Wissenschaftliches Gutachten für die Auswahl von 50 bis 80 Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich

Ähnliche Dokumente
Auswahl des Versichertenklassifikationsmodells: Validierung der Diagnostik psychischer Störungen und der Festlegung von Aufgreifkriterien

Überlegungen zu einer am Versorgungsbedarf orientierten Psychotherapeutenausbildung

Epidemiologie. Vorlesung Klinische Psychologie, WS 2009/2010

Auswahl der im Risikostrukturausgleich zu berücksichtigenden

Versichertenklassifikationsmodell im Risikostrukturausgleich

Versichertenklassifikationsmodell im Risikostrukturausgleich

Weiterentwicklung des Versichertenklassifikationsmodells im Risikostrukturausgleich

Versichertenklassifikationsmodell im Risikostrukturausgleich

Epidemiologie und Versorgung psychischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter anhand vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der Jahre

Trennung & Scheidung und Psychische Störungen: Epidemiologische Ergebnisse Reiner Bastine, 2006

Auswahl der im Risikostrukturausgleich zu berücksichtigenden Krankheiten für das Ausgleichsjahr 2013

Auswahl der im Risikostrukturausgleich zu berücksichtigenden Krankheiten für das Ausgleichsjahr 2011

Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland

DSM-5-Updates: Offizielle Korrekturen der American Psychiatric Association. Soziale (Pragmatische) Kommunikationsstörung F80.89 F80.

Epidemiologie Seminar Klinische Psychologie Dr. Hans Linster, Dipl-Psych Referentinnen. Lynn Kalinowski, Rose Engel

Perspektiven der Versorgung psychisch kranker Menschen

Gesundheitsinformation

Regionale Variation der Prävalenz und Behandlung von Depressionen Ergebnisse des Faktenchecks Depression

Inhaltsverzeichnis. Allgemeine Einführung in die Ursachen psychischer Erkrankungen sowie deren Bedeutung

Definition Verlauf Ursachen. 1 Einleitung und Begriffsbestimmung »Negative kommunikative Handlungen«... 6

Festlegungen von Morbiditätsgruppen, Zuordnungsalgorithmus,

Anlage zur Vereinbarung gemäß 118 Abs. 28GB V vom

Versichertenklassifikationsmodell im Risikostrukturausgleich

Verständnis und Missverständnisse über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich

Stellungnahme der Bundesärztekammer

Epidemiologie der spezifischen Phobien

Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer vom

Gegenwart und Zukunft der Psychotherapie in Institutionen

Klassifikationssysteme

Referentenentwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland

Inhalt VII. Definition - Verlauf - Ursachen. 1 Einleitung und Begriffsbestimmung з. 2 Definitionen 5

Ambulante Kodierrichtlinien (Version 2010) nach 295 Absatz 3 Satz 2 SGB V

Definition: Komorbidität psychische Erkrankungen ASUD

Dr. P. Grampp 1

Stellung der Psychotherapie im Krankenhaus

Hintergrund BPtK Klosterstraße 64, Berlin Tel.: Fax:

Vorwort Zusammenfassung Fragen... 31

Abgerufen am von anonymous. Management Handbuch für die Psychotherapeutische Praxis

Wie s weitergeht. Psychische Gesundheit und Arbeitsmarkt

Versichertenklassifikationsmodell im Risikostrukturausgleich

Depressive Erkrankungen in Thüringen: Epidemiologie, Prävalenz, Versorgung und Prävention

Klinisch-psychologische Diagnostik der ADHS im Erwachsenenalter

Helpline Glücksspielsucht Spielsucht und komorbide Erkrankungen

Gutachten zur ambulanten psychotherapeutischen/psychosomatischen Versorgung Formen der Versorgung und ihre Effizienz

Artikel und Merkblatt Leben mit metastasiertem Brustkrebs Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer vom

Wege aus der Abhängigkeit

Morbi-RSA und für Bereich Schmerz. Wer gewinnt? Workshop 4. ADHS Gipfel, Hamburg, 6.-8.Feb L.Slawik/J.Fleischmann, Neuss

