Schulische Leistung und Begabung

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Transkript:

19 2 Schulische Leistung und Begabung Irina Bosley, Erich Kasten 2.1 Hoch- und Minderbegabung bei Kindern 22 2.1.1 Merkmale hochbegabter Kinder 22 2.1.2 Merkmale minderbegabter Kinder 23 2.2 Entscheidung über eine geeignete Schule 25 Literatur 26 I. Bosley, E. Kasten, Intelligenz testen und fördern, DOI 10.1007/978-3-662-48954-3_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016

20 Kapitel 2 Schulische Leistung und Begabung 2 Es kommt vor, dass ein Kind trotz hervorragenden Ergebnissen in einem IQ-Test sein testdiagnostisch erfasstes Potenzial nicht in eine entsprechend gute schulische Leistung umsetzen kann. Ebenso kann es sein, wie schon David Wechsler bei seinen Rekruten bemerkte, dass jemand im IQ-Test völlig versagt, aber mit seinem Leben prima zurechtkommt, mehr Freunde hat, reich wird und schließlich auf ein viel zufriedeneres Leben zurückschaut als sein deutlich intelligenterer Schulkamerad. Der pure Intelligenzquotient alleine erlaubt damit also nur eine eingeschränkte Prognose für den Lebenserfolg. Wenn Schulprobleme auftreten, dann darf die Intelligenzdiagnostik nur ein Baustein im Puzzle der Gesamtdiagnostik sein. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist Intelligenz nur ein Faktor, der für den Schul- und Lebenserfolg ausschlaggebend ist. Das Spannungsfeld zwischen dem intellektuellen Potenzial und tatsächlich gezeigtem schulischen Verhalten wird durch die Berücksichtigung solcher weiterer Faktoren erklärt. Aufbauend auf aktuellen psychologischen Theorien wurde ein Modell entwickelt, das Wiener Diagnosemodell zum Hochleistungspotenzial, welches schulische Hochleistung mit intellektuellen Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmalen und Bedingungen des schulischen und familiären Anregungsmilieus in einen Zusammenhang bringt. Somit wird eine ganzheitliche Aussage Aspekte möglich, die Schulleistungen bedingen. Dieses Modell lässt sich im Prinzip aber ebenso für Versagen in der Schule anwenden, daher soll es hier kurz vorgestellt werden. Die Autoren des Münchner Hochbegabungsmodells Kurt Heller, Christoph Perleth und Ernst Hany (1994;. Abb. 2.1) vertreten die Auffassung, dass sich eine umfassende Begabungsdiagnose nicht auf eine reine Messung des IQ beschränken dürfe, sondern, dass je nach Problem- und Fragestellung weitere relevante Begabungsbereiche sowie nicht-kognitive Persönlichkeits- und Umweltmerkmale berücksichtigt werden müssen, um eine differenzielle Beratung und Intervention anbieten zu können. Leistungen sind nicht nur das Produkt eines entsprechenden Begabungspotenzials, sondern sie sind auch von nicht-kognitiven Persönlichkeits- und Umweltmerkmalen geprägt. Ob und in welchem Ausmaß ein Kind das Potenzial verwirklichen kann, das in ihm steckt, ergibt sich aus seinen intellektuellen Fähigkeiten, den Persönlichkeitsmerkmalen und dem Anregungsmilieu der Schule und Familie (. Abb. 2.1). Die intellektuellen Fähigkeiten eines Kindes sowie seine leistungsbezogenen Persönlichkeitsmerkmale können sich nur in einer für das Kind optimalen Lern- und Entwicklungsumwelt entsprechend entfalten. Dabei gilt es, diese Lern- und Entwicklungsumwelten ständig und flexibel an den