Hoheitsrechte I. Grundlagen 1. Begriff und Entwicklung Unter Hoheitsrechten werden Rechte des Staates und anderer Gebietskörperschaften verstanden, vermöge derer ihr vorbehaltene öffentlich-rechtliche Befugnisse gegenüber der Allgemeinheit und den Bürgern (natürliche und juristische Personen) zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben ausgeübt werden. Hoheitsrechte stehen der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt zu. Der Begriff ist eine Schöpfung der Neuzeit. Ausgehend von Jean Bodins Theorie der Souveränität (Les Six Livres de la République, 1576) zielte die Entwicklung der Staatsgewalt auf die Ausbildung der Inneren Souveränität, d. h. der Durchsetzung eines einheitlichen Staatswillens, der dem inneren Frieden und der Durchsetzung der Wohlfahrtsinteressen dient. Charakteristikum der inneren Souveränität ist die Befugnis zur einseitigen Bindung des Bürgers durch den Staat. Der Souverän vermag seinen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Innere Souveränität bezeichnet den Inbegriff der staatlichen Herrschaftsrechte, die Letztentscheidungsgewalt des Staates. Sie besteht vor allem in der Befugnis zum einseitigen Erlass von Rechtsakten, die den Bürger binden. Nachdem sich die innere Souveränität voll ausgebildet hatte und die Entwicklung zu einer absoluten Macht abgeschlossen war, setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Machtfülle des Staates beim Erlass einseitiger Rechtsakte ohne Mitwirkung und Zustimmung der Bürger die Gefahr des Missbrauchs in sich birgt. So entwickelten sich mit Demokratie-, Rechtsstaatsprinzip und der fortschreitenden Anerkennung von Grundrechten Instrumente, die die Befugnis des Staates begrenzen, kanalisieren und zweckbestimmt an Interessen der Bürger ausrichten. Zudem wird die einheitliche Staatsgewalt im Rahmen der Zuständigkeitsordnung der Verfassungsorgane wieder aufgeteilt (Gewaltenteilung, Gewaltenhemmung, System der checks and balances ). In den europäischen und angloamerikanischen Staaten ist die Ausübung von Hoheitsrechten ohne Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine Bindung an Menschen- und Grundrechte nicht mehr vorstellbar. Dementsprechend folgt der Europäische Gerichtshof nach anfänglichen Unsicherheiten in seiner Rechtsprechung der gemeineuropäischen Verfassungstradition und hat die Ausübung von Befugnissen durch die Organe der Europäischen Gemeinschaften und die Anwendung des europäischen Rechts an das Rechtsprinzip (rule of law) gebunden: Dazu ist zunächst hervorzuheben, dass die europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen. ( EuGHE 1986, 1339, Rn 23 Les Verts ; vgl. auch EuGHE 2002, II-2153; 2002, II-81). Heute nimmt das Unionsrecht (Art. 2, 3, 21, 49 EUV) ausdrücklich auf diese gemeineuropäischen Verfassungsprinzipien und -tradition Bezug. Zudem hat der Europäische Gerichtshof die Handlungen der Organe einer Grundrechtsbindung unterworfen (s.u. II.3.), die ebenfalls in das primäre Unionsrecht Eingang gefunden hat (Art. 6 EUV). 2. Erscheinungsformen Herkömmlich werden die Hoheitsrechte (namentlich im Völkerrecht) in Personal-, Gebietsund der Organisationshoheit unterteilt.