2. Methodik. 2.1 Ablauf der Studie

Die neue Psychotherapie-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss

Beschluss des G-BA (nach 91 Abs. 4 SGB V) vom : Fragenkatalog

Psychosoziale Versorgungsleistungen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen

Positionspapier. zur Gesundheitsreform Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK)

Die Dialektisch Behaviorale Therapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen

Wer definiert die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit? 1

Psychotherapie-im-Alter- Zwischen-Versorgungsbedarf-und- Versorgungsrealität- Dr.$Dietrich$Munz 4.-Saarländischer-Psychotherapeutentag

Psychische Gesundheit bei Frauen, Männern, Kindern und Jugendlichen. Allgemeine Anmerkungen. Häufigkeit psychischer Störungen. Dr. Phil.

10 Jahre Psychotherapeutengesetz

Inhaltsverzeichnis. 1 1 Organische psychische Störungen (ICD-10 F0) 1.1 Diagnostik der Demenz. 1.2 Therapie demenzieller Syndrome. 1.

Patientensicherheit in der Psychiatrie: Die Position der DGPPN

Inhalt. Teil A: Einführung in die Psychiatrie und Psychopathologie... 17

Beschlussentwurf des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Bedarfsplanungs- Richtlinie: Änderung der Anlagen

Adoleszentenzentrum für Störungen der Emotionsregulation Prof. Dr. Christian Schmahl Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin

Qualität in der stationären psychotherapeutischen Versorgung

Zwischen Mythos und Manual

ADHS und Persönlichkeitsentwicklung

gutachterlichen Bereich W.Soukop

Regionale telemedizinische Versorgung in der Psychiatrie

Nationale VersorgungsLeitlinie Asthma Langfassung (2. Auflage)

Workshop C: psychiatrische und somatische Begleiterkrankungen von Suchtkranken und deren Therapie

Komorbidität ein Dinosaurier der Psychopathologie Reiner Bastine, 2012

Langzeitverlauf posttraumatischer Belastungsreaktionen bei ehemals politisch Inhaftierten der DDR.

Psychische Belastungen und Arbeitswelt: eine Einführung. Kompetenztandem Vernetzte Versorgung Innovations-Inkubator Lüneburg

Versichertenklassifikationsmodell im Risikostrukturausgleich

Statement Prof. Dr. Rainer Richter

DSM-5-Updates: Offizielle Aktualisierungen der American Psychiatric Association

Arbeitsunfähigkeitsgeschehen

BPtK-Hintergrund. Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie. 22. Juni Seite 1 von 9

Richtlinie ambulante spezialfachärztliche Versorgung 116b SGB V (ASV-RL)

Eckpunkte des Bundesministeriums für Gesundheit zur Weiterentwicklung des Psych-Entgeltsystems vom

Stellungnahme der Bundesärztekammer

Kognitive Profile bei kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern

Der Morbi-RSA notwendige Weiterentwicklung oder Fehlgeburt?

Psychiatrische Versorgung für traumatisierte Flüchtlinge

Überblick. I. Demografie II. Gesundheitswesen III. Bildungswesen IV. Jugendhilfe V. Kriminalität

Vorwort (Paulitsch, Karwautz) Geleitwort (Lenz) I Einführung (Paulitsch) Begriffsbestimmung Historische Aspekte...