Entwicklungsstand des Kindes anzupassen. Anregungsmilieu, intellektuelle Fähigkeiten sowie Persönlichkeitsvariablen beeinflussen sich dabei in ihrer Entfaltung bzw. Nichtentfaltung wechselwirkend alle drei Bereiche müssen also als Voraussetzung zur Erbringung von Hochleistung begutachtet werden. Die einzelnen Komponenten lassen sich wie folgt beschreiben: Begabungsfaktoren Hinsichtlich der Begabungsfaktoren wird eine breite Palette von Bereichen identifiziert, die gleichberechtigt nebeneinander stehen. Diese Faktoren sind als Potenziale zu verstehen. Hierzu gehören etwa musikalische, künstlerische, sprachliche oder mathematische Begabungen. Diese Begabungsfaktoren sind zumindest teilweise von den Eltern vererbt worden. Persönlichkeitsmerkmale Hierzu gehören Bereiche wie Konzentrationsfähigkeit, natürliche Neugier und insbesondere Motivation. Sich selbst motivieren zu können heißt, Leistungsbereitschaft und Begeisterungsfähigkeit aus sich selbst heraus entwickeln zu können. Diese Fähigkeit ist besonders wichtig, wenn ein Fach schwierig wird oder wenn die Dinge anders laufen als geplant. Wer sich selbst motivieren kann, verfügt über eine höhere Frustrationstoleranz und

2 Schulische Leistung und Begabung 21 2 Leistungspotenzial des Kindes Begabungsfaktoren intellektuelle Fähigkeiten kreative Fähigkeiten musikalische Fähigkeiten psychomotorische Fähigkeiten künstlerische Fähigkeiten praktische Fähigkeiten Persönlichkeitsmerkmale Interesse und Neugier Leistungsmotivation schulischer Ehrgeiz Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft Arbeitstempo und Sorgfalt Selbstständigkeit Stressbewältigung Prüfungsangst schulisches und familiäres Umfeld familiäres Lebensumfeld Klassenklima soziales Wohlbefinden mit Gleichartigen kritische Lebensereignisse.. Abb. 2.1 Auszüge aus dem Münchner Hochbegabungsmodell und dem Wiener Diagnosemodell zum Hochleistungspotenzial findet bei Rückschlägen und Enttäuschungen immer wieder die Kraft zum Weitermachen. Dazu gehört auch, dass man in der Lage ist, Gratifikationen hinauszuschieben, um auf ein späteres Ziel hinzuarbeiten. Für viele Leistungen ist diese Fähigkeit sehr wichtig, angefangen beim Durchhalten einer Diät bis hin zum Erlangen des Abiturs. Kinder, denen man diese Fähigkeit frühzeitig beibringt, sind im späteren Leben durchsetzungsfähiger und selbstbewusster und werden besser mit Frustrationen fertig. Dabei ist es wichtig, die eigenen Gefühle und Stimmungen so zu handhaben, dass sie angemessen sind. Wer seine Gefühle, wie z.b. Denkblockaden oder Prüfungsangst, nicht im Griff hat, ist ihnen ausgeliefert und nicht mehr in der Lage, seine Fähigkeiten optimal zu nutzen. Schulisches und familiäres Umfeld Die familiäre Lernumwelt und das häusliche Klima stellen ganz entscheidende Voraussetzungen für eine begabungsgerechte Entwicklung dar. Viele Eltern beschäftigen sich gern mit ihrem Kind, unterstützen es, lenken seine Aufmerksamkeit behutsam auf bestimmte Themen und gehen auf seine Gefühle ein. Das Kunststück der Eltern besteht darin, neue Anreize zu bieten, ohne das Kind mit Anregungen zu überfluten. Wenn Sie sich dabei auf Ihre elterliche Intuition, Vernunft und Beobachtungsgabe verlassen, liegen Sie meist richtig. Je mehr Freiräume ein Kind hat und je intensiver es seine Umwelt erforschen kann, umso wissbegieriger wird es und damit auch klüger. Das Beste, was Eltern tun können, um die Denk-