a. Personalhoheit Die Personalhoheit bezeichnet das Recht des Staates, seine Staatsangehörigen sowohl im Inland als auch im Ausland einseitig zu berechtigen und zu verpflichten. Dazu gehören zb das Recht des Heimatstaates, Wehrpflichtige oder in Spannungsgebieten befindliche Bürger aus dem Ausland zurückzurufen sowie die Ausübung diplomatischen Schutzes zugunsten der Staatsangehörigen. Bei der Ausübung des Rückrufrechts und des Schutzes bedarf es freilich der Mitwirkung bzw. Billigung des Aufenthaltsstaates. z. B.: Der Wehrpflicht unterlagen bis 2011 alle deutschen männlichen Staatsangehörigen, auch wenn sie sich im Ausland aufhielten, vgl 1 Abs. 1 Wehrpflichtgesetz (WPflG zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 31. Juli 2010, BGBl. I, 1052); auch Ausländer und Staatenlose konnten unter gewissen Voraussetzungen zur Wehrpflicht herangezogen werden ( 2 WPflG); das Wahlrecht steht den Deutschen zu und war früher auf Personen mit erstem Wohnsitz in der Bundesrepublik beschränkt; inzwischen können auch Auslandsdeutsche unter gewissen Voraussetzungen wählen ( 12 Abs. 2 Bundeswahlgesetz zuletzt geändert durch Bek. v. 5.8.2009, BGBl. I, 2687). Voraussetzung für die Inanspruchnahme staatsbürgerlicher Rechte und Anknüpfungspunkt für entsprechende Pflichten, die sich aus der Personalhoheit ergeben, ist die Staatsangehörigkeit, also das rechtliche Band, das eine Person mit einem bestimmten Staat verbindet. Die mit dem Staat enger verbundenen Personen können so von den Staatsfremden (Ausländern und Staatenlosen) abgegrenzt werden. b. Gebietshoheit Als Gebietshoheit bezeichnet man die umfassende und ausschließliche Zuständigkeit des Staates, innerhalb der Grenzen seines Territoriums tätig zu sein und insbesondere Hoheitsakte vorzunehmen. Dazu gehört das Recht, die gesamte Rechts- und Verfassungsordnung mittels Akten von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung auszugestalten und diese auch wenn nötig zwangsweise durchzusetzen. Diese Kompetenz besteht grundsätzlich gegenüber allen in dem Territorium befindlichen Personen Staatsangehörigen und Ausländern und deren Eigentum. Die Gebietshoheit kann durch völkerrechtliche Verträge oder Völkergewohnheitsrecht eingeschränkt sein. c. Organisationshoheit Die Organisationshoheit umfasst die Verfassungsautonomie. Ein Staat besitzt nur dann eine vollständige innere Souveränität, wenn er über die Organisation seines staatlichen Lebens selbst entscheiden kann. Danach ist im innerstaatlichen Bereich nur solches Recht gültig, das von dem Staat selbst erzeugt worden ist oder das er durch seine Verfassung in seinem Staat zugelassen hat. In diesem Zusammenhang spielt auch der Begriff der Kompetenz-Kompetenz eine Rolle: Er bezeichnet namentlich in Bundesstaaten die Befugnis des Gesamtstaates gegenüber den Gliedstaaten vorbehaltlich der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur einseitigen und verbindlichen Festlegung der Zuständigkeiten. Die Kompetenz-Kompetenz ist ein wesentliches Essentialia der Staatlichkeit. II. Hoheitsrechte und europäische Integration 1. Übertragung von Hoheitsrechten
Das entscheidende Charakteristikum der europäischen Integration liegt darin, dass den ursprünglich zwischenstaatlichen, jetzt treffend als supranational bezeichneten Europäischen Integrationsformen EG und EU von den Mitgliedstaaten ausschließlich diesen zustehende staatliche Hoheitsrechte übertragen worden sind. Der EuGH hat dies schon früh in seiner Rechtsprechung damit charakterisiert, dass die Mitgliedstaaten den Gemeinschaften Hoheitsrechte übertragen und ihren Organen die Befugnis zu eigenständiger Rechtsetzung zugewiesen haben (EuGHE 1964, 1254, 1259, Costa./. E.N.E.L.). Mit dieser Entscheidung begründete der EuGH auch die Eigenständigkeit der Gemeinschaften. Durch die Gründungsverträge haben die Mitgliedstaaten eine eigene verbindliche Rechtsordnung und damit auch autonome Rechtsquelle geschaffen. Die Eigenständigkeit des Europäischen Rechts hat zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträglich einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Denn