Sprachstörungen im Kindesalter

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Transkript:

Reihe, FORUM LOGOPÄDIE Sprachstörungen im Kindesalter Materialien zur Früherkennung und Beratung Bearbeitet von Wolfgang Wendlandt, Sandra Niebuhr-Siebert, Dietlinde Schrey-Dern, Norina Lauer 7., unveränderte Auflage 2015. Buch. 224 S. Kartoniert ISBN 978 3 13 778507 1 Format (B x L): 17 x 24 cm Weitere Fachgebiete > Medizin > Sonstige Medizinische Fachgebiete > Logopädie, Sprachstörungen & Stimmtherapie Zu Inhaltsverzeichnis schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

M3 Inhalt Wie erwirbt ein Kind seine Sprache? Wie groß ist die Bedeutung der sprachlichen Umwelt des Kindes und welche angeborenen Fähigkeiten bringt das Kind für den Spracherwerbsprozess mit? In diesem Kapitel werden die 5 wichtigsten Erklärungsansätze vorgestellt, die uns helfen, die oben gestellten Fragen zu beantworten: Spracherwerb durch Nachahmung und Verstärkung Spracherwerb durch soziale Interaktion Spracherwerb im Kontext seiner kommunikativen Funktion Spracherwerb als Ergebnis einer allgemein-kognitiven Reifung Spracherwerb als angeborene Fähigkeit Ziel Die Materialeinheit soll einen einführenden Überblick über die 5 wichtigsten Erklärungsansätze zum Spracherwerbsprozess geben. Es wird verdeutlicht, dass am Spracherwerbsprozess neben Einflüssen aus der Umwelt auch angeborene Fähigkeiten von Bedeutung sind. Einsatzmöglichkeiten Der folgende Text ist als Einführung in die geläufigsten Spracherwerbstheorien für alle Zielgruppen geeignet. Einführung In den vorangegangenen Abschnitten wurden Grundlagen der Sprachentwicklung veranschaulicht und Bedingungen aufgezeigt, die den Spracherwerbsprozess begünstigen (M 1, Sprachbaum). Außerdem wurde die Bedeutung der Sprachanregungen aus der kindlichen Umwelt erläutert (M2). Fassen wir zunächst noch einmal kurz zusammen: Ein Kind muss lernen, eine Sprache zu verstehen und sie zu produzieren. Dabei erwirbt das Kind die Sprache, indem es Laute seiner Muttersprache wiedererkennt und sie unterscheiden lernt; indem es Gestik und Mimik verstehen lernt und sie selbst nutzt; indem es die Bedeutung einzelner Wörter lernt; indem es selbst Worte produziert, um sich auszudrücken; indem es lernt, Wörter zueinander in Beziehung zu setzen; indem es lernt, wie Wörter zu Sätzen zusammengefügt werden; 24 indem es lernt, welche Regeln die sprachliche Kommunikation bestimmen. Schaut man sich die Vielzahl dieser Spracherwerbsaufgaben an, kann man erstaunt fragen, wie ein Kind ein Säugling, ein Kleinkind, ein Vorschulkind das überhaupt bewältigen kann. Diese Frage stellt das zentrale Thema dieses Kapitels dar: Wie kommt das Kind zur Sprache? Zur Beantwortung werden 5 Erklärungsansätze vorgestellt, die im Laufe der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem kindlichen Spracherwerb entstanden sind. Jeder dieser Erklärungsansätze hebt einen anderen Gesichtspunkt bei der Entstehung des normalen kindlichen Spracherwerbs hervor: Spracherwerb durch Nachahmung und Verstärkung Spracherwerb durch soziale Interaktion Spracherwerb im Kontext seiner kommunikativen Funktion Spracherwerb als Ergebnis einer allgemeinkognitiven Reifung Spracherwerb als angeborene Fähigkeit