22 Kapitel 2 Schulische Leistung und Begabung 2 fähigkeit ihres Kindes zu fördern, ist: Wissen vermitteln, Fragen anregen und beantworten, ein spannendes Umfeld schaffen und das Gedächtnis trainieren. Die schulische Umwelt soll so gestaltet sein, dass die Lernbedürfnisse der Kinder berücksichtigt werden. Darüber hinaus spielt das Klassenklima eine wichtige Rolle für eine begabungsfreundliche Lernkultur. Die Persönlichkeitsfaktoren des Kindes und die Umweltfaktoren beeinflussen sich wechselseitig. Diese Faktoren fördern die Intelligenzentwicklung oder hemmen sie. iirichtig fördern Genau richtig fördern Sie Ihr Kind, wenn Sie vergnügt mit ihm umgehen und es auf seine Entdeckungsreise in die Welt begleiten und ermutigen. Zu den fördernden Einflüssen gehören Lob, Anreiz, Ehrgeiz, Entscheidungsfreiheit, Anerkennung, das Zulassen von Fehlern, finanzielle Sicherheit, die Akzeptanz von Interessen und individuelle Förderungsmöglichkeiten. Hemmende Einflüsse sind Verweis, Tadel, Strafe, Langeweile, mangelndes Selbstwertgefühl, mangelnder Ehrgeiz und geringe Belastbarkeit. Kommunikations- und Integrationsfähigkeit sind in diesem Zusammenhang wichtig, um Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen zu knüpfen und dauerhaft aufrechtzuerhalten. Solche Menschen sind beliebt, sie können zwischenmenschliche Beziehungen angenehm gestalten, besitzen Führungskompetenz und können andere mobilisieren, beeinflussen und überzeugen. Sie können sich einerseits klar und verständlich ausdrücken und ihre Meinung übermitteln, andererseits sind sie in der Lage, anderen Menschen aktiv und aufmerksam zuzuhören und sie zu verstehen. 2.1 Hoch- und Minderbegabung bei Kindern 2.1.1 Merkmale hochbegabter Kinder Viele Untersuchungen zeigten, dass Lehrer und Erziehungspersonal nur in ungefähr der Hälfte der Fälle eine Hochbegabung bei Kindern erkennen können. Die meisten Hochbegabten sind schulisch angepasst und unauffällig. Bei den Kindern finden sich häufig für Eltern recht gut erkennbare Anzeichen, die auf eine höhere Begabung bzw. Hochbegabung hindeuten können. Achten Sie bei Ihrem Kind doch einmal darauf, ob Sie einige der folgenden Eigenschaften beobachten können. Diese könnten ein wichtiger Hinweis auf eine höhere Begabung oder mögliche Hochbegabung sein: 44Das Kind überspringt ganze Entwicklungsphasen. Es lernt überdurchschnittlich früh zu laufen und überspringt häufig Entwicklungsschritte, wie z.b. das Krabbeln. 44Auffälliges Sprachverhalten: Das Kind beginnt früh zu sprechen, bildet schnell ganze Sätze und verfügt früh über einen großen Wortschatz. 44Das Kind zeigt frühzeitig ein großes Interesse an seiner Umgebung. 44Gutes Gedächtnis und eine auffällig gute Beobachtungsgabe. 44Frühes Interesse an Zahlen und Buchstaben sowie an Symbolen und Zeichen. 44Besondere Sensibilität. 44Das Kind hinterfragt viel und gibt sich mit Entscheidungen nicht zufrieden. Gleichzeitig verblüfft es mit seinen Fragestellungen und seinem Wissensdurst. 44Das Kind sucht Kontakt zu Älteren. Es spielt und unterhält sich lieber mit Erwachsenen oder älteren Kindern als mit Gleichaltrigen. 44Frühes selbstständiges Erlernen von Rechnen, Schreiben oder Lesen.

23 2 2.1 Hoch- und Minderbegabung bei Kindern Einige der genannten Merkmale kann man bereits in der frühen Kindheit beobachten. Ein gutes Gedächtnis, Aufmerksamkeit, starker Erkundungsdrang und die Effizienz der Informationsverarbeitung können Hinweise auf eine hohe intellektuelle Begabung sein. Intelligenztests sind für die Identifikation der Hochbegabung eine wichtige diagnostische Methode. Sie sollten aber im Rahmen einer diagnostischen Abklärung nicht als einzige Möglichkeit angesehen werden. So kann eine Intelligenzdiagnostik einerseits eine wichtige objek tive Aussage über das intellektuelle Begabungsniveau eines Kindes liefern, sie ist andererseits aber in ihrer Aussagekraft für die Planung des konkreten pädagogischen Vorgehens zur Förderung des Kindes in Kita oder Schule begrenzt. Psychodiagnostische Untersuchungen machen nur dann Sinn, wenn in einer bestimmten Situation eine konkrete Frage beantwortet werden muss. Es kann sich z.b. um die Möglichkeit handeln, dass ein Kind vorzeitig eingeschult werden oder eine Klasse überspringen kann. In diesem Fall soll geklärt werden, ob die intellektuelle Begabung des Kindes ausreicht, um in der höheren Klasse erfolgreich mitarbeiten zu können. Oftmals werden bereits verschiedene Indizien vorliegen, wenn die Frage nach bestimmten Fördermaßnahmen aufkommt, wenn z.b. wenn ein fünfjähriges Kind bereits lesen kann. In vielen Fällen ist zur Absicherung eine Überprüfung der Begabung mit einem standardisierten IQ-Test durch einen Experten sinnvoll. Manchmal ist die Situation auch weniger eindeutig, z.b. wenn ein Schüler zwar einen sehr begabten Eindruck macht, dennoch aber nur schwache Schulleistungen erbringt. In solchen Fällen ist eine sorgfältige psychologische Diagnostik besonders wertvoll, um dem Kind eine angemessene Förderung zu bieten. Viele Fördereinrichtungen verlangen zudem eine durch einen Intelligenztest belegte Hochbegabung, bevor sie ein Kind aufnehmen. 2.1.2 Merkmale minderbegabter Kinder Eine Minderung der Intelligenz kann unterschiedliche Ursachen haben. Leichte Formen der geistigen Retardierung beruhen überwiegend auf genetischen Faktoren. Schwächen in Teilbereichen des kognitiven Leistungsvermögens sind häufige Folge von Geburtskomplikationen, insbesondere Sauerstoffmangel bei der Entbindung. Hiervon erholt sich das kindliche Gehirn zwar in der Regel erstaunlich gut wieder, es können aber minimale Dysfunktionen nachbleiben, die sich dann im Versagen in Teilbereichen niederschlagen, etwa einer Rechenschwäche oder einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Schwere Schäden können verursacht werden, wenn die schwangere Mutter giftige Substanzen aufgenommen hat, etwa die Alkohol-Embryopathie einer alkoholsüchtigen Mutter. Auch bestimmte Viruserkrankungen können, besonders am Anfang der Schwangerschaft, dazu führen, dass das Gehirn sich nicht richtig entwickelt. Auch gesund geborene Kinder können, etwa als Folge eines Unfalls mit Schädel-Hirn-Trauma, Intelligenzschwächen entwickeln. Der durchschnittliche IQ liegt, wie oben erörtert, zwischen 85 115. Im Bereich von 70 84 spricht man von einer Lernbehinderung. Unter Intelligenzminderung oder Minderbegabung versteht man eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehengebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.b. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. Im Gegensatz zur Hochbegabung stellt eine Minderbegabung eine Störung dar, die auch in der»internationalen Klassifikation psychischer Störungen«(ICD-10) erfasst wird. Es gibt also sehr genaue Diagnosekriterien, die sich allerdings stark an den testmäßig erfassbare Intelligenzquotienten orientieren.

24 Kapitel 2 Schulische Leistung und Begabung 2.. Tab. 2.1 Formen der Intelligenzminderung nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10; Dilling et al. 2013) Leichte Intelligenzminderung (Debilität, leichte geistige Behinderung) IQ-Bereich von 50 69 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 9 bis unter 12 Jahren). Lernschwierigkeiten in der Schule. Viele betroffene Erwachsene können arbeiten, gute soziale Beziehungen unterhalten und ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten. Mittelgradige Intelligenzminderung Schwere Intelligenzminderung Schwerste Intelligenzminderung Dissoziierte Intelligenz Andere Intelligenzminderung IQ-Bereich von 35 49 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 6 bis unter 9 Jahren). Deutliche Entwicklungsverzögerung in der Kindheit. Die meisten Betroffenen können ein gewisses Maß an Unabhängigkeit erreichen und eine ausreichende Kommunikationsfähigkeit und Ausbildung erwerben. Erwachsene brauchen in unterschiedlichem Ausmaß Unterstützung im täglichen Leben und bei der Arbeit. IQ-Bereich von 20 34 (bei Erwachsenen Intelligenzalter von 3 bis unter 6 Jahren). Andauernde Unterstützung ist notwendig. IQ unter 20 (bei Erwachsenen Intelligenzalter unter 3 Jahren). Die eigene Versorgung, Kontinenz, Kommunikation und Beweglichkeit sind hochgradig beeinträchtigt. Es besteht eine deutliche Diskrepanz (mindestens 15 IQ-Punkte) z.b. zwischen Sprach-IQ und Handlungs-IQ. Diese Kategorie soll nur verwendet werden, wenn die Beurteilung der Intelligenzminderung mithilfe der üblichen Verfahren wegen begleitender sensorischer oder körperlicher Beeinträchtigungen besonders schwierig oder unmöglich ist, wie bei Blinden, Taubstummen, schwer verhaltensgestörten oder körperlich behinderten Personen. Den Begriff»Intelligenzstörung«definiert die ICD-10 folgendermaßen:»ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten, die sich in der Entwicklungsperiode manifestieren und die zum Intelligenzniveau beitragen, wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten.«Eine Intelligenzstörung kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten. Der Schweregrad einer Intelligenzstörung wird übereinstimmungsgemäß anhand standardisierter Intelligenztests festgestellt. Diese können durch Skalen zur Einschätzung der sozialen Anpassung in der jeweiligen Umgebung erweitert werden. Diese Messmethoden erlauben eine ziemlich genaue Beurteilung der Intelligenzstörung. Die Diagnose hängt aber auch von der Beurteilung der allgemeinen intellektuellen Funktionsfähigkeit durch einen erfahrenen Diagnostiker ab. Es werden in der ICD-10 folgende Unterteilungen gemacht (. Tab. 2.1). Die Klassifikation im ICD-10 zielt stark auf das Ergebnis einer Intelligenzprüfung des Betroffenen ab, was im Einzelfall schwierig ist, da die unteren Intelligenzbereiche testdiagnostisch kaum noch zu prüfen sind, weil die betroffenen Personen sich sprachlich nicht mehr angemessen äußern können. Hier kann man die Angehörigen bzw. auch Pflegekräfte oder Lehrer befragen. Ein Verfahren, das sich zur Diagnose von Fähigkeiten bei Menschen mit geistiger Retardierung besonders gut eignet, sind die PAC-Bögen (Pädagogische Analyse und Curriculum für geistig Behinderte;. Abb. 2.2) von Günzburg. Hier werden Dutzende Verhaltensweisen erfragt (z.b. ob ein Kind in der Lage ist, sich selbst anzuziehen, selbst kleinere Wege gehen kann, mit Geld umgehen kann), aber es werden auch Persönlichkeitsanteile erfragt, etwa Sozialverhalten, Ehrlichkeit usw.

2.2 Entscheidung über eine geeignete Schule 25 2 Persönlichkeitsbild Geschlechtsverhalten Mitteilungsbedürfnis Temperament Wahrheitsliebe Anpassung Ehrlichkeit Selbständigkeit in persönlicher Pflege Zugänglichkeit Einstellung zur Arbeit Geltungsbedürfnis Zusammenarbeit Soziale Beziehungen Verhalten der Gruppenzugehörigen.. Abb. 2.2 Auswertung eines PAC-Bogens (Pädagogische Analyse und Curriculum für geistig Behinderte). Je weiter nach außen die Kreissegmente schraffiert werden können, umso besser ist die Leistung des beurteilten Kindes 2.2 Entscheidung über eine geeignete Schule Fast in allen Bundesländern endet die verpflichtende Grundschule nach der vierten Klasse. Danach können Eltern mit entscheiden, welche Schulform ihr Kind in Zukunft besuchen soll. Dabei treten für Erwachsene die Leistung des Kindes und die Schulempfehlung in den Vordergrund. Intelligenz, Spaß am Lernen, Begabung, Auffassungsgabe, Disziplin und Selbstbewusstsein des Kindes sollten bestimmen, wie sein weiterer Schulweg aussieht. Auch das Interesse des Kindes an Neuem und die individuelle Lernbereitschaft sind richtungsweisend. Bei der Wahl der richtigen Schulform ist in einigen Fällen auch die Durchführung eines Intelligenztests sinnvoll, insbesondere