Tabellenband: Trends substanzbezogener Störungen nach Geschlecht und Alter: Prävalenz und Hochrechnung

Entscheidungserhebliche Gründe

Paraklinische Befunde bei gemischten Episoden bipolar affektiver und schizoaffektiver Erkrankungen. Dissertation

Lehrstuhl für Sportpsychologie

DSM-V und ICD-11: Herausforderungen und Dilemmas. Prof. Dr. N. Sartorius Genf, Schweiz

Psychische Komorbidität in der medizinischen Rehabilitation. Monika Konitzer, Vizepräsidentin der Bundespsychotherapeutenkammer

Ausbildungsinhalte zum Arzt für Allgemeinmedizin. Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin

Der Bremer Depressionsbericht

Psychische Störungen Einführung. PD Dr. Peter Schönknecht Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Leipzig

Thesenpapier. Zur Zukunft tagesklinischer Behandlung bei psychischen Erkrankungen

Warum gibt es einen Risikostrukturausgleich? Wie funktioniert der Risikostrukturausgleich? Missverständnisse Thesen zur Weiterentwicklung

1 Differenzialdiagnostische Abklärung Schritt für S chritt... 1

Transkript:

Wissenschaftliches Gutachten für die Auswahl von 50 bis 80 Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich Stellungnahme der Bundespsychotherapeutenkammer vom 01.02.2008 BPtK Klosterstraße 64 10179 Berlin Tel.: (030) 27 87 85-0 Fax: (030) 27 87 85-44 info@bptk.de www.bptk.de

Inhaltsverzeichnis 1. Zusammenfassung... 3 2. Zuordnung der ICD-10-Kodes zu DxGroups... 5 3. Empirische Kriterien zur Bewertung berücksichtigungsfähiger Diagnosegruppen... 7 4. Bildung von Krankheitsgruppen... 8 5. Fehlende Altersadjustierung bei der Schwellenwertprüfung... 9 6. Berechnungsverfahren zur Ermittlung von Risikozuschlägen... 9 7. Quellen... 11 8. Anhang... 12

1. Zusammenfassung Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) soll den Solidarausgleich zwischen Gesunden und Kranken gewährleisten, also Risikoselektion verhindern. Er ist Voraussetzung eines Kassenwettbewerbs um qualitätsgestützte und effiziente Versorgungsformen. Die Anregungen der BPtK orientieren sich an diesen Zielen. Die Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs, 80 berücksichtigungsfähige Krankheiten unter Rückgriff auf das Klassifikationsmodell DCG/HCC zu definieren, ist aus Sicht der BPtK zielführend. Positiv zu bewerten ist außerdem die vom Wissenschaftlichen Beirat gefundene Operationalisierung der zentralen Begriffe schwerwiegend und kostenintensivchronisch. Die BPtK regt an, die Prävalenz nicht logarithmisch zu gewichten. Als Alternative bietet sich eine Gewichtung nach der Quadratwurzelfunktion an. Nicht auszuschließen ist, dass statistische Verfahren alleine nicht zu funktionalen Ergebnissen führen. Korrekturen auf der Basis klinischen Sachverstandes sind u. U. notwendig. Zielgerecht sind aus Sicht der BPtK nur Lösungen, die sicherstellen, dass Volkskrankheiten mit sehr hoher Prävalenz und einer damit verbundenen hohen Relevanz für das Versorgungsgeschehen im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich eine den Zielen des Morbi-RSA angemessene Berücksichtigung finden. Die BPtK begrüßt das Vorgehen des Wissenschaftlichen Beirats, die DxGroups zunächst alters- und geschlechtsadjustiert zu analysieren und die vom Gesetz vorgeschriebene, nicht altersjustierte Schwellenwertprüfung von 150 Prozent der durchschnittlichen Leistungsausgaben pro Krankheitsgruppe erst am Ende des Auswahlprozesses vorzunehmen. Die BPtK schließt sich der Einschätzung des Wissenschaftlichen Beirats an, dass das Fehlen einer Altersadjustierung bei der gesetzlichen Vorgabe des Schwellenwertes nicht zielführend ist. Der Ausschluss von Erkrankungen, die vornehmlich bei jün- Seite 3 von 13

