D Dr. Daniel Effer-Uhe sychologie für Juristen
Wiederholungsfragen: Mit welcher Frage beschäftigt sich die Attributionstheorie und welche beiden grundsätzlichen Möglichkeiten der Attribution gibt es? Die Attributionstheorie beschreibt die Art und Weise, in der wahrgenommene Informationen genutzt werden, um zu kausalen Erklärungen für das Verhalten eines Menschen zu gelangen. Generell kann man die Ursache des Verhaltens in der erson (internale oder dispositionale Attribution) oder in ihrer Situation (externale oder situative Attribution) sehen. Was versteht man unter dem fundamentalen Attributionsfehler? Unter dem fundamentalen Attributionsfehler versteht man die generelle Tendenz, internale/dispositionale Faktoren zu überschätzen, externale/situative Faktoren dagegen zu unterschätzen. 2
sychologie für Juristen Statistische Fehlschlüsse Literatur: Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 4. Aufl. 2014, S. 143-182; Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, 2005, S. 124-177 (online unter http://opac.nebis.ch/ediss/20050075.pdf) Einführung: Die rosecutor s Fallacy ( Fehlschluss des Anklägers ): Im März 2014 kommt es in San Francisco zu einem Mord, bei dem DNA-Spuren des Täters gefunden werden. 2016 wird in New York durch Zufall ein Mann ermittelt, dessen DNA-rofil mit den DNA-Spuren aus San Francisco übereinstimmt. Weitere Indizien dafür, dass der Mann aus New York die Tat in San Francisco begangen hat, bestehen nicht; ob er zur Tatzeit in San Francisco war, lässt sich nicht mehr feststellen. Ein von der Staatsanwaltschaft bestellter Sachverständiger stellt fest, dass das gefundene DNA-rofil nur bei einem von 10 Mio. Menschen vorkommt. Der Staatsanwalt fragt nach, wie hoch denn die Wahrscheinlichkeit ist, dass die ermittelte erson der Täter ist. Der Sachverständige antwortet: 10 Millionen zu 1. Daraufhin erhebt der Staatsanwalt Anklage. Zurecht? 3
Statistische Fehlschlüsse Der Schluss des Staatsanwalts (und auch schon die zweite Antwort des Sachverständigen) sind falsch. Das zeigt sich schon, wenn man sich überlegt, dass die USA etwa 322 Mio. Einwohner haben. Statistisch sollten also etwa 32 Menschen allein in den USA das gesuchte DNA-rofil aufweisen. Das roblem liegt schon in der Fragestellung: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine erson der Täter ist, kann nicht anhand eines Indizes bestimmt werden. Vielmehr kann ein Indiz nur dazu führen, dass sich eine vorher gegebene Apriori- Wahrscheinlichkeit verändert. Der Staatsanwalt hätte also dem Sachverständigen eine Anfangswahrscheinlichkeit nennen müssen, damit seine Frage sinnvoll zu beantworten gewesen wäre. Also z.b. Wenn 322 Mio. Menschen als mögliche Täter in Betracht kommen, wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass gerade die ermittelte erson der Täter ist? Die richtige Antwort lautet dann etwa 1:32, nicht etwa 10 Millionen:1. 4
Grundbegriffe H = Haupttatsache = Gegenstand der Beweisführung I = Indiz I c (Das hochgestellte c steht für Complement, also Nichtvorliegen des Indizes oder der Haupttatsache.) Beweisring I 1 H I 3 Hinweis: Die folgenden Folien zum Bayes-Theorem sind in Teilen mit freundlicher Genehmigung von Frau stud. iur. Kathrin Hüttmann übernommen. Beweiskette 50 % 1/2 90 % 9/10 I 1 I 2 H H c 1/2 x 9/10 = 9/20 = 45 % I 2 Jedes Indiz verweist schon für sich genommen unmittelbar auf die Haupttatsache. Je mehr Indizien vorliegen, desto wahrscheinlicher ist die Haupttatsache. Das erste Indiz verweist auf das zweite Indiz usw. Erst das letzte Indiz verweist auf die Haupttatsache. Je mehr Indizien hintereinandergeschaltet sind, desto unwahrscheinlicher wird die Haupttatsache.
