Forum C. Die Bedeutung von Kontextfaktoren in der sozialmedizinischen Begutachtung

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Transkript:

Forum C Zugang zu Leistungen, Sozialmedizinische Begutachtung, Assessment Diskussionsbeitrag Nr. 10/2014 Die Bedeutung von Kontextfaktoren in der 25.04.2014 von Dr. med. Sabine Grotkamp MHM, Fachärztin für Chirurgie/Viszeralchirurgie, Sozialmedizin, Leiterin der Sozialmedizinischen Expertengruppe Leistungsbeurteilung/Teilhabe der MDK-Gemeinschaft beim MDK Niedersachsen, Hannover I. Ausgangslage In der Erkenntnis, dass die alleinige Erfassung von Diagnosen nicht ausreicht, um die gesundheitliche Situation eines Menschen angemessen zu beschreiben, entwickelte die World Health Organization (WHO) die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Parallel zu dieser Entwicklung wurde in Deutschland das SGB IX konzipiert. Mit Inkrafttreten beider Werke 2001, war festzustellen, dass die Autoren des SGB IX die Chance nutzten, das Verfahren der Bedarfsfeststellung durch Anlehnung an die ICF als konzeptionelles Bezugssystem im Hinblick auf ein differenzierteres Verständnis von Gesundheit und Krankheit, Funktionsfähigkeit und Behinderung personenzentrierter zu gestalten. Der Gesetzgeber erläutert in seiner Begründung zum SGB IX, dass das Ziel von Teilhabeleistungen für behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sein soll. Aus dem dann folgenden Hinweis auf das Partizipationsmodell der ICF 1 lässt sich zwar nicht die Vorschrift zur unmittelbaren Anwendung der ICF ableiten, trotzdem kann aus diesem Verweis die Legitimation zur Nutzung der ICF als Grundlage für eine einheitliche, trägerübergreifende Feststellung des individuellen Leistungsbedarfs generiert werden. Der Gesetzgeber verpflichtet unter Hinweis auf die Regelungen nach 14 SGB IX alle Rehabilitationsträger in 10 Abs. 1 SGB IX, die nach dem individuellen Bedarf voraussichtlich erforderlichen Leistungen funktionsbezogen festzustellen. Für die funktionsbezogene Feststellung des individuellen Bedarfs an Teilhabeleistungen haben sich die Rehabilitationsträger auf Ebene der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) in der Gemeinsamen Empfehlung nach 13 Abs. 1 in Verbindung mit 12 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX auf gemeinsame Vorgaben für die Durchführung von Be- 1 BT-Drs. 14/5074, S. 94. 1

gutachtungen verständigt. Mit dieser Empfehlung wurden trägerübergreifende Grundsätze für eine umfassende sozialmedizinische und bei Bedarf auch psychologische Begutachtung vereinbart, die die ICF für die Beschreibung von krankheitsbedingten Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit nutzt. Die Gliederung der Gutachten nach Anamnese, Befunde, Diagnose, Epikrise und sozialmedizinische Beurteilung fordert für die Beurteilung von Art und Ausmaß der Beeinträchtigung explizit auch die angemessene Berücksichtigung möglicher positiver und negativer Aspekte der Umwelt- und personbezogenen Faktoren. Sowohl Sachbearbeiter von Sozialleistungsträgern als auch Gutachter, Ärzte und Therapeuten sind verpflichtet, individuelle Kontextfaktoren immer dann in ihre Überlegungen mit einzubeziehen, wenn sie sich im Einzelfall günstig oder ungünstig auf die Teilhabe bzw. Durchführung von Teilhabeleistungen auswirken können. Das heißt, dass bei der Bemessung von Art, Umfang und Inhalt der Leistungen die für die Behinderung relevanten Wechselwirkungen zwischen einem Gesundheitsproblem und den Kontextfaktoren einer Person auf ihre Funktionsfähigkeit einzubeziehen und die jeweiligen Teilhabeziele darauf auszurichten sind 2. II. Kontextfaktoren als wichtigste Stellschraube im Rahmen einer ergebnisorientierten individuellen Bedarfsfeststellung Das Konzept der ICF basiert auf den Wechselwirkungen zwischen der Ebene von Organen und Organsystemen, der Ebene des Handelns und der Ebene der sozialen Rolle eines Menschen unter Einbeziehung relevanter Einflussfaktoren aus der Umgebung und der Person selbst. Diese werden in der wohl am häufigsten zitierten Abbildung der 2 Bihr et al. (2006). 2 Wechselbeziehungen zwischen den Komponenten der ICF illustriert (Abb. 1). Abbildung 1: Das Modell beinhaltet eine Erweiterung der rein medizinischen, diagnosebezogenen Betrachtung durch die Berücksichtigung psychosozialer Aspekte von Krankheit und Behinderung, indem es Kontextfaktoren (Umwelt- und personbezogene Faktoren) ausdrücklich und regelhaft einbezieht. Damit werden Krankheitsfolgen und Behinderung auch in Abhängigkeit von der Lebenslage bzw. Situation einer Person eingeordnet. Behinderung in Sinne der ICF wird nicht einfach als Merkmal einer Person verstanden, sondern ist Ausdruck einer Wechselwirkung zwischen der Person mit einem Gesundheitsproblem und ihren Kontextfaktoren. Funktionsfähigkeit stellt in der ICF als Oberbegriff die positive Betrachtung und Behinderung als Oberbegriff die negativen Aspekte der Wechselwirkungen zwischen den Komponenten der ICF dar. Die Visualisierung der im obigen Modell anschaulich dargestellten möglichen Wechselwirkungen unterstützt die Identifizierung individuell erforderlicher Teilhabeleistungen. Die Kenntnis, welche umwelt- oder personbezogenen Faktoren einen fördernden oder hemmenden Einfluss haben, erleichtert nicht nur die Auswahl geeigneter Interventionen, sondern trägt ebenso dazu bei, den Entscheidungsprozess sowohl für die betroffenen Menschen selbst als auch die Sozialgerichtsbarkeit transparenter und nachvollzieh-

barer darzustellen. Durch die Zusammenführung von medizinischer und sozialer Perspektive, wird nicht mehr nur darauf fokussiert, Wodurch ist jemand behindert?, sondern auch, wie dem entgegengewirkt werden kann und zwar mit der Frage: Wodurch wird jemand behindert?. Die Auswirkungen eines Gesundheitsproblems auf die Funktionsfähigkeit werden so von zwei Seiten beleuchtet, einerseits vom medizinischen Aspekt und andererseits als Ergebnis ungünstiger Kontextfaktoren. Die Orientierung an der Philosophie der ICF bietet insofern die Möglichkeit für eine umfassende Sichtweise. Im Gegensatz zu den Umweltfaktoren sind die personbezogenen Faktoren aufgrund der mit ihnen einhergehenden großen soziokulturellen Unterschiedlichkeit von der WHO noch nicht klassifiziert worden und werden nur beispielhaft aufgeführt. Sie spielen aber eine entscheidende Rolle für den Erfolg bzw. Misserfolg von Teilhabeleistungen. Aus den in der ICF aufgeführten Beispielen muss sich der Nutzer selbst ein Bild davon machen, was er dem personbezogenen Kontext zurechnen will. Für den deutschsprachigen Raum gibt es erste Ansätze von der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) zur systematischen Ausgestaltung dieser Komponente. Die verschiedenen Eigenschaften einer Person werden gegliedert, ausgehend von einfachen, vorgegebenen und in der Regel überdauernden Merkmalen, über die physische und mentale Konstitution einer Person bis hin zu komplexen Merkmalen, wie Einstellungen, Grundkompetenzen und Lebensgewohnheiten sowie der Lebenslage, in der sich eine Person befindet. 3,4,5 Sehr eindrucksvoll schilderte der querschnittsgelähmte Schauspielstudent Samuel 3 Grotkamp et al. (2012) In: Gesundheitswesen, 74: 449 458. 4 Grotkamp et al. (2012) In: Australian Journal of Rehabilitation Counselling, 18 (1): 1 24. 5 Grotkamp et al. (2014) In: Gesundheitswesen, 76: 172-180 3 Koch anlässlich einer Expertentagung zum Thema ICF am 05.11.2013 in Hannover die für seinen Rehabilitationsprozess relevanten Kontextfaktoren anhand der vorbeschriebenen Systematik und welche Konsequenzen nicht nur für die Person selbst, sondern auch für die Solidargemeinschaft erwachsen, wenn sie gar nicht berücksichtigt werden oder nicht individuell in die weiteren Überlegungen Eingang finden. 6 III. Sozialmedizinische Begutachtung Für den erfahrenen sozialmedizinischen Gutachter ist es selbstverständlich, dass der Einfluss aus dem Lebenshintergrund eines zu begutachtenden Menschen eine ebenso große wenn nicht sogar oft größere Relevanz hat, als die eingesetzten Maßnahmen. Es wäre fatal, wenn die umwelt- und personbezogenen Förderfaktoren aber auch eventuell bestehende Barrieren nicht frühzeitig/rechtzeitig in die Planung von Teilhabeleistungen einfließen würden. Wichtige Kontextfaktoren unberücksichtigt zu lassen, könnte nicht nur bedeuten, dass darauf verzichtet wird, den Erfolg der eingesetzten Maßnahmen zu erhöhen sondern auch, dass von unserer Gesellschaft zur Verfügung gestellte Ressourcen nicht effizient eingesetzt werden. Bereits in der ersten Ausgabe der Anhaltspunkte für die Begutachtung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach dem Reichsversorgungsgesetz vom 12.05.1920 findet sich der Hinweis, dass bei der Beurteilung zum einen der Gesamtzustand (Alter, Ernährungs- und Kräftezustand, Aussehen, körperliche Rüstigkeit und seelische Begleiterscheinungen) Berücksichtigung zu finden habe, und ferner die erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten sowie die gesamten Le- 6 Vgl. Giese Expertenforum 2013 Rückblick auf 12 Jahre ICF In: Forum C, Diskussionsbeitrag Nr. 7/2013 auf www.reha-recht.de.

bensverhältnisse des Untersuchten in Betracht zu ziehen seien. Die ICF stellt die Terminologie für eine umfassende und einheitliche Beschreibung der individuellen Auswirkungen eines Gesundheitsproblems zur Verfügung. Die Bezugnahme auf das Denkmodell der ICF beschränkt sich bislang weitgehend aber noch auf den Bereich der angewandten Sozialmedizin. Sozialmedizinische Gutachter, die zu den (sozial-)medizinischen Voraussetzungen einer Sozialleistung Stellung nehmen, können die ICF als Bindeglied zwischen Diagnose und sozialmedizinischer Bedeutung/ Beurteilung nutzen. So lassen sich Art und Ausmaß einer Behinderung bzw. der verbliebenen Funktionsfähigkeit sowie die Optionen für Interventionen und die sozialmedizinischen Grundlagen für Sozialleistungen strukturiert, transparent und nachvollziehbar beschreiben. Als konzeptionelles Bezugssystem findet sich die ICF sowohl in Begutachtungs- Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes für die Begutachtungen durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) als auch in Ausführungen zur sozialmedizinischen Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung (Deutsche Rentenversicherung 2011). Der sozialmedizinische Dienst der Bundesagentur für Arbeit ist dabei, seine Beurteilungen des Leistungsvermögens mit Hilfe von ICF-Kategorien zu übermitteln. Und für den Bereich der Sozialhilfeträger konstatiert Thomas Schmitt- Schäfer, Inhaber von transfer, eines Unternehmens für soziale Innovation, 2012 auf der 10. ICF-Anwenderkonferenz im Rahmen seiner Ausführungen zur individuellen Hilfeplanung (IHP3) des Landschaftsverband Rheinland : Die ICF findet zunehmend ihren Weg in die Eingliederungshilfe. 7 Die strukturierte Beschreibung von im Einzelfall relevanten Umwelt- wie personbezogenen Faktoren kann den beteiligten 7 Vgl. Gromann (2010). 4 Akteuren wichtige Hinweise für ein zielgerichtetes Handeln geben und liegt insbesondere im Interesse des betroffenen Menschen selbst. Ihre systematische Berücksichtigung ermöglicht individualisierte Leistungen und ist Voraussetzung für passgenaue nachgehende Maßnahmen zur Sicherung des Erfolgs von Teilhabeleistungen, indem die im Umfeld und in der Person liegenden Einflussfaktoren auf die Funktionsfähigkeit/Behinderung zielführend einbezogen werden. Die Analyse von Barrieren und möglichen Förderfaktoren sollte im Sinne einer umfassenden, ganzheitlichen Betrachtung (umfassende Bedarfsermittlung) ICF-basiert erfolgen. Dabei darf die Datenerhebung aber nur auf die aktuelle Problemstellung und diesbezüglichen relevanten Lebensumstände bezogen sein. In der des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung erwies sich die Berücksichtigung personbezogener Faktoren bei verschiedenen Anlässen als unverzichtbar. Die Frage beispielsweise, ob Mütter und Väter eine indikationsbezogene oder mütter- bzw. väterspezifische Vorsorge- oder Rehabilitationsleistung benötigen, hängt nicht zuletzt maßgeblich von personbezogenen Faktoren ab. IV. Chancen und Risiken Jede Klassifikation stellt gegenüber dem zu klassifizierenden Sachverhalt aufgrund der Abstraktion eine verkürzte Abbildung dar. Klassifizieren geht deshalb in der Regel mit einem Informationsverlust im Detail einher. Dies gilt aber vor allem nur für das kodierte Klassifizieren mit der ICF, nicht für die Nutzung der ICF als Konzept! Auch die Befürchtung eines Missbrauchs der ICF bezieht sich insbesondere auf das Kodieren und eine möglicherweise unangemessene Datenerhebung. Da auch ein nützliches Instrument missbraucht werden kann, hat die WHO die ICF mit elf ethischen Leitlinien veröffentlicht. Sie sind bei Nutzung der ICF zu beachten.

Die ICF klassifiziert nicht einen Menschen, sondern immer nur seine Funktionsfähigkeit. Von der Funktionsfähigkeit wird eine Momentaufnahme erstellt unter Berücksichtigung der für das aktuelle Gesundheitsproblem relevanten positiven wie negativen Einflüsse aus dem jeweiligen individuellen Lebenshintergrund. Deshalb sind Angaben zu Funktionsfähigkeit, Behinderung und Kontextfaktoren immer mit dem Datum der Feststellung zu versehen und gelten nur für die jeweils aktuelle Fragestellung. Eine sachgerechte Analyse und Bewertung je nach Fragestellung relevanter Aspekte eröffnet die Chance zur individuell passgenauen Auswahl erforderlicher Teilhabeleistungen. Insbesondere die Reflexion über relevante personbezogene Faktoren führt die Professionals besser an die Bedarfe des betroffenen Menschen heran und ermöglicht eine zielgerichtete Einbeziehung der jeweiligen individuellen Stärken und Schwächen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass insbesondere beim Einbezug von Informationen aus dem persönlichen Umfeld sowie der Person selbst, letztere grundsätzlich in den Erhebungs- und Beurteilungsprozess im Sinne einer partizipativen Entscheidungsfindung einbezogen wird und diesbezügliche Informationen nicht unreflektiert für eine spätere oder neue Fragestellung genutzt werden. Die Akzeptanz der Betroffenen für die systematische Berücksichtigung auch der jeweils relevanten personbezogenen Faktoren läuft dabei häufig parallel zur Transparenz im Entscheidungsprozess der Leistungsträger. Nicht zuletzt wird mit diesem Ansatz auch die justiziable Durchsetzung berechtigter Leistungsansprüche erleichtert. 8 V. Ausblick Einer der Fortschritte mit der ICF ist die Einbeziehung des individuellen Lebenshintergrundes bei der Beschreibung von Funktionsfähigkeit und Behinderung in Zusammenhang mit einem Gesundheitsproblem. Für die Komponente der personbezogenen Faktoren gibt es noch keine international konsentierte Systematik. Trotzdem sind insbesondere aber diese Kontextfaktoren oft ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg von Teilhabeleistungen und müssen im Rahmen der Teilhabeplanung gebührend reflektiert werden. Obgleich es für die seit jeher im ärztlichen Bereich praktizierte Berücksichtigung von personbezogenen Faktoren im deutschsprachigen Raum erste theoretische Ansätze für eine Systematik gibt, so sind im Hinblick auf eine Operationalisierung für die Praxis noch viele Steine aus dem Weg zu räumen. Wie lässt sich das Massengeschäft beim Zugang von Teilhabeleistungen, beispielsweise zu medizinischer Rehabilitation, regelhaft mit einer partizipativen Entscheidungsfindung vereinbaren. Massengeschäft nach Aktenlage versus Individualität mit persönlicher Einbindung des Betroffenen. 9 Und wie viel Datenschutz muss bzw. darf sein, damit der betroffene Mensch rechtzeitig an die für ihn individuell erforderliche Leistung kommt? Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe setzen die aktive Beteiligung des Betroffenen am Prozess der Teilhabeplanung voraus. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den für das jeweilige Gesundheitsproblem relevanten Umwelt- und personbezogenen Faktoren unzweifelhaft mit einem erhöhten Aufwand für die Leistungsträger und Leistungserbringer verbunden. Will man aber deswegen die Chance auf einen erhöhten Nutzen durch eine verbesserte 8 Fuchs (2005). 5 9 Vgl. Schian Umfassende sozialmedizinische Begutachtung In: Forum C, Diskussionsbeitrag Nr. 1/2014 auf www.reha-recht.de.

Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Teilhabeleistungen verpassen? Nicht allein die Politiker, Leistungsträger oder Leistungserbringer, sondern wir alle als Gesellschaft sind aufgefordert, Vorschläge zu unterbreiten, wie der Anspruch jedes Einzelnen auf eine umfassende individuelle Bedarfsermittlung von Teilhabeleistungen umgesetzt werden kann. Ihre Meinung zu diesem Diskussionsbeitrag ist von großem Interesse für uns. Wir freuen uns auf Ihren Beitrag. 6