Die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung von Wäldern und ihre Bedeutung für Naturschutz und Forstwirtschaft Albert Reif und MitarbeiterInnen Professur f. Standorts- und Vegetationskunde Fakultät f. Umwelt und Natürliche Ressourcen Universität Freiburg Die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung von Wäldern und ihre Bedeutung für den Naturschutz 1. Naturnähe und Forstwirtschaft 2. Konzept der potenziellen natürlichen Vegetation (pnv) 3. Analyse und Bewertung der Naturnähe BWI3 und NWE5-Projekt 4. Schlussfolgerungen Natur ist eine in sich geordnete Einheit ( die Natur ), die nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert, sich im Gleichgewicht hält (Rosenbaum 1992) Natur ist die Gesamtheit abiotischer und biotischer Erscheinungen im Rahmen evolutiver Prozesse innerhalb des kosmischen Geschehens (Scherzinger 1996) Wissenschaftliche Studien belegen, dass naturnah bewirtschaftete Wälder eine ähnlich hohe Artenvielfalt aufweisen können wie vergleichbare, seit mehreren Jahrzehnten dauerhaft aus der Nutzung genommene "Naturwälder". Die Konzepte der naturnahen Waldbewirtschaftung setzen nicht zuletzt aus ökonomischen Erwägungen in unterschiedlichem Ausmaß auf die Nutzung natürlicher Abläufe und Selbststeuerungsmechanismen. Das Ziel der naturnahen Waldbewirtschaftung ist die Entwicklung und Erhaltung strukturreicher, stabiler Waldbestände mit starker Widerstandskraft gegen Belastungen (z.b. Witterungsextreme, Schädlingsbefall und Schadstoffeinträge) sowie einer großen Anpassungsfähigkeit im Hinblick auf künftige Umweltveränderungen (z.b. Klimaänderungen). (BMVEL 2004) Mitteleuropa - Fehlen von Naturzustand ( Referenz ) Naturnähe - ein gedankliches Konstrukt von Wissenschaftlern 1. Naturnähe und Forstwirtschaft 2. Konzept der potenziellen natürlichen Vegetation (pnv) 3. Analyse und Bewertung der Naturnähe BWI3 und NWE5-Projekt 4. Schlußfolgerungen Die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung von Wäldern und ihre Bedeutung für den Naturschutz Konstruierte Referenz: Potentiell natürliche Vegetation (pnv) 1
Konzept der potenziell natürlichen Vegetation (pnv) nach TÜXEN (1956) Der früheren realen natürlichen, also der früher tatsächlich vorhanden gewesenen natürlichen Vegetation kann nun ein gedachter natürlicher Zustand der Vegetation gegenüber gestellt werden, der sich für heute oder für einen bestimmten früheren Zeitabschnitt entwerfen läßt, wenn die menschliche Wirkung auf die Vegetation unter den heute vorhandenen oder zu jenen Zeiten vorhanden gewesenen übrigen Lebensbedingungen beseitigt und die natürliche Vegetation, um denkbare Wirkungen inzwischen sich vollziehender Klima-Änderungen und ihrer Folgen auszuschließen, sozusagen schlagartig in das neue Gleichgewicht eingeschaltet gedacht würde. Diesen gedachten Zustand wollen wir im Gegensatz zu der realen natürlichen als potentielle natürliche Vegetation bezeichnen. Von der heutigen potentiellen natürlichen Vegetation wäre derjenige in früherer Zeit (z.b. Eisen-, Bronze-, Steinzeit) zu unterscheiden (TÜXEN 1956) Definition der dritten Bundeswaldinventur (BWI 3 ) Natürliche Waldgesellschaft = die heutige potenziell natürliche Vegetation: Vegetation, die sich bei den gegenwärtigen Standortsbedingungen ohne den Einfluss des Menschen entwickeln würde Buchenwald (Seslerio-Fagetum) und Flaumeichenwald (Quercetum pubescentis) Lebensformstrategien 5 Buchenwald (N-Hang) Flaumeichenwald (S-Hang) 9 Schweizer Jura, 1250 m Petit Ceuze, S-Frankreich, 1350 m 10 Karte der pnv von Baden- Württemberg Karte der pnv von Europa Müller et al. 1974 Quelle: BfN 2
Karte der pnv von Deutschland PNV Vogelsberg Kartiereinheiten der Karte der pnv Bohn 1981 Bohn et al. 2003 http://www.floraweb.de/vegetation/pnv/ Kartiereinheiten der Karte der pnv von Deutschland (1) Kartiereinheiten der Karte der pnv von Deutschland (2) Obergruppe Grundeinheiten der pnv von Deutschland und ihre Baumartenanteile Zwischenfazit 1: Es existiert eine relativ fein gegliederte Karte der natürlich vorkommenden Waldtypen von Deutschland mit einer großen Detailgenauigkeit der konstruierten, spezifischen Anteile der Baumarten als Referenz des Naturzustandes SUCK & BUSHARD 2011, unpubl. and modified mit Pionierbaumarten 20 3