a-priori-wahrscheinlichkeit = Anfangswahrscheinlichkeit = H Beweisführung a-posteriori-wahrscheinlichkeit = Endwahrscheinlichkeit = H I bedingte Wahrscheinlichkeit = Wahrscheinlichkeit von H unter der Bedingung I
Einführungsfall zum Bayes-Theorem Auf einem Kreuzfahrtschiff kommt es im Jahr 2011 zu einem Tötungsdelikt. Der Täter hinterlässt eine DNA-Spur, aufgrund derer ein DNA-rofil erstellt werden kann. Die feststellbaren DNA-Daten treten bei 0,1 % aller Menschen auf. Auf dem Schiff befanden sich zum Zeitpunkt der Tat insgesamt 3600 Gäste und 500 Angestellte. 100 ersonen schließt die olizei als Täter aus, weil es sich um Kinder handelt. Im Jahr 2016 kommt es im Rahmen der Ermittlungen wegen eines anderen Tötungsdelikts zu einem freiwilligen Reihen-DNA-Test. Dabei gibt auch der T eine Speichelprobe ab. Es stellt sich heraus, dass er zwar für den aktuellen Fall als Täter nicht in Betracht kommt, aber sein DNA-rofil mit den 2011 festgestellten DNA-Daten übereinstimmt. Tatsächlich stellt sich heraus, dass er zum Zeitpunkt des Tötungsdelikts als assagier auf dem Kreuzfahrtschiff war. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass T das Tötungsdelikt im Jahr 2011 begangen hat? 7
4.000 mögliche Täter H H c 1 Täter 3.999 Unschuldige I I c I I c 1 Mal identische DNA-Merkmale 0 Mal keine DNA- Merkmals- Übereinstimmung ca. 4 Mal identische DNA-Merkmale ca. 3.995 Mal keine DNA- Merkmals- Übereinstimmung Insgesamt 5 Mal identische DNA- Merkmale I Somit gilt hier H I = 1 5
Das Bayes-Theorem H I = I H (H) I H H + I H c H c a-posteriori- Wahrscheinlichkeit (Endwahrscheinlichkeit) a-priori- Wahrscheinlichkeit (Anfangswahrscheinlichkeit)
H I = I H (H) I H H + I H c H c I 1 Mal identische DNA-Merkmale 4.000 mögliche Täter H 1 Täter I c 0 Mal keine identischen DNA-Merkmale H c 3.999 Unschuldige I I c 4 Mal identische DNA- Merkmale 3.995 Mal keine identischen DNA-Merkmale
4.000 mögliche Täter sychologie für Juristen H I = H 1 Täter I1 H (H) I H 1H + 1 4.000 1 4.000 I4H c 4.000 I I c H c 1 1 Mal identische DNA-Merkmale 0 Mal keine identischen DNA-Merkmale H c 3.999 Unschuldige I I c 4 Mal identische DNA- Merkmale 3.995 Mal keine identischen DNA-Merkmale
4.000 mögliche Täter sychologie für Juristen H I = H 1 Täter I1 H (H) I H 1H + 1 4.000 1 4.000 I4H c 4.000 I I c H c 1 1 Mal identische DNA-Merkmale 0 Mal keine identischen DNA-Merkmale H c 3.999 Unschuldige I I c 4 Mal identische DNA- Merkmale 3.995 Mal keine identischen DNA-Merkmale
Regeln für Beweisring und Beweiskette Achtung: Die folgenden Regeln gelten nur für unabhängige Indizien! Beweisring => Erweiterung des Theorems von Bayes für mehrere Indizien H I 1 I 2 I n = H H I 1 H I 1 H I n H + H c I 2 H ( I n H) I 1 H c ( I n H c ) Zu kompliziert? Stattdessen ist es auch einfach möglich, zunächst das Bayes-Theorem nur für ein Indiz anzuwenden und das Ergebnis als neue a-priori-wahrscheinlichkeit zu verwenden, bevor der Einfluss des nächsten Indizes nach dem unmodifizierten Bayes- Theorem berechnet wird. Beweiskette => Multiplikationsregel H = I 1 I 2 I n
