Dynamografischer Messplatz zur Tiefstart-Leistungsdiagnose

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235 Dynamografischer Messplatz zur Tiefstart-Leistungsdiagnose Veit Wank, Hendrik Heger & Michael Schwarz Universität Tübingen, Institut für Sportwissenschaft Problemstellung Mit dem Tiefstart verfolgt die Sprinterin bzw. der Sprinter drei Zielstellungen: die Startaktion muss in möglichst kurzer Zeit ablaufen (1), die Horizontalgeschwindigkeit soll maximiert werden (2), wobei die Abdruckrichtung im Interesse der nachfolgenden Beschleunigungsphase zu optimieren ist (3). Die Beurteilung der Startqualität kann zuverlässig anhand der Erfüllung dieser drei Zielkriterien erfolgen. Im Mittelpunkt der Projektarbeit stand daher zunächst die Entwicklung und Evaluation eines Messplatzes, mit dem leistungsrelevante biomechanische Parameter des Tiefstarts wie Reaktionszeit, Aktionszeit, Geschwindigkeit beim Verlassen des Blocks, Abdruckrichtung und die separaten Kraftanteile beider Beine als Sofortinformation erfasst und bewertet werden können. Beobachtungen internationaler Spitzensprinterinnen und -sprinter belegen, dass die Tiefstarttechnik in hohem Maße athletenspezifisch ist. Neben allgemeinen grundsätzlichen Empfehlungen (z. B. Heß & Gundlach, 1991) ist es schwierig, individualspezifische Kriterien für die optimale Position in der Fertig-Stellung zu formulieren. Die Festlegung der Startposition anhand von Extremitätenwinkeln und Körperteilpositionen ist sicher umstritten, da Weltklasseathletinnen und -athleten gute Startleistungen aus Startpositionen erzielen können, die nicht ins Lehrbuchschema passen. In der Literatur sind verschiedene Verfahren zum Messen der Reaktionskräfte am Startblock beschrieben, die als Basis für unser Messkonzept dienten. Bislang publizierte Daten zeigen, dass für eine umfassende Analyse sämtliche Kraftangriffspunkte beim Start erfasst werden müssen, um anhand vollständiger dynamografischer Daten Rückschlüsse auf die Teilbewegungen des Sprinters ziehen zu können. Diesen Anspruch konnten bisherige Studien nicht erfüllen. Es wurden ein oder zwei Kraftkomponenten beider Beine entweder in der Summe (Block auf Kraftmessplatte, z. B. Coh et al., 2007) oder links und rechts getrennt (instrumentierter Startblock bzw. Start von zwei Kraftmessplatten, Komi et al., 2009) gemessen. Der Fokus unseres Projekts war deshalb gezielt darauf ausgerichtet, die Kräfte von Beinen und Armen in horizontaler und vertikaler Richtung vollständig zu erfassen. Methode Kernbestandteil des Tiefstartmessplatzes ist eine zweigeteilte Zweikomponenten-Kraftmessplatte zur Erfassung der horizontalen (FX) und vertikalen Bodenreaktionskräfte (FZ) separat für beide Beine mit individuell einstellbaren Startblockelementen. Eine zweite Zweikomponenten-Kraftmessplatte registriert die Handauflagekräfte. Beide Messplatten sind Eigenentwicklungen des IfS Tübingen. Sie basieren auf DMS-Sensoren der Fa. Burster Gernsbach und integrierten Messverstärkern der Fa. Hottinger Darmstadt. Zur Verankerung der Kraftmessplatten im

236 Dynamografischer Messplatz... Boden wurden spezielle Fundamente in die Leichtathletikbahn des Tübinger Universitätsstadions integriert (Abb.1). Abb.1. Messplatz zur Erfassung der Bodenreaktionskräfte beim Tiefstart: Sensorebenen der geteilten Zweikomponenten-Kraftmessplatte für die Beinkräfte (oben), Bodenfundament im Rohbau (links unten), in die Laufbahn integrierte Kraftmessplatten für Bein- und Handkräfte (rechts unten). Bei den Tiefstartanalysen werden neben den Zeitverläufen der vertikalen und horizontalen Bodenreaktionskräfte des linken und rechten Beines sowie der Hände auch der Startimpuls und die TTL-Bildwechselimpulse zur Synchronisation von Videokameras (100 Hz, Typ Basler A601f) aufgezeichnet. Die Laufzeiten für 5 m, 10 m und alle weiteren 10-m-Abschnitte (je nach Laufstrecke) werden mit Doppellichtschranken registriert. Für die Sofortauswertung der Tiefstartmessdaten wurde eine spezielle Auswerteroutine entwickelt, mit der unmittelbar nach der Messung alle Diagramme der Kraftverläufe, die daraus resultierenden Kraftstöße und die berechneten biomechanischen Parameter in einer Übersicht dargestellt werden können (Abb.2). Die Kraftmessplatten wurden in horizontaler Richtung mittels Eichsensoren und in vertikaler Richtung mittels Eichgewichten statisch für einen Messbereich bis 2500 N (FX) und 5000 N (FZ) kalibriert. Die Ergebnisse der Bodenreaktionskraftmessungen wurden mittels 3D-Videokinematik anhand von Vergleichen der GeschwindigkeitsZeit-Verläufe (Integration der Kraftverläufe der Sensoren versus KSP-Geschwindigkeit aus der Videomessung) evaluiert.