geren Versicherten auftreten, wie z. B. die Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS), setzt mit Blick auf die Vertragsstrategien der gesetzlichen Krankenkassen für diese Patientengruppen problematische Anreize. Unter klinischer Perspektive stimmt die BPtK den von den Gutachtern vorgenommenen Korrekturen bei den Zuordnungen der ICD-10-Kodes zur DxGroup 282 (Ticstörungen) und den Umbenennungen der DxGroups 255; 256; 282 und 295 zu. Aus Sicht der BPtK gibt es im Klassifikationsmodell der Firma DxCG mit Blick auf die psychischen Krankheiten weiteren Anpassungsbedarf. Die BPtK empfiehlt unter gesundheitsökonomischen und klinischen Gesichtspunkten, die leichten und mittelschweren depressiven Episoden sowie die Dysthymie der DxGroup 264 zuzuordnen. Problematisch ist zudem, dass das Klassifikationsmodell Angststörungen fünf verschiedenen DxGroups zuordnet. Diese starke Differenzierung ist vor dem Hintergrund diagnostischer Überlappungen und Komorbiditätsmuster nicht nachvollziehbar. Die BPtK schlägt daher vor, die derzeit auf fünf DxGroups verteilten Angststörungen in einer DxGroup zusammenzufassen oder aufgrund der großen Komorbidität und der deutlichen Überlappung der psychologischen Symptomatik eine Krankheitsgruppe Affektive Störungen und Angststörungen zu bilden. Für die weiteren Entwicklungsschritte, insbesondere die Berechnung der Risikozuschläge für die im Morbi-RSA berücksichtigten DxGroups, regt die BPtK an, bei der Gruppenbildung für die Berechnung der standardisierten Normkosten empirisch belegte Unter- und Fehlversorgung zu berücksichtigen. Dies ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die gesetzlichen Krankenkassen ihre wettbewerblichen Gestaltungsspielräume für eine Verbesserung der Versorgung der Versicherten nutzen. Seite 4 von 13

2. Zuordnung der ICD-10-Kodes zu DxGroups Die der Krankheitsgruppenbildung zugrunde liegende Logik und die Zuordnung von ICD-Kodes zu einzelnen Diagnosegruppen (DxGroups) im Bereich der affektiven Störungen sollten aus klinischen und gesundheitsökonomischen Gründen adjustiert werden. Unipolare Depression Die DxGroup 264, im Klassifikationsmodell als Major Depression bezeichnet, sollte aus klinischer Sicht alle depressiven Episoden und rezidivierenden depressiven Störungen umfassen. Die entsprechenden ICD-Kodes werden im amerikanischen Klassifikationsmodell der Firma DxCG unvollständig zugeordnet. Gemäß der vierten Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM IV) werden unter einer Major Depression leichte, mittelschwere und schwere depressive Episoden sowie alle Formen der rezidivierenden depressiven Störungen gefasst. Im ICD-10 wird der Begriff der Major Depression zwar nicht explizit gebraucht, aber auch hier bilden alle depressiven Episoden (F32) eine Störungskategorie. Der DxGroup 264 wurden im vorliegenden Gutachten jedoch nur schwere depressive Episoden (F32.2 und F32.3) sowie alle rezidivierenden depressiven Störungen (F33) zugeordnet. Leichte und mittelschwere depressive Episoden, wie auch die Dysthymie (F34.1), befinden sich in DxGroup 269. Das ist angesichts der gültigen Klassifikationssysteme, aber vor allem unter klinischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll. Zudem haben wie aktuelle Daten der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) zeigen leichte und insbesondere mittelschwere Episoden eine vergleichbare Relevanz für das Versorgungsgeschehen wie schwere depressive Episoden oder depressive Episoden, die im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung auftreten. Die ambulanten Versorgungsleistungen für Versicherte mit einer mittelschweren bzw. schweren depressiven Episode unterscheiden sich nur unwesentlich (siehe Abbildung 1, Anhang). Zugleich belegen die Daten des Gutachtens, dass die DxGroup 264 im Vergleich zur DxGroup 269 auch unter Berücksichtigung ihrer 3,5fach geringeren Prävalenzrate prospektiv aufgrund der höheren Hospitalisierungsrate mit höheren Kosten im stationären Sektor verbunden ist. Seite 5 von 13