Regel für abhängige Indizien Abhängige Indizien => zu einer Indizienfamilie zusammenfassen Beispiel: Indiz I 1 : Angeklagter hat (wie der Täter) extrem große Hände Indiz I 2 : Angeklagter hat (wie der Täter) extrem große Füße Indiz I 3 : Angeklagter hat (wie der Täter) eine Tätowierung am Oberarm Indizienfamilie I 1 + I 2 : Angeklagter hat (wie der Täter) extrem große Hände und Füße Indiz I 3 : Angeklagter hat (wie der Täter) eine Tätowierung am Oberarm
Typische statistische Fehlschlüsse Nichtbeachten der Abhängigkeit von Indizien Vernachlässigung der Basisrate [Ignorieren der a-priori-wahrscheinlichkeit (H)] Vgl. das Bayes-Theorem: I H (H) H I = I H H + I H c H c Bsp. für Vernachlässigung der Basisrate aufgrund einer Repräsentativitätsheuristik: Jens aus Ostfriesland Urteilsheuristiken: einfache Faustregeln, die komplexe Entscheidungen vereinfachen; also sozusagen mentale Abkürzungen, die Menschen nutzen, um schnell und effizient Urteile (nicht im Sinne des Gerichtsurteils!) zu fällen, ohne auf vollständige Information und Informationsauswertung angewiesen zu sein Bsp.: Das sogenannte Taxi-roblem (vgl. Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, S. 124 ff., online unter http://opac.nebis.ch/ediss/20050075.pdf) 15
Typische statistische Fehlschlüsse das Taxi-roblem Zwei Taxigesellschaften sind in einer Stadt tätig. Die Taxis der Gesellschaft G sind grün, die der Gesellschaft B blau. Die Gesellschaft G stellt 15 % der Taxis, die Gesellschaft B die verbleibenden 85 %. Eines Nachts kommt es zu einem Unfall mit Fahrerflucht. Das fliehende Auto war ein Taxi. Ein Zeuge sagt aus, es habe sich um ein grünes Taxi gehandelt. Das Gericht lässt den Zeugen auf seine Fähigkeit untersuchen, grüne und blaue Taxis unter nächtlichen Sichtbedingungen zu unterscheiden. Das Untersuchungsergebnis ist: In 80 % der Fälle identifiziert der Zeuge die Farbe zutreffend, in 20 % der Fälle irrt er sich. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich beim fliehenden Taxi um ein Taxi der Gesellschaft G (also um ein grünes Taxi) gehandelt hat? 16
Zeuge sieht grün H I H =12% Grünes Taxi Zeuge sieht blau 100 I H (H) I H H + I H c H c = 0,12 0,12 + 0,17 = 12 29 41% Blaues Taxi Zeuge sieht blau Zeuge sieht grün 12 12 + 17 H c I H c =17%
Typische statistische Fehlschlüsse (Fortsetzung) Die inverse Fallacy (Verwechseln von (H I) mit (I H)) Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte der Täter ist, wenn das Indiz vorliegt Wahrscheinlichkeit, dass das Indiz vorliegt, wenn der Angeklagte auch der Täter ist Bsp.: ro Jahr bringen höchstens 0,01 % der Männer, die ihre Frau schlagen, sie auch um. Dass O.J. Simpson seine Frau geschlagen hat, sei also nicht belastend. Hier wird (Mann schlägt Frau Mann tötet Frau) gleichgesetzt mit (Mann tötet Frau Mann schlägt Frau). Das ist falsch. Betrachten wir 10.000 Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden und von denen eine umgebracht wird. Angenommen, generell würde durchschnittlich eine von 10.000 Frauen jährlich von irgendjemandem umgebracht. Dann würde statistisch also eine weitere der restlichen 9.999 Frauen von irgendjemand anders getötet werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass der konkrete schlagende Mann einer getöteten Frau diese getötet hat, beträgt dann also 50 %!
Ist ein Indiz belastend oder entlastend? Um herauszufinden, ob ein Indiz sich belastend oder entlastend auswirkt, muss man drei Fragen stellen: 1. Wie häufig kommt das Indiz Wie viele Ehefrauenmörder (Haupttatbei der Haupttatsache vor? sache) haben zuvor ihre Frau geschlagen (Indiz)? 2. Wie häufig kommt das Indiz Wie viele Ehemänner, die ihre Ehefrau (auch) bei der Nicht- nicht töten (Nicht-Haupttatsache), Haupttatsache vor? schlagen ihre Ehefrau? 3. Wo kommt das Indiz häufiger Wer schlägt seine Ehefrau häufiger: vor, bei Gruppe (1) [Haupt- Mörder oder Nicht-Mörder? tatsache] oder bei Gruppe (2) [Nicht-Haupttatsache]? 19
Typische statistische Fehlschlüsse (Fortsetzung) Die schon betrachtete rosecutor s Fallacy = Gleichsetzen von H I mit 1 I H c Hier wird die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte der Täter ist, wenn das belastende Indiz vorliegt, mit der Wahrscheinlichkeit verwechselt, dass das Indiz vorliegt, obwohl der Angeklagte nicht der Täter ist. Dieser Fehlschluss unterläuft üblicherweise nur bei sehr geringen/sehr hohen Wahrscheinlichkeiten. Z.B. würde niemand aus der Tatsache, dass ein Täter männlich war und 50 % der Bevölkerung männlich sind, schlussfolgern, dass ein konkreter Angeklagter, allein deshalb, weil er ein Mann ist, mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % die Tat begangen hat. 20
Typische statistische Fehlschlüsse (Fortsetzung) Die Defense Attorney s Fallacy ( Fehlschluss der Verteidigung ) = Täterwahrscheinlichkeit H I wird unterschätzt Bsp.: 0,01% der Bevölkerung haben dieselben DNA wie der Täter => von 80.000.000 Deutschen haben immer noch 8000 Menschen diese DNA => Also deswegen geringe Relevanz des Indizes? Nein! Das Indiz begrenzt die Zahl der Verdächtigen sehr stark, ohne dass der Angeklagte dadurch ausgeschlossen wird => stark belastendes Indiz 21
Juristische Folgen statistischer Fehlschlüsse Richter sind grundsätzlich gem. 286 ZO und 261 StO in ihrer Beweiswürdigung frei. Aber: Ein Verstoß gegen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung bildet einen Verstoß gegen Denkgesetze und damit einen Rechtsfehler. Folge: Nicht nur Kontrolle durch erneute tatrichterliche Beweiswürdigung in der Berufungsinstanz Berufung, sondern auch gem. 337 StO bzw. 559 II ZO i.v.m. 545 I, 546 ZO ein Revisionsgrund Eine Korrektur des statistischen Fehlschlusses in der nächsten Instanz ist also möglich und kommt insbesondere beim BGH in Strafsachen regelmäßig vor. 22
Empfehlungen zum Umgang mit Wahrscheinlichkeiten: Statt Brüchen und rozentzahlen natürliche Häufigkeiten verwenden a-priori-wahrscheinlichkeit beachten bei bedingten Wahrscheinlichkeiten Häufigkeitsbaum zeichnen oder das Bayes-Theorem verwenden 23