es würde eine Gefahr für die in Art. 4 Abs. 3 EUV aufgeführten Ziele bedeuten und dem Verbot des Art. 18 EUV widersprechende Diskriminierungen zur Folge haben, wenn das Unionsrecht je nach innerstaatlicher Gesetzgebung von einem Staat zum anderen verschiedene Geltung haben könnte. Daher beansprucht das Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalen kollidierenden Hoheitsakten Anwendungsvorrang. Hierin kommt auch zum Ausdruck, dass die EU nicht nur nationale Hoheitsrechte quasi als fremde Rechte ausübt, sondern mit der Übertragung eigene, von den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen unabhängige gemeinschaftsrechtliche Hoheitsrechte/-befugnisse begründet wurden (EuGHE 1978, 629; Simmenthal II). 2. Beschränkte unionsrechtliche Hoheitsbefugnisse Allerdings erfolgt durch die Europäischen Verträge lediglich eine Übertragung von einzelnen, enumerativ in den Gründungsverträgen aufgezählten Hoheitsrechten ( Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 5 Abs. 1 EUV). Diese spezifischen Hoheitsrechte werden jetzt nicht mehr von den Mitgliedstaaten, sondern von den europäischen Einrichtungen allein (ausschließliche Zuständigkeit) bzw. unter Beteiligung der Mitgliedstaaten ausgeübt (konkurrierende Zuständigkeit, vgl. Art. 2 AEUV, der die Kompetenzkategorien definiert). Da die Integration in der Vergangenheit naturgemäß zunehmend zentralistische Tendenzen aufwies, wird die Kompetenzausübung der europäischen Organe seit dem Vertrag von Maastricht zusätzlich an das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EUV) und an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 4 EUV) gebunden. Trotz der Versuche, die Regulierungswut europäischer Rechtsetzung einzuschränken, bleiben die wenigsten Lebensbereiche heute von europäischer Normierung unberührt. Gleichwohl kann nach überwiegender Auffassung weder gegenwärtig noch für die Zukunft von einem europäischen Staat gesprochen werden. Es bleibt bei einem Verfassungsverbund (Pernice), in der Terminologie des Bundesverfassungsgerichts bei einem Staatenverbund (BVerfGE 89, 155 Maastricht). Im Lissabon-Urteil hat Bundesverfassungsgericht bekräftigt: Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker das heißt die staatsangehörigen Bürger der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. (BVerfGE 123, 267, Ls. 1). Denn die Mitgliedstaaten hatten bislang weder der EG noch haben sie der EU die Kompetenz- Kompetenz und damit die gesamte Fülle staatlicher Regelungsmacht überantwortet. Weder der gescheiterter Verfassungsvertrages noch der Vertrag von Lissabon können deshalb als Verfassungsgebung im staatsrechtlichen Sinn angesehen werden.
3. Grundrechtliche Bindung gemeinschaftsrechtlicher Hoheitsrechtsausübung Neben einer Ausrichtung auf Grundsätze der Rechtstaatlichkeit (etwa EuGH E 1974, 607, 620) und der Demokratie (EuGHE 1991, I-2867, 2901 Titandioxydrichtlinie) ist die Ausübung der Hoheitsgewalt durch europäische Organe an Grundrechte gebunden. Da die Gründungsverträge ursprünglich keinen Grundrechtskatalog enthielten, hat der Europäische Gerichtshof wohl unter dem Druck der nationalen Verfassungsgerichte Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze statuiert, die die Unionsgewalt binden (grundlegend EuGHE 1969, 419, 425 Stauder; 1970, 1125 ff, 1135 Internationale Handelsgesellschaft; 1974, 491 ff Nold/Kommission; zur Anerkennung dieser Bindung in Deutschland BVerfGE 73, 339 Solange II). Unionsgrundrechte hat der EuGH entwickelt, weil das Handeln der EU-Organe ansonsten wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts und der Tatsache, dass es damals keinen verbindlich geschriebenen Grundrechtskatalog gab, keinerlei Grundrechtsstandards unterliegen würde. Der Gerichtshof hat sich hierbei auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten berufen, nach der die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt rechtlich begrenzt sei. Zudem verweist der Gerichtshof auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die Ausdruck dieser Tradition sei. Mit dem Vertrag von Maastricht wurde dies auch primärrechtlich als Bindung an allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts normiert (Art. 6 Abs. 2 EGV, heute Art. 6 EUV). Der Vertrag von Lissabon geht über den bisherigen Rechtszustand insoweit hinaus, als er nunmehr die bisher unverbindliche Grundrechtscharta von der Union als rechtlich gleichrangig anerkennt. Damit wird eine Bindung auch ausdrücklich in allen Einzelheiten und letztlich dem nationalen Standard normativ weitgehend entsprechend festgeschrieben. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union bindet die Organe der Union bei Ihrem Handeln und die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Unionsrecht (Art. 51 Abs.1 Grundrechtecharta). III. Verfassungsrechtliche Grundlagen in Deutschland 1. Normativer Befund Nach Art. 24 Abs. 1 GG kann der Bund generell Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen, nach der 1992 neu eingefügten Regelung des Art. 23 GG Hoheitsrechte auf europäische Einrichtungen, etwa auf die Europäische Union durch Gesetz übertragen. Art. 23 Abs. 1 GG stellt die spezielle Verfassungsbestimmung dar, die Deutschland dazu ermächtigt, an der Gründung der Europäischen Union mitzuwirken; sie ist Ausdruck der Europarechtsfreundlichkeit Deutschlands (vgl. BVerfGE 123, 267 Ls. 4). Die Einfügung dieses Europa- Artikels macht deutlich, dass sich die Europäische Union inzwischen qualitativ von üblichen zwischenstaatlichen Einrichtungen unterscheidet. Die hl geht nicht von einer Übertragung der Hoheitsrechte, sondern vielmehr von einem Verzicht auf die Ausübung bestimmter staatlicher Hoheitsbefugnisse zugunsten einer internationalen/supranationalen Hoheitsgewalt aus. Die Frage, wie weit dabei der Verzicht auf Hoheitsbefugnisse gehen darf, ist umstritten und bisher vor allem im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft bedeutsam geworden. Die Übertragung von Hoheitsrechten, besser der Verzicht auf ihre Ausübung, erfolgt durch förmliches Bundesgesetz, unter den Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sogar mit verfassungsändernder Mehrheit. Art. 23 Abs. 1 GG enthält eine sog. Struktursicherungsklausel, die im Zusammenhang mit der ebenfalls dort angesiedelten Übertragungsermächtigung zu sehen ist. Demnach muss die Struktur der Europäischen Union Grundsätzen entsprechen, die auch für die Ausübung der Hoheitsgewalt in Deutschland maßgeblich sind: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, soziale und föderale Ordnung sowie Grundrechtsgeltung (BVerfGE 123, 267, 348).
2. Entwicklung und Problemkreise Angesichts der Eigenart des Unionsrechts geht es bei seiner Anwendung dem nationalen Recht vor. Das Bundesverfassungsgericht hatte dies anerkannt, solange durch das Europäische Gemeinschaftsrecht, insbesondere durch die Rechtsprechung des EuGH, ein ausreichender Grundrechtsschutz gewährleistet sei (BVerfGE 73, 339; 89 155). Anlässlich der gegen das Vertragsgesetz zum Maastrichter Unionsvertrag gerichteten Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht u.a. ausgeführt, dass die Union (noch) keinen Staat darstelle, sondern einen Staatenverbund. Bezüglich der Rechtsakte der europäischen Organe prüfe das Bundesverfassungsgericht, ob sich diese innerhalb der Grenzen der eingeräumten Hoheitsbefugnisse hielten. Bei der Rechtsprechung über die Anwendbarkeit von Sekundärrecht in der Bundesrepublik bestehe ein Kooperationsverhältnis zum Europäischen Gerichtshof. Insgesamt sei sowohl unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation als auch hinsichtlich der Gewährleistung eines ausreichenden Rechtsschutzes der Vertrag von Maastricht mit dem Grundgesetz vereinbar. Die bisherige Rücknahme eigener Hoheitsgewalt zugunsten der Ausübung von Gemeinschaftshoheitsrechten, die den deutschen Bürger unmittelbar berechtigen oder verpflichten, steht mit den dafür vorhandenen verfassungsrechtlichen Grundlagen des Art. 23 und 24 GG in Einklang. Dagegen ist bisher die Frage verfassungsrechtlich nur teilweise geklärt, ob und inwieweit die Integrationsermächtigungen des Grundgesetzes für die Fälle ausreichen, in denen europäische Rechtsakte selbst keine materiellen Bestimmungen treffen, sondern nur die Anerkennung von Hoheitsrechtsakten anderer Mitgliedstaaten vorsehen (Prinzip der gegenseitigen Anerkennung). Zwar reichen diese Ermächtigungen für die Anerkennung ausländischer Genehmigungen im Rahmen des Binnenmarktes sowie des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs aus, weil hier letztlich keine (unmittelbaren) hoheitlichen Eingriffe in rechtlich geschützte Positionen der Bürger vorliegen, sondern die Freiheit der Bürger erweitert wird. Anders verhält es sich hingegen bei solchen Vorschriften, die ohne ausdrückliche Harmonisierung auf der europäischen Ebene lediglich vorschreiben, dass ausländische Vorschriften anzuerkennen sind und die fremden Vorschriften Eingriffe in Rechtspositionen der eigenen Staatsangehörigen bewirken (so etwa bei den Vorschriften über den Europäischen Haftbefehls, vgl BVerfGE 113, 273), zumal wenn es sich um Unionsvorgaben auf der Grundlage intergouvernementaler Zusammenarbeit (früher zweite und dritte Säule; heute noch Art. 21 46 EUV) handelt. Das Unionsrecht entfaltet hier trotz einer Positivierung der Handlungsformen keine supranationale Wirkung. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wurden weitere Kernbereiche nationalstaatlicher Hoheitsgewalt gegenüber der Ausübung von Hoheitsgewalt durch Unionsrecht zurückgenommen und damit supranational. Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der nationalen Parlamente nehmen in vielen klassischen staatlichen Sektoren ab. Steuern und Finanzen, Justiz, Polizei, Verteidigung und auswärtiges Handeln gehören nach herkömmlicher Auffassung zu den Kernbereichen der Staatlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht hatte in der Maastrichtentscheidung (BVerfGE 89, 155) ausgeführt, dass dem Deutschen Bundestag wesentliche Bereiche zur Entscheidung verbleiben müssen. Den Vertrag von Lissabon verabschiedeten Bundestag und Bundesrat mit verfassungsändernder Mehrheit (Art. 23 GG); gleichwohl stand in Rede, der Vertrag von Lissabon verletze die Integrationsgrenzen des Art. 79 Abs. 3 GG. Denn diese Norm sichert die Grundsätze der Art. 1 und 20 GG. Wenn aber in einem Übertragungsakt maßgebliche Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des deutschen Gesetzgebers neben der bereits weitreichenden Entäußerung von Entscheidungen im Bereich des bisherigen Gemeinschaftsrechts auf die Union übertragen werden und Bundestag und Bundesrat wegen des Vorrangs des Unionsrechts Gefahr laufen, in Zukunft allenfalls Umsetzungsautomaten zu sein so wurde kritisiert werde das Demokratieprinzip und damit auch die deut-
sche Staatlichkeit in einem Maße ausgehöhlt, das die Identität der Verfassung und des Staates auflöst. In seiner z.t. scharf kritisierten Entscheidung zum Vertrag von Lissabon hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. (BVerfGE 123, 267, Ls. 3). Das Bundesverfassungsgericht hielt den Vertrag von Lissabon im Ergebnis aber für mit dem Grundgesetz vereinbar; das Bundesverfassungsgericht stellt aber fest, dass das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union gegen das Grundgesetz verstößt, weil die dem Bundestag und dem Bundesrat in diesem Begleitgesetz eingeräumten Mitwirkungsrechte nicht ausreichend waren. Zur Behebung dieses verfassungsrechtlichen Mangels, der auch die Ratifikation des Vertrages von Lissabon sperrte, verabschiedeten Bundestag und Bundesrat vier Gesetze, die die Beteiligung der Legislative an der Europäischen Rechtsetzung regeln. Es handelt sich um das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union (BGBl. 2009 I, 3022), das Gesetz zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon (BGBl. 2009 I, 3822), die Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (BGBl. 2009 I, 3026) sowie die Änderung des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (BGBl. 2009 I, 3031). Quelle: Stefan Ulrich Pieper, Hoheitsrechte. In: Bergmann (Hg.), Handlexikon der Europäischen Union. Baden- Baden 2012