Leichte und mittelschwere depressive Episoden treten auch im Rahmen rezidivierender depressiver Störungen auf und werden daher im amerikanischen Klassifikationssystem bereits der DxGroup 264 zugeordnet. Die Behandlung bei leichten und mittelschweren depressiven Episoden im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung (Abbildungen 1 und 2, Anhang) unterscheidet sich nur geringfügig von derjenigen bei erstmalig auftretenden, leichten oder mittelschweren depressiven Episoden. Somit ist auch hier nicht von systematischen Versorgungsunterschieden in der Behandlung dieser Patientengruppen auszugehen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass bei der Diagnosestellung depressiver Störungen, insbesondere in der Primärversorgung, frühere depressive Episoden oftmals nicht systematisch erfasst werden, so dass fälschlicherweise keine Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung gestellt wird. Aus klinischer Sicht sollte auch die Dysthymie (F34.1) der DxGroup 264 zugeordnet werden, da sie per definitionem als chronische Erkrankung einzuordnen ist, bei der häufig im Sinne einer Double Depression komorbid auch depressive Episoden auftreten, die länger dauernde Behandlungen erforderlich macht und somit eine hohe Relevanz für das Versorgungsgeschehen hat (siehe Abbildung 2 und 3, Anhang). Zusammenfassend kann man festhalten, dass unter gesundheitsökonomischen und klinischen Gesichtspunkten leichte und mittelschwere depressive Episoden sowie die Dysthymie der DxGroup 264 zugeordnet werden sollten. Angststörungen Das amerikanische Klassifikationsmodell der Firma DxCG ordnet die Angststörungen fünf verschiedenen DxGroups zu, wobei sowohl DxGroup 276 als auch DxGroup 271 jeweils lediglich einem vierstelligen ICD-10-Kode, nämlich der posttraumatischen Belastungsstörung bzw. der generalisierten Angststörung, zugeordnet wurden. Diese starke Differenzierung der Angststörungen muss vor dem Hintergrund der diagnostischen Überlappungen und der Komorbiditätsmuster als eine Überdifferenzierung bewertet werden. Die Gesamtgruppe der Angststörungen ist hinsichtlich ihrer Ätiologie, Symptomatik und Behandlungsmöglichkeiten eine relativ homogene Störungsgruppe. Die BPtK regt an, die verschiedenen Angststörungen, die sich in dem aktuellen Modell auf fünf DxGroups verteilen, in einer DxGroup zusammenzufassen. Seite 6 von 13

3. Empirische Kriterien zur Bewertung berücksichtigungsfähiger Diagnosegruppen Zur Abschwächung des Einflusses der Krankheitshäufigkeit werden im Gutachten die ermittelten Kosten nicht linear, sondern logarithmisch mit der Prävalenz gewichtet. Hiermit soll verhindert werden, dass Diagnosegruppen, die im Einzelfall mit hohen Leistungsausgaben einhergehen, zugleich aber eine geringe Verbreitung aufweisen, unberücksichtigt bleiben. Die Einführung eines Gewichtungsfaktors wird von der BPtK befürwortet, dieser sollte jedoch den Einfluss der Prävalenz weniger stark modulieren. Die im Gutachten gewählte Variante der Logarithmisierung hat zur Folge, dass selbst Krankheiten mit sehr hoher Prävalenz ( Volkskrankheiten ) und damit verbundener hoher Relevanz für das Versorgungsgeschehen die Kriterien schwerwiegend oder kostenintensivchronisch nicht erfüllen. Die BPtK schlägt daher hier eine Gewichtung nach der Quadratwurzelfunktion vor. Im Bereich psychischer Störungen trifft die unzureichende Berücksichtigung von hoch prävalenten Volkskrankheiten insbesondere auf die Gruppe der leichten und mittelgradigen depressiven Episoden zusammen mit der Dysthymie (DxGroup 269) und den Angststörungen (DxGroups 270, 271, 273, 274 und 278) zu. Die 12-Monatsprävalenz einer Major Depression liegt nach Zahlen des Bundesgesundheitssurveys (BGS) von 1998 bei 8,3 Prozent (Jacobi et al., 2004; Wittchen et al., 2001). Betrachtet man die verschiedenen Untergruppen der Major Depression, verteilen sich die Prävalenzen folgendermaßen über die unterschiedlichen Schweregrade. Die Prävalenz für leichte depressive Episoden beträgt 1 Prozent, die für mittelschwere Episoden 1,7 und die für schwere depressive Episoden liegt bei 1,6 Prozent. Rezidivierende depressive Störungen haben eine 12-Monatsprävalenz von 4 und die Dysthymie eine Prävalenz von 3 Prozent. Diese Verteilung spiegelt sich auch in den aktuellen Versorgungsdaten der KVB wider (siehe Abbildungen 3 und 4, Anhang). Seite 7 von 13