M 3 Spracherwerb durch Nachahmung und Verstärkung Ein Kind lernt eine Sprache, indem es gehörte Äußerungen nachahmt: es imitiert die Sprachangebote aus der Umwelt. Richtig nachgeahmte Äußerungen werden durch Erwachsene bestätigt, die Sprachproduktion des Kindes wird damit unterstützt und verstärkt. Falsch nachgeahmte Äußerungen werden von Erwachsenen korrigiert. Dass Kinder Äußerungen nachplappern und somit imitieren, kennen wir alle. Aber reicht das Nachahmen von Sprache tatsächlich aus, um sie zu erwerben? Diese Frage kann eindeutig mit nein beantwortet werden, denn Kinder äußern häufig sprachliche Formen, die sie von Erwachsenen nicht gehört haben können. Darüber hinaus sind Kinder häufig nicht in der Lage, grammatische Verbesserungen von Erwachsenen wortgetreu nachzuahmen, selbst wenn diese mehrfach wiederholt und die Kinder ausdrücklich dazu aufgefordert werden, jene Äußerungen zu wiederholen. Beispiel: Mutter: Was hast du heute mit Oma gemacht? Kind: Apfels gepflückt. Mutter: Du hast Äpfel gepflückt? Kind: Ja, viele Apfels. Mutter: Du meinst: Äpfel. Kind: Mmh, Apfels. Beispiel: Kinder äußern sprachliche Formen wie esste statt aß, also Er esste einen Apfel statt Er aß einen Apfel. Spracherwerb durch soziale Interaktion Viele Eltern und insbesondere Mütter sprechen zu ihren Kindern anders als zu Erwachsenen. Es scheint so zu sein, dass Erwachsene intuitiv in der Lage sind, ihre Sprache den Bedürfnissen des Kindes anzupassen. Eltern steuern demnach den Spracherwerbsprozess, indem sie dem Kind auf verschiedenen Stufen seiner sprachlichen Entwicklung angemessene sprachliche Angebote unterbreiten. Diese dem sprachlichen Entwicklungsstand des Kindes angepasste Erwachsenensprache nennt man motherese (abgeleitet vom englischen mother ). Schaut man etwas genauer hin, dann ist motherese gekennzeichnet durch: inhaltliche und grammatische Vereinfachungen der Äußerungen Verwendung kurzer Sätze Hinzufügen von Zusatzinformationen, die das Verstehen erleichtern sollen (z. B. Das Auto?, Ach, du meinst das große Auto? ) Wiederholungen und Umschreibungen langsame Sprechgeschwindigkeit häufige Verwendung von Verniedlichungsformen (z. B. Hündchen, Süppchen, Püppchen) einen hohen Anteil an affektiven Elementen (z. B. Ohh, Ahh ) steigende Intonation (z. B. Ja? ; Gut? ) Die Frage ist nun: Kann die soziale Interaktion und die spezielle Sprachform der motherese den Spracherwerbsprozess ausreichend erklären? Den meisten von uns erscheint die Annahme plausibel, dass Sprachangebote, die dem Kind im Rahmen sozialer Interaktionen in angepasster Art und Weise unterbreitet werden, den Spracherwerbsprozess optimal steuern und begleiten. Auch können wir an uns selbst beobachten, wie wir unsere Sprache den kindlichen Sprachbedürfnissen anpassen. Doch auch dieser Erklärungsansatz reicht allein nicht aus, um alle Phänomene des Spracherwerbs ausreichend zu erklären. So sind längst nicht alle sprachlichen Anpassungen, die Eltern vornehmen, für einen sprachlichen Erwerbsprozess zwingend notwendig. Untersuchungen konnten nämlich nachweisen, dass einige Mütter ihr Sprachangebot in einer Art und Weise unterbreiten, die für den Erwerbsprozess eher hinderlich sind: etwa wenn sie ihr sprachliches Angebot erheblich reduzieren, weil sie intuitiv glauben, die Kinder sonst zu überfordern. Erstaunlicherweise lernt ein Kind sogar selbst dann komplexere sprachliche Strukturen, wenn es sie sprachlich nicht angeboten bekommt. Der hier vorgestellte zweite Theorieansatz, der den Spracherwerb durch Prozesse der sozialen 25