Dynamografischer Messplatz... 237 Ergebnisse und Diskussion Die Bedeutung der Handkräfte für die KSP-Beschleunigung wird von den meisten Autoren als vernachlässigbar beschrieben (z. B. Gutierrez-Davilla et al., 2006 oder Baumann et al., 1976). Messverläufe von Komi et al. (2007) suggerieren jedoch, dass die Handkräfte für die Beurteilung des Starts wesentlich sind. Sie können unter statischen Bedingungen anhand der Teilkraftbilanzen der Beine abgeschätzt werden. In vertikaler Richtung gehen von den Armen zu Beginn der Startphase in der Regel nicht zu vernachlässigende Impulse aus, die die vertikale Blockgeschwindigkeit und den KSP-Richtungswinkel erheblich beeinflussen. Abb.2 zeigt ein typisches Messprotokoll für einen Tiefstart mit allen Kraftverläufen und Ergebnisparametern. Dabei sind für den Startwinkel zwei Werte angegeben: zum einen der Richtungswinkel am Wendepunkt der KSP-Bahn (Maximalwinkel) und in Klammern der KSP- Bahnwinkel beim Verlassen des Blocks. Die Richtung der KSP-Bewegung ändert sich am Ende der Abdruckphase aufgrund der Schwerkraft bei stark abnehmenden Vertikalkräften relativ schnell, so dass der KSP-Bahnwinkel beim Verlassen des Blocks nicht sehr zuverlässig bestimmt werden kann. Abb.2. Messprotokoll eines Tiefstarts mit allen Vertikalkräften (oben) und Horizontalkräften (unten) inklusive der Darstellung der Gesamtkraftstöße (farbige Flächen) sowie der Ergebnisparameter.

238 Dynamografischer Messplatz... Abb.3. Bildserie einer Startaktion mit eingeblendeten Kraftrichtungsvektoren und KSP-Bahn. Am KSP sind jeweils die Vektoren der resultierenden Beschleunigungskräfte (gelb) unter Berücksichtigung der Schwerkraft eingezeichnet. Da aus den Reaktionskräften alle Parameter der KSP-Bewegung während der Startaktion berechnet werden können, sind aufwendige kinematische Bewegungsanalysen nur noch für gezielte wissenschaftliche Fragestellungen in Bezug auf den Einfluss von Gelenkwinkelveränderungen bzw. für die Berechnung von Gelenkmomenten notwendig. Die Verfügbarkeit der Startparameter als Sofortinformation hat sich in der Praxis bereits bewährt. Um die Kraftwirkung in Zusammenhang mit dem Bewegungsablauf zu veranschaulichen, kann der Bewegungsablauf anhand von Videobildern mit eingeblendeten Kraftvektoren dargestellt werden (Abb.3).

Dynamografischer Messplatz... 239 Literatur Baumann, W. (1976). Kinematic and dynamic characteristics of the sprint start. In P. Komi (Hrsg.), Biomechanics V Vol. B. (194-199). Baltimore: University Park Press. Coh, M., Peharec, S. & Bacic, P. (2007). The sprint start: Biomechanical analysis of kinematic, dynamic and electromyographic parameters. New studies in athletics, 22, 29-38. Gutierrez-Davilla, M., Dapena, J. & Campos, J. (2006). The effect of muscular pretensing on the sprint start. Journal of applied biomechanics, 22, 194-201. Heß, W.D. & Gundlach, H. (1991). Leichtathletik - Sprint, Lauf, Gehen. Berlin: Sportverlag. Komi, P.V., Ishikawa, M. & Salmi, J. (2009). IAAF Sprint Start Projekt: Is the 100 ms limit still valid? New studies in athletics, 24, 37-47.