wenn die Leistungen Ihres Kindes in den unterschiedlichen Fächern stark schwanken. Erfahrungsgemäß wollen Eltern, dass aus ihrem Kind»mal etwas wird«und sind überzeugt, dass die Chancen umso besser sind, je höher der Schulabschluss ist. Das stimmt aber nur eingeschränkt. Kommt eine Kind auf eine Schulart, bei der es heillos überlastet ist, durchlebt es Jahre der Frustration und der Misserfolge, oft mit der Folge einer Rolltreppe-abwärts-Laufbahn, bei der es dann unter Umständen soweit absackt, dass es letztlich sogar auf einer Schulart landet, die unter dem eigentlichen Niveau liegt. Schuld daran ist, dass durch die ständigen Misserfolge der Schulbesuch so negativ besetzt ist, dass das Kind einen massiven inneren Widerwillen aufbaut. Von daher ist es sinnvoll, wenn man sich als El-

26 Kapitel 2 Schulische Leistung und Begabung 2 ternteil unsicher ist, welche Schulform für das Kind geeignet ist, einen solchen Intelligenztest durchführen zu lassen. Grob unterteilt kann man sagen: 44IQ < 70: Sonderschule für geistig Behinderte 44IQ 70 85: Sonderschule für Lernbehinderte 44IQ 85 100: Hauptschule 44IQ 100 115: Realschule 44IQ > 115: Gymnasium Auf das Problem, dass das Ergebnis eines Intelligenztests immer einen gewissen Fehler beinhaltet und der»wahre«wert höher oder niedriger sein kann, wurde bereits hingewiesen. Angemerkt werden muss auch hier noch einmal, dass andere Persönlichkeitseigenschaften eine mindestens ebenso große Rolle spielen wie der IQ. Ein Kind kann durchaus eine höhere Schulart meistern als das Ergebnis des IQ-Test dies andeutet, wenn es fleißig, hoch motiviert, kontaktreich und beredsam ist, viele Freunde in der Schule hat und gut mit den Lehrern zurechtkommt. Daher sollten die oben genannten Werte wirklich nur als ungefähre Anhaltspunkte gesehen werden. Das Problem der Wahl der richtigen Schulform lässt sich umgehen durch die Gesamt schule, in der das Kind abhängig von seinen Leistungen eingestuft wird. Insbesondere für»spätzünder«, die erst mit steigendem Lebensalter entdecken, wie wichtig der Schulbesuch ist, kann dies die beste Möglichkeit sein. Zu berücksichtigen ist aber immer, dass der reine IQ nur ein Puzzleteil ist, der für das Absolvieren eine Schulart wichtig ist. Kinder mit Verhaltensstörungen, die zu Hause keine Unterstützungen erfahren, werden das Abitur auch mit eine IQ von 130 nicht unbedingt bestehen. Hier darf man die oben bereits mehrfach erwähnte Gesamtschau aller Faktoren nicht vergessen. Intelligenztestungen kann man bei den schulpsychologischen Beratungsstellen machen lassen. Zum Teil sind auch Lehrer darin ausgebildet, solche Tests durchzuführen. Ansonsten führt jeder niedergelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut solche Tests durch; allerdings ist es oft schwierig, hier einen Termin zu bekommen. Schulleistungsschwierigkeiten gehören nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen; die Kosten für einen Intelligenztest wird man bei einem ambulant tätigen Psychologen daher in der Mehrzahl selbst tragen müssen. Hier empfiehlt es sich, vorher die Kosten zu erfragen. Die Krankenkasse zahlt nur, wenn das betroffene Kind psychische Auffälligkeiten zeigt, etwa schwere Verhaltensstörungen, und der IQ-Test zur diagnostischen Abklärung der Ursachen notwendig ist. Eine solche Intelligenzdiagnostik sollte nicht unter zwei Zeitstunden dauern, um eine spezifisches Intelligenzprofil des Kindes zu bekommen. Insbesondere wenn hierbei Defizite festgestellt wurden, wir der Psychologe in der Regel die Durchführung weiterer Tests empfehlen, etwa zur längerfristigen Konzentrationsfähigkeit, zum Lernvermögen oder auch zur Persönlichkeitsdiagnostik, um etwa festzustellen, ob das Kind unter Prüfungsängsten leidet oder in der Schule gemobbt wird. Literatur Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H. (2013). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10, Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien. Göttingen: Huber. Heller, K. A., Perleth, C. & Hany, E. A. (1994). Hochbegabung ein lange Zeit vernachlässigtes Forschungsthema. Einsichten Forschung der Ludwig-Maximilians Universität München, Vol. 3, 1, 18 22.

http://www.springer.com/978-3-662-48953-6