TEIL 2 Materialien zur Früherkennung und Beratung Interaktion zu erklären versucht, vermutet, dass Eltern ihren sprachlichen Input optimal den sprachlichen Erwerbsprozessen des Kindes anpassen. Offen bleibt hier die Frage, wie Eltern und zwar alle Eltern zu diesem intuitiven Wissen überhaupt kommen. Die Ausführungen zu den Ansätzen: Imitation und Verstärkung sowie soziale Interaktion zeigen, dass der Einfluss der Umwelt allein nicht ausreicht, um den Spracherwerbsprozess des Kindes umfassend zu erklären. Es ist deutlich geworden: Unsere Einflüsse als Eltern, als Therapeuten, als Erzieher des Kindes sind begrenzt. Spracherwerb im Kontext seiner kommunikativen Funktion Kinder erwerben Sprache, um mit ihrer Umgebung zu kommunizieren. Sie sind motiviert, eine Sprache zu erwerben, weil sie kommunizieren möchten. Indem sie uns ihre Bedürfnisse, Wünsche, Entdeckungen und Gedanken mitteilen wollen, erwerben sie unsere Sprache eine Sprache, die wir verstehen. Der Spracherwerb findet somit nicht losgelöst von seiner Funktion (von der Aufgabe, die Sprache hat) statt. Kinder lernen Sprache so, dass andere sie verstehen können. Sie erlernen dabei diejenigen sprachlichen Elemente, die in der wechselseitigen Kommunikation das Verstehen möglich machen. Beispiel: Ein Säugling schreit. Anfangs fragen wir uns: Was hat er bloß? Hunger, eine volle Windel, Langeweile oder gar Schmerzen? Vielleicht erkennen wir an der Art und Weise des Schreiens, wie dringlich das Problem ist, alles andere aber müssen wir meist austesten. Da ist ein erstes Happa Happa verbunden mit einer Zeigegeste auf eine Banane schon eindeutiger: Das Kind möchte die Banane, die es sieht, essen. Es lernt sich zunehmend deutlicher auszudrücken, es setzt Sprache, Mimik und Gestik ein, um anderen seinen Hunger zu vermitteln. Und doch zeigt sich im Spracherwerbsprozess des Menschen, dass hoch komplexe grammatische Regeln erworben werden, die sich nicht auf kommunikatives Handeln zurückführen lassen. Die Anwendbarkeit von Sprache für die zwischenmenschliche Kommunikation ist nicht das einzige Erwerbsprinzip beim Spracherwerb. Wir können dies anhand eines Beispiels erkennen. Es macht deutlich, dass unsere Kommunikationsmöglichkeiten durch die Regeln der Grammatik eingeschränkt werden. Beispiel: Warum sind folgende Sätze a c möglich, Satz d hingegen nicht? a: Die Mutter hat den Kindern ein Märchen erzählt. b: Den Kindern hat die Mutter ein Märchen erzählt. c: Ein Märchen hat die Mutter den Kindern erzählt. d: Den Kindern die Mutter ein Märchen hat erzählt. Die Unzulässigkeit des Satzes d ist nicht durch eine unzulässige kommunikative Funktion zu erklären. Die Unzulässigkeit kann lediglich durch grammatische Gesetzmäßigkeiten erklärt werden. Die kindliche Motivation, eine Sprache zu erlernen, ist vor allem darin zu sehen, dass Sprache einen kommunikativen Austausch zwischen Menschen ermöglicht. Allerdings stößt der eben vorgestellte theoretische Ansatz an seine Grenzen, wenn der Erwerb grammatischer Gesetzmäßigkeiten erklärt werden soll. Beispiel: Nehmen wir den Satz: Es regnet. Was sagt uns in diesem Satz das Wörtchen es? Nichts! Denn es hat keine kommunikative Funktion, sondern lediglich eine grammatische. Unsere Grammatik legt fest, dass ein Satz nicht lediglich aus einem Verb (satzintern: Prädikat) bestehen darf, sondern mindestens noch ein Subjekt aufweisen muss, um als Satz zu gelten. 26

M 3 Spracherwerb als Ergebnis einer allgemein-kognitiven Reifung Die sprachliche Entwicklung vollzieht sich im Rahmen allgemein-kognitiver Entwicklungsvorgänge, das heißt der Spracherwerb steht im engen Zusammenhang mit der intellektuellen Reifung des Kindes. Es lernt zunehmend Sinneseindrücke zu verarbeiten, es lernt zu denken, es lernt, sich an bereits Erlebtes zu erinnern. In diesem Gefüge erwirbt es auch seine Sprache. Sprachliche Strukturen können so besagt dieser vierte Erklärungsansatz nur erworben werden, wenn das Kind auf einen bestimmten kognitiven Entwicklungsstand zurückgreifen kann, der bereits erreicht sein muss. Beispiel: Sprachliche Vergleiche wie: Dieses Auto ist größer als das da. können vom Kind nur erworben werden, wenn es die kognitive Fähigkeit zur Beurteilung von Größenunterschieden bereits ausgebildet hat. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget versuchte Abhängigkeiten und zeitliche Parallelen zwischen sprachlichen und allgemein-kognitiven Entwicklungen aufzudecken. So fällt etwa die Aneignung der Repräsentationsfunktion von Sprache zeitlich zusammen mit dem Einsetzen des Spracherwerbsprozesses: Sprache repräsentiert Außersprachliches, beispielsweise Gegenstände oder Personen. Beispiel: Ein Kind lernt, dass ein Bild, auf dem eine Banane abgebildet ist, nicht nur ein Papierkarton mit gelber Farbe ist, sondern für dasjenige steht, was gelb ist und bananig schmeckt es stellt eine Banane dar, ist aber keine reale Banane. Das Kind lernt gleichzeitig zwischen konkreter Realität (Banane) und symbolischer Repräsentation (ein Bild von einer Banane) zu unterscheiden. Es erwirbt einen Sinn für die Gegenwart von Gegenständen und beginnt nach Dingen zu suchen, die versteckt wurden. Dass der Spracherwerbsprozess mit allgemeinkognitiven Entwicklungsprozessen zusammenhängt, erscheint zunächst einleuchtend. Wenn aber allgemein-kognitive Entwicklungsprozesse mit Spracherwerbsprozessen zusammenhängen, ergibt sich beispielsweise folgender Widerspruch: Der Erwerb der Lautstruktur und der grammatischen Strukturen einer Sprache verlangt nach diesem Erklärungsansatz die Fähigkeit, abstrakt-formale Denkoperationen durchführen zu können. Diese Denkoperationen entwickeln sich allerdings erst im Alter von 10 12 Jahren. Kinder erwerben die Lautstruktur und Grammatik ihrer Sprache hingegen bereits in den ersten 5 6 Lebensjahren. Daraus lässt sich ableiten, dass der Spracherwerb in vielen Bereichen unabhängig von einer allgemein-kognitiven Entwicklung verläuft. Beispiel: Das Erkennen von Lauten verlangt besondere Kategorisierungsleistungen, denn jeder ausgesprochene Laut, etwa p, ist physikalisch messbar ein anderer Laut. (Das p von psychisch hört sich anders an als das p von patent.) Die verschiedenen p-laute müssen deshalb zu einem Repräsentanten der p-laute zusammengefügt werden. Das leisten Kinder bereits vor dem 6. Lebensjahr. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der kindliche Spracherwerb kann weder ausschließlich aus Umwelteinflüssen erklärt werden noch aus Sicht der kommunikativen Funktion von Sprache oder als Ergebnis einer allgemein-kognitiven Reifung. Es scheint, dass die Sprachentwicklung durch eine weitere, spezifischere Fähigkeit, eine Sprache zu erwerben, unterstützt wird. Spracherwerb als angeborene Fähigkeit Der fünfte Erklärungsansatz basiert auf der Annahme, dass ein Kind eine angeborene und spezifische Fähigkeit zur Sprachentwicklung besitzt. Das heißt nicht, dass Kinder mit ihrer Sprache geboren werden, es heißt lediglich, dass das kindliche Gehirn bereit ist für den Erwerb einer Sprache. Das Kind verfügt über die ihm bereits angeborene Fähigkeit, eine Sprache zu erwerben. Sobald das Kind mit Sprache in Berührung kommt, beginnen bestimmte grundlegende Prinzipien automatisch zu wirken, die dafür sorgen, dass die Entwicklung oder Strukturierung von Sprache 27