Neben Depressionen zählen Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen mit einer starken Tendenz zur Chronifizierung. Nach Daten des Bundesgesundheitssurveys (Jacobi et al., 2004; Wittchen et al., 2001) liegt ihre 12-Monatsprävalenz bei 14,5 Prozent und übersteigt damit sogar die Prävalenz affektiver Störungen (siehe Abbildung 4, Anhang). Unter dem Aspekt der besonderen Relevanz dieser Erkrankungen für das Versorgungsgeschehen ist es nicht zielführend, wenn aufgrund der Logarithmisierung der Prävalenz die verschiedenen DxGroups, denen die Angststörungen zugeordnet werden, die Kriterien für chronisch-kostenintensiv nicht erfüllen und dadurch für den Morbi-RSA nicht zu den berücksichtigungsfähigen Krankheiten gezählt werden. 4. Bildung von Krankheitsgruppen Affektive Störungen und Angststörungen Alternativ zur Veränderung der Gruppierungslogik innerhalb der depressiven Erkrankungen und der Angststörungen schlägt die BPtK eine Zusammenfassung der beiden häufigsten psychischen Erkrankungen, die zudem hohe Komorbiditäten miteinander aufweisen, zu einer Krankheitsgruppe Affektive Störungen und Angststörungen vor. 45 Prozent aller Patienten mit einer depressiven Störung weisen komorbid mindestens eine Angststörung auf; umgekehrt haben ca. 1/3 der Patienten mit einer Angststörung ebenfalls eine depressive Störung (BGS, 1998). Darüber hinaus besteht regelhaft eine deutliche Überlappung hinsichtlich der psychopathologischen Symptomatik beider Erkrankungen. Weiterhin werden in der psychopharmakologischen Behandlung zu einem großen Teil die gleichen Arzneimittelwirkstoffe aus der Gruppe der Antidepressiva (ATC: N06A) eingesetzt. Psychotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen Ergänzend möchten wir als Anmerkung eher redaktioneller Natur erwähnen, dass die Krankheitsgruppe 35 fälschlicherweise als Schizophrenie, schizotype, wahnhafte und dissoziative Störungen bezeichnet wird. Dissoziative Störungen (F44) sind jedoch nicht in dieser Krankheitsgruppe enthalten, dagegen beinhaltet diese Krank- Seite 8 von 13

