerb um integrierte, sektorenübergreifende, populationsbezogene Versorgung