Prof. Dr. Nele Matz-Lück WS 2013/2014 ALLGEMEINE STAATSLEHRE II. Staatsbegriff und Staatsdefinitionen 1. Vorbemerkungen abstrakt zu formulieren, was eigentlich den Staat ausmacht, gestaltet sich von alters her schwierig, ist jedoch erforderlich, weil o das Völkererrecht an die Staatlichkeit Rechte und Pflichten knüpft o nur der Staat als berechtigt angesehen wird, nach innen Gewalt anzuwenden und Sanktionen zu verhängen = sog. Gewaltmonopol des Staates Definition des Begriffes Staat ist unumgänglich, um klare Feststellungen über bestimmte Rechtsbeziehungen treffen zu können o z.b. entbehrten sowohl die Treuepflicht der Staatsbürger als auch die Schutzpflichten der Staatsgewalt ihnen gegenüber jeder Grundlage, wenn man Staat nicht definieren könnte (verfassungsrechtliche Notwendigkeit) o Rechtserheblichkeit von Handlungen eines Staatsverbandes im internationalen Raum kann nur festgestellt werden, wenn es sich tatsächlich um einen Staat handelt (völkerrechtliche Notwendigkeit) 2. Historische Entwicklung von Staatlichkeit a) Vorstaatliche Strukturen bis zum 16. Jahrhundert Mindestvoraussetzung: Gemeinschaft mehrerer vernunftbegabter Menschen (Arg.: der Mensch ist ein auf die Gemeinschaft hin bezogenes Wesen [zoon politikon]) größere Herrschaftsverbände
o (P) auch Großfamilie ist bereits eine solche Gemeinschaft o ursprünglich wurden Herrschaftsverbände als personale Verbände gebildet, z.b. in Stämmen oder durch persönliche Bindung an den jeweiligen Herrscher Griechische Polis: kommt in Teilaspekten dem heutigen Staatsverständnis nahe o Polis = Burg/ Stadtstaat o Entwicklung aus offenen Dörfern und Stammesverbänden o Politische und religiöse Gemeinschaft o Personenverbandsstaat, Territorium ohne rechtliche Bedeutung o Politen = Bürger mit Bürgerrecht, nicht aber Fremde, Sklaven und Frauen o ausgelegt auf Aufrechterhaltung der Ordnung nach innen, rechtliche Freiheit zur Verfassungsgebung (Autonomie) und wirtschaftliche Unabhängigkeit (Autarkie) nach außen o Zusammentreten der Politen in der Volksversammlung (Ekklesia), in der alle wesentlichen Entscheidungen getroffen wurden und der die Gesetzgebung oblag Römisches Reich o imperium romanum = Gebiete unter der Befehlsgewalt des römischen Volkes, die ihrerseits aber kein einheitlicher Rechtsstatus verband o abstrakter Staatsbegriff, durch den das Gemeinwesen eine von den Herrschaftsunterworfenen unabhängige Rechtspersönlichkeit erlangt, war den Römern fremd o res publica = Angelegenheit der Öffentlichkeit, des Gemeinwesens o keine geschriebene Verfassung, Gewohnheitsrecht regelt Zuständigkeiten der Staatsorgane 2
Mittelalter o Zugehörigkeit zu einem bestimmten, rechtlich geordneten Personenverband entscheidend (ständisches Recht) o keine umfassende Rechtssetzung, sondern Rechtsfindung (Rechtsbewahrungsstaat) o Gewohnheitsrecht (gutes altes Recht): Entstehung durch tatsächliche Übung über einen gewissen Zeitraum (ohne Forderung, dass die Übung tatsächlich geboten ist) o Geschriebenes Recht als Fixierung des bestehenden Rechtes ab dem 13. Jahrhundert mit zunehmender Bedeutung o mittelalterliche Rechtsordnung im Heiligen Römischen Reich geprägt durch Lehnswesen (Lehnsstaat) o Ansätze (verfassungs-)gesetzlicher Strukturen durch Beschränkung des Fehdewesens durch Landfrieden (insb. Mainzer Reichslandfrieden) und die Goldene Bulle (1356) o zunehmend Stärkung staatlicher Macht gegenüber dem Einzelnen b) Ausbildung des modernen Staates in der Neuzeit Tatsächliche Voraussetzungen o Anstieg der Bevölkerungszahlen (von 3 Mio. um 1000 auf 15 Mio. um 1500): Bedürfnis nach Ordnung der Lebensverhältnisse o Wirtschaftlicher Aufschwung o Wandel der Landesherrschaft zum Territorialstaat: Territorium gewinnt zunehmend eigenen Rechtscharakter Geistige Voraussetzungen o Niccolo Machiavelli (1469 1527), Florenz, Jurist, Historiker, Staatsmann, Diplomat spricht in Il Principe (Der Fürst) von der Idee der Staatsräson entscheidende Aufgabe des Staates: Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt seiner Bürger; Sicherheit nach außen, Freiheit und Ordnung nach innen 3
Verzicht auf theologisch-moralische Erwägungen jedoch wird auch bei Machiavelli der Staat noch eher personalbezogen verstanden, der territoriale Bezug des Staates wird erst später herausgearbeitet o Säkularisation: Staat als weltliches Gebilde Parallel dazu während der frühen Neuzeit Konfessionalisierung der Staatlichkeit: Augsburger Religionsfriede (1555), Fürsten bestimmen über die Konfession auch ihrer Untertanen Westfälischer Friede (1648): Gleichberechtigung der Konfessionen, uneingeschränkte Souveränität der Landesherrn o Rationalismus und Aufklärung: philosophische und rechtliche Prinzipien als Grundlage des westlichen Staats- und Verfassungsverständnisses Wandel vom mittelalterlichen Rechtsbewahrungs- zum neuzeitlichen Rechtsschöpfungsstaat Schaffung dauerhafter Verwaltungsinstitutionen mit spezifischen Aufgaben 3. Begriff und Definition des Staates a) Ursprung Ursprung ist der lateinische Begriff status, aber die Römer bezeichneten ihr Gemeinwesen als populus romanus oder generell als res publica (Republik); status eher im Sinne Stand oder Zustand zu verstehen auf status zurückführen lassen sich natürlich die italienische (stato) aber z.b. auch die französische (l état), englische (state) und spanische (estado) und dänische (stat) Bezeichnung des Staates Begriff seit dem 15. Jahrhundert in Deutschland, Lösung von lateinischer Ursprungsform ab Mitte des 16. Jahrhunderts 4
b) Staatsbegriffe Unterscheidung zwischen einem soziologischen und einem juristischem Staatsbegriff: die Soziologie betrachtet das Seiende, wohingegen das Recht eine Idee ist und festlegt, was gesollt ist Im Sinne eines soziologischen Staatsbegriffs definiert Max Weber (Politik als Beruf, 1919) den Staat als diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes (...) das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Aus juristischer Sicht ist der Staat nichts im engeren Sinne Gegenständliches, sondern eine Idee einer Ordnung Der juristische Staatsbegriff stellt daher auf die normative Ordnung ab Hans Kelsen: der Staat ist keine Ordnung der Natur, sondern eine normative, das gegenseitige Verhalten einer Vielheit von Menschen regelnde Ordnung ; Staat und Rechtsordnung sind damit für Kelsen identische Begriffe c) Einzelne Elemente des Staates die sog. Drei-Elementen-Lehre von Jellinek ist bis heute maßgeblich für die Definition von Staat o Georg Jellinek = österreichischer Staatsrechtler, 1851 1911 o um als Staat gelten zu können, muss eine Wirkungseinheit drei Elemente in sich vereinen: Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt Kritik: Zirkelschluss o Die drei Elemente bedingen sich gegenseitig, keines von ihnen kann losgelöst von den anderen Elementen definiert werden: Staatsgebiet = Durch Staatsgrenzen abgegrenzter Teil der Erdoberfläche als ausschließlicher Herrschaftsbereich Staatsvolk = Personenverband, über den dauerhaft Hoheitsgewalt ausgeübt wird 5
Staatsgewalt = effektive Herrschaftsmacht, die im Staatsgebiet und über das Staatsvolk ausgeübt wird o Schöbener, Allg. Staatslehre, 3 Rn. 22: Die Bestimmung des Staatsgebietes durch Staatsgrenzen setzt ihrerseits die Existenz von staatlich verfassten Territorien voraus. In gleicher Weise knüpft der Begriff des Staatsvolkes an die rechtliche Zusammenfassung von Menschen zu einer Gruppe (Staatsangehörige) durch eine staatliche Herrschaftsordnung an. Schließlich genügt für die Zuerkennung von Staatsgewalt nicht jede Form der Herrschaftsausübung über Personen und Räume, sondern nur eine durch staatliche Souveränität gekennzeichnete. o Aber: beste vorhandene Definition, lässt verschiedene verfassungsrechtliche Strukturen zu und überlässt die innere Ordnung einem jeden Staat selbst Verhältnis der Elemente: o Doehring, Allg. Staatslehre, S. 25: Die Bevölkerung eines Staates macht, wohl unbestritten, die wichtigste Substanz des Staatsbegriffs aus, denn Staatsgebiet und Staatsgewalt sollen dem Volk dienen und nur wegen des Volkes bedarf man der Erläuterungen der Rechtsbeziehungen. o Schöbener, Allg. Staatslehre, 3 Rn. 23: Das zentrale Kriterium der Drei-Elemente-Lehre ist die Staatsgewalt. Ihr kommt eine herausragende, die Staatlichkeit in besonderer Weise kennzeichnende Bedeutung zu. Erst die Staatsgewalt konstituiert ein vorhandenes Territorium und eine vorhandene Mehrzahl von Personen zu einem Staat. o Shaw, International Law, S. 487: International Law is based on the concept of the state. The state in turn lies upon the foundation of sovereignty, which expresses internally the supremacy of the governmental institutions and externally the supremacy of the state as a legal person. But sovereignty itself, with its regime of legal rights and duties is founded upon the fact of territory. Without territory a legal person cannot be a state. It is undoubtedly the basic characteristic of a state and the one most widely accepted and understood. 6