heitsgruppe die bipolaren Störungen und Persönlichkeitsstörungen. Falls die bipolaren Störungen nicht zur Krankheitsgruppe Affektive und Angststörungen zugeordnet werden, schlägt die BPtK vor, Krankheitsgruppe 35 in Psychotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen umzubenennen. Andernfalls wäre die Bezeichnung Schizophrenie, schizotype, wahnhafte und Persönlichkeitsstörungen angemessen. 5. Fehlende Altersadjustierung bei der Schwellenwertprüfung Die BPtK begrüßt die Anregung des Wissenschaftlichen Beirats an den Gesetzgeber, eine Altersadjustierung bei der Vorgabe eines Schwellenwertes einzuführen. Ohne diese Alteradjustierung werden Krankheiten wie die Aufmerksamkeitsstörung, die in einem nach Alter abgegrenzten Lebensabschnitt Häufigkeitsgipfel aufweisen, systematisch unterbewertet. Aufmerksamkeitsstörungen erfüllen, wie die Berechnungen zeigen, sowohl das Kriterium schwerwiegend als auch das Kriterium chronisch-kostenintensiv. Da Aufmerksamkeitsstörungen aber vor allem im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert und behandelt werden (die Lebenszeitprävalenz erreicht mit 7,1 Prozent bei den 11- bis 13jährigen ihren Höhepunkt und sinkt danach deutlich ab, Schlack et al., 2007), erfüllen die Leistungsausgaben für diese Störung knapp nicht das Schwellenkriterium, da die Ausgaben im Spektrum aller Krankheiten fälschlicherweise nicht als überdurchschnittlich auffallen. Die Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen ist jedoch kostenintensiv und das Fehlen dieser Störung auf der Liste der berücksichtigungsfähigen Krankheiten wird mittelfristig dazu führen, dass die gesetzlichen Krankenkassen im Selektiv- und Kollektivvertragssystem auf Vereinbarungen zu integrierten und innovativen Versorgungskonzepten für diese Patientengruppe verzichten. 6. Berechnungsverfahren zur Ermittlung von Risikozuschlägen Bei der Berechnung von Zuschlägen für die im Morbi-RSA berücksichtigten Dx- Groups empfiehlt die BPtK, empirisch belegte Unter- und Fehlversorgung bei der Gruppenbildung zu berücksichtigen. Seite 9 von 13

Nach aktuellen Berechnungen der KVB werden Versicherte mit einer schweren depressiven Erkrankung zu großen Teilen unter- bzw. fehlversorgt, wenn man die Behandlungsempfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression zugrunde legt. So werden ca. 30 Prozent der Versicherten mit einer schweren depressiven Episode gar nicht behandelt oder erhalten wie ca. 60 Prozent ausschließlich Pharmakotherapie (siehe Abbildung 1, Anhang). Lediglich 5 Prozent der Versicherten werden sowohl psychotherapeutisch als auch pharmakotherapeutisch und somit leitliniengerecht behandelt. In der Gruppe der Versicherten mit einer rezidivierenden depressiven Störung zeigen die Daten ein vergleichbares Behandlungsprofil. Werden zur Berechnung der Risikozuschläge für schwere depressive Erkrankungen die aktuellen Leistungsausgaben zugrunde gelegt und mittelt man diese über die Gruppe der Versicherten, die gar keine Behandlung erhalten (30 Prozent) bzw. die ausschließlich Pharmakotherapie (36 Prozent), niedrigschwellige Leistungen (24 Prozent), Psychotherapie (6 Prozent) oder eine Kombinationstherapie aus Psycho- und Pharmakotherapie (5 Prozent) erhalten, werden die Risikozuschläge für Patienten mit dieser Krankheit dementsprechend niedrig ausfallen. Anreize, die bestehende Unter- oder Fehlversorgung dieser Patientengruppe abzubauen und innovative Behandlungskonzepte für diese Patientengruppe zu entwickeln, können so nicht entstehen. Anreize in diese Richtung werden gesetzt, wenn die standardisierten Normkosten der Patientengruppe zugrunde gelegt werden, die eine evidenzbasierte, leitliniengerechte Behandlung erhält. Seite 10 von 13

7. Quellen American Psychiatric Association (1994), Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 4 th edition American Psychiatric Press, Washington DC. Jacobi, F., Wittchen, H. U., Hölting, C., Höfler, M., Pfister, H., Müller, N. et al. (2004). Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychological Medicine, 34(5), 597-611. Nationale Versorgungsleitlinie Unipolare Depression, hrsg. von Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), erscheint 2008 Schlack R, Hölling, H. et al., 2007, Die Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit- /Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland im Kindes- und Jugendalter. Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz 50, 827-835. Wittchen, H. U. & Jacobi, F. (2001). