gezwungen und versuchte krampfhaft, die Antwort auf eine Frage des Mannes zu finden. Das fiel ihr nicht leicht, denn sie war in Gedanken geraten und hatte ihm nicht zugehört. Unsicher schaute sie hinüber zu der hufeisenförmigen Theke. Wirt Harry Weber stand dahinter und wischte mit einem schmuddeligen Lappen den klebrigen Belag, der sich an vielen langen Abenden auf der Oberfläche der Theke niedergeschlagen hatte, hin und her. Der trübe Schein der mit dem gleichen Belag versehenen Thekenlampen warf einen gnädigen, bernsteinfarbenen Schimmer auf sein feistes unausgeschlafenes Gesicht. Mit leicht sorgenvoller Miene äugte er dann und wann zu Jeannettes Tisch. Es war nichts los heute, obwohl Freitag war. Live-Musik war heute nicht geplant und so fiel es ihm leichter, ein Auge auf den Tisch zu haben, an dem Karlos Freundin saß. Sie fühlte sich offenkundig unwohl in der Gesellschaft des Mannes.
Weber bemerkte, dass Jeannette wie befreit wirkte, als sie den Klingelton ihres Handys vernahm. Sie begann, hektisch in ihrer Handtasche herumzuwühlen. Als sie das Telefon schließlich ans Ohr hielt, lauschte sie mit angespannter Miene. Kurz darauf konnte sie die Enttäuschung in ihrer Stimme kaum verbergen. Harry Weber spitzte die Ohren. Was soll das heißen: du kommst nicht? Ich habe extra Frühstück für uns eingekauft und was sagst du? Nächste Woche? Eingeladen? Auf einem Schiff? Was für ein Schiff? Jeannette hatte im Verlauf des Gesprächs ihre Handtasche geschnappt. Der Kerl an ihrem Tisch wurde ungeduldig. Mit einer knappen Handbewegung bedeutete sie ihm sitzenzubleiben. Sie erhob sich und verließ das Fechenheimer Musiklokal eiligen Schrittes. Knarrend schloss sich die Eingangstür hinter ihr, als sie die Treppe hinunter in den Hof lief.
Ein Schauer rieselte ihr über den Rücken. Beim Aufstehen war ihr der ärgerliche Gesichtsausdruck des aufdringlichen Verehrers aufgefallen. Selbst hier vor der Tür spürte sie noch seine gierigen Blicke. Sie vergewisserte sich, dass er ihr nicht gefolgt war. Jeannette strich sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung durch die blonden Haare und widmete sich wieder der Freundin aus der Rhön. Die beiden hatten längere Zeit keinen Kontakt mehr gehabt. Für heute Abend waren sie endlich einmal wieder verabredet gewesen. Sina wollte dieses Wochenende nach Frankfurt kommen, um zusammen mit Jeannette ein ausgedehntes Frauen- Wochenende zu genießen. Sie hatten vorgehabt, das nächtliche Frankfurt unsicher zu machen. Nordend, Sachsenhausen, etwas Gutes essen, vielleicht ein wenig Live-Musik, so hatten sie es verabredet. Doch Sinas Auto hatte gestreikt und der ADAC hatte sich reichlich
Zeit gelassen, um nach der alten Kiste zu sehen. Es war deshalb spät geworden, viel zu spät, und ihre Stimmung war deshalb nicht mehr die beste. Außerdem und das war der Hauptgrund ihres Anrufs hatte sie ein verlockendes Ersatzprogramm anzubieten. Sie fing an, wortreich darüber zu berichten. Jeannette horchte auf. Was? Paul hat in einem Preisausschreiben gewonnen? Ein Krimi-Dinner auf einem Schiff? Toll. Wann soll das sein? Nächste Woche schon? Das ist jetzt ein wenig kurzfristig. Aber na gut, Sina, dann eben nächste Woche. Das krieg ich schon irgendwie hin. An einem Krimi-Dinner hab ich noch nie teilgenommen. Und Paul hab ich auch schon lange nicht mehr gesehen, da freu ich mich besonders drauf und was? Du schickst mir noch eine Mail? Ach so, mit einem Link zum Veranstalter, klar. Da kann ich auch Karlo neugierig machen. Hoffentlich hat er Lust, uns
zu begleiten. Sina hatte sich noch dafür entschuldigt, dass sie und Paul in ihrer Begeisterung erst an diesem Nachmittag entdeckt hatten, dass der Gewinn insgesamt vier Personen begünstigte. Sie waren die ganze Zeit von einer Einladung für zwei ausgegangen, wie das normalerweise üblich war. Jeannette drehte sich um und schickte einen argwöhnischen Blick zur Eingangstür der Kneipe, doch der Kerl ließ sich nicht blicken. Ach, Sina, ich freu mich schon. Ich sag dir bald Bescheid, ob Karlo auch mitkommt. Bis dann. Ich melde mich, so schnell es geht. Sie dachte an Sinas Nachbarn Paul und musste lächeln. Ob zwischen dem verliebten Hobbykoch und Sina Mehler mittlerweile mehr lief als nur die übliche nachbarschaftliche Freundschaft? Sie hatte sich nicht getraut nachzufragen. Nun, nächste Woche würde sie vielleicht mehr erfahren.