1. Naturnähe und Forstwirtschaft 2. Konzept der potenziellen natürlichen Vegetation (pnv) 3. Analyse und Bewertung der Naturnähe BWI3 und NWE5-Projekt 4. Schlußfolgerungen Die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung von Wäldern und ihre Bedeutung für den Naturschutz Bundeswaldinventur 3 und die Naturnähe BMEL (Hrsg.) (2014): Der Wald in Deutschland. Ausgewählte Ergebnisse der dritten Bundeswaldinventur. 52 S. Naturnähestufen der Baumarten-zusammensetzung in der BWI 2 und 3 Naturnähestufen der Baumarten-zusammensetzung in der BWI 2 und 3 Prinzip: Anteile Haupt-, Neben-, Pionier-, außereuropäische Baumarten an der Bestockung Prinzip: Anteile Haupt-, Neben-, Pionier-, außereuropäische Baumarten an der Bestockung BWI3: Naturnähe der Bestockung BMEL (Hrsg.) (2014): Der Wald in Deutschland. Ausgewählte Ergebnisse der dritten Bundeswaldinventur. 52 S. 4
Natürliche Waldzusammensetzung Bayerns Zwischenfazit 2: Aus einer wissenschaftlich korrekten Analyse und Darstellung. verallgemeinert sogar die Fachpresse in unzulässiger Weise! 27 Walentowski et al. (2001) Naturnähestufen der Baumartenzusammensetzung in der BWI 2... 75 % der bayerischen Wälder... sehr naturnah, naturnah oder bedingt naturnah... (Staatsminister MILLER im Bayerlischen Landtag 2004) Fichtenforst im Frankenwald: - Nebenbaumart der pnv >50% - bedingt naturnah?... Die Standards für Naturnähe sind derart niedrig festgesetzt worden, dass in weiten Bereichen selbst Fichtenbestände noch als naturnah durchgehen. Das ist das Ende der Glaubwürdigkeit eines naturnahen Waldbewirtschaftung (MEISTER, Bad Reichenhall) Naturnähestufen der Baumartenzusammensetzung in der BWI 2 und 3 Empfehlung für eine BWI 3 : Unterteilung der Naturnähestufe II (= naturnah in der BWI 2 ) IIa naturnah > 50% der Hauptbaumarten der natürlichen Waldgesellschaft vorhanden; ihr Bestockungsanteil in der Summe >33%; Anteil der Baumarten der natürlichen Waldgesellschaft >80% IIb eingeschränkt naturnah Bestockungsanteil der Hauptbaumarten in der Summe > 25%; Anteil der Baumarten der natürlichen Waldgesellschaft > 75% Prinzip: Anteile Haupt-, Neben-, Pionier-, außereuropäische Baumarten an der Bestockung AUS: REIF A, WAGNER U, BIELING C (2005): Analyse und Diskussion der Erhebungsmethoden und Ergebnisse der zweiten Bundeswaldinventur vor dem Hintergrund ihrer ökologischen und naturschutzfachlichen Interpretierbarkeit. BfN- Skripten 158, 45 S. Bonn. 5
Zwischenfazit 3: Mit entsprechender - Wahl der Klassengrößen - und ihrer Benennung (Wertstufen) kann man bei Bewertungen die Ausprägung des Kriteriums (Naturnähe) steuern! F+E-Vorhaben NWE5 Natürliche Waldentwicklung als Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt Gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) 33 Nationale Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung (2007), Teilziel B 1.2.1.: 2020 beträgt der Flächenanteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung 5 % der Waldfläche [= 553.790 ha] NWE 5 -Flächen, Bilanzvarianten Kernbilanz 2013 Kernbilanz 2020 Kernbilanz 2020+ (Stichtag: 31. Juli 2013) Offene Fragen: Wieviele NWE-Flächen existieren bereits? Was ist ihre naturschutzfachliche Wertigkeit? Frage 1: Wieviele NWE-Flächen existieren bereits? Frage 2: Was ist die naturschutzfachliche Wertigkeit? F+E-Vorhaben NWE5 Natürliche Waldentwicklung als Ziel der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt Defizit: 221.850 ha Naturschutzfachliche Bewertung der Flächen mit natürlicher Waldentwicklung Gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) 6
Grundeinheiten der pnv von Deutschland und ihre Baumartenanteile Methodischer Ansatz: Unterschied zwischen aktuelle Bestockung der NWE 5 -Fläche versus Bestockung des natürlichen Referenzzustandes = pnv SUCK & BUSHARD 2011, unpubl. and modified Aktuelle Bestockung der NWE-Flächen und ihre Baumartenanteile Methode: Punktevergabeschlüssel - Abgleich der aktuellen Bestockung mit der Baumartenzusammensetzung der pnv 81 %: Nur Hauptbaumart bekannt 35 %: Haupt- und 2 Mischbaumarten bekannt Offene Frage: Unterscheidet sich die Ausprägung der Naturnähe bei unterschiedlicher Datentiefe? Methode: Übersetzung der Punkte in die Wertstufen für die Auswertung mit einer Hauptbaumart Methode: Übersetzung der Punkte in die Wertstufen für die Auswertung mit einer Hauptbaumart und 2 Mischbaumarten Ziel: Naturnähestufen in Anlehnung an die BWI, modifiziert nach Reif et al. 2005 7
ddd Bewertung der Naturnähe der Baumartenzusammensetzung anhand der Zuordnung der Haupt- und Mischbaumarten Ziel: Naturnähestufen in Anlehnung an die BWI, modifiziert nach Reif et al. 2005 Flächenanteile der 5 Naturnähestufen auf Grundlage der Hauptbaumart 40 % naturnah (verfügbare Daten: 75 % der gemeldeten NWE 2013-Flächen) (naturfern = Wertstufe 1, kulturbestimmt = Wertstufe 2, mäßig kulturbestimmt = Wertstufe 3, bedingt naturnah = Wertstufe 4, eingeschränkt naturnah = Wertstufe 5, naturnah = Wertstufe 6). Naturnähe Bewertung (Haupt-, 2 Nebenbaumarten) - Wertstufendefinition in Anlehnung an die BWI 2 und 3 - Wertst ufe Naturnähe- Einstufungsbedingung stufe 1 sehr naturnah Hauptbaumart (HB) und beide Nebenbaumarten (NB) = pnv 2 naturnah HB und 1 NB = pnv, 2. NB = standortsfremd aber einheimisch 3 eingeschränkt HB = pnv, NB = standortsfremd aber einheimisch naturnah oder max. eine NB nichtheimisch 4 bedingt naturnah HB = einheimisch, doch standortsfremd, NB = pnv oder eine NB ist standortsfremd, aber einheimisch oder eine NB = nichtheimisch 5 kulturbetont HB = einheimisch, doch standortsfremd, sowie min. 1 NB ist = pnv, die andere standortsfremd aber einheimisch, oder auch nichtheimisch 6 Kulturbestimmt Bestand aus nichtheimischen Baumarten Flächenanteile der 6 Naturnähestufen auf der Grundlage einer Hauptbaumart und zwei Mischbaumarten (verfügbare Daten: 29 % der gemeldeten NWE 2013-Flächen). 28 % kulturgeprägt 24 % (sehr) naturnah Flächenanteile (%) je Naturnähestufen Westlichen Mittelgebirge Grundlage: 1 Hauptbaumart (verfügbare Daten: 93 % der gemeldeten NWE 2013-Flächen dieser Großlandschaft). Grundlage: 1 Hauptbaumart und 2 Mischbaumarten (verfügbare Daten: 37 % der gemeldeten NWE 2013- Flächen dieser Großlandschaft). Zwischenfazit 4: Je präziser die Bestockung des Bestandes bekannt ist desto realitätsnäher wird der Abgleich zur pnv-referenzbestockung! doch desto kleiner ist die Grundgesamtheit! 50 8
Welcher Referenzzustand wird herangezogen? Aggregierte Vegetationseinheiten (z.b. Obergruppen)? Bewertung der Naturnähe der Baumartenzusammensetzung in 5 bzw. 6 Wertstufen anhand der Zuordnung der Hauptund Mischbaumarten oder Spezifische Vegetationseinheiten (z.b. Hauptgruppen)? Zuordnung der Hauptgruppen der pnv-karte von Suck & Bushart (2011) zu vereinfachten natürlichen Waldtypen Zwischenfazit 5: Je aggregierter ( gröber ) der gewählte Referenzzustand ist desto wahrscheinlicher ist das Vorkommen einer Baumart im Referenzzustand desto naturnäher wird der Abgleich mit der aktuellen Bestockung ausfallen! 54 Die Naturnähe der Baumartenzusammensetzung von Wäldern und ihre Bedeutung für den Naturschutz Fazit: 1. Naturnähe und Forstwirtschaft 2. Konzept der potenziellen natürlichen Vegetation (pnv) 3. Analyse und Bewertung der Naturnähe BWI3 und NWE5-Projekt 4. Schlußfolgerungen Naturnähe ist wichtiges naturschutzfachliches und in der Gesellschaft wahrgenommenes Kriterium zur Beurteilung des Waldzustandes! Naturnähe meistens reduziert auf die Baumartenanteile, oft anders kommuniziert! 9
Fazit: Naturnähe nicht auf Bestockung reduzieren! - Dynamik einbeziehen: Phasenmodelle - Gesamte Biozönose, Megaherbivoren Wisent, Bison Eremit (Osmoderma eremita) europaeus http://www.harink.com/~benjamin/osmodermadeutsch.htm Fazit: pnv als Referenz = Notlösung in Mitteleuropa Baumartenanteile der pnv-einheiten: Einbeziehung Pionierbaumarten? Eingebürgerte Neophyten? Bestockung des aktuellen Bestandes? Haupt-, Neben-, Pionierbaumarten? Abstufung der Ausprägung der Referenz (= des konstruierten Naturzustandes) wie differenziert? Benennung der Wertigkeiten der Naturnähe? = Methode der Analyse und Wertzuweisung der Naturnähe muss jeweils hinterfragt werden!!! Vielen Dank! NWR Limker Strang, Solling, 13.9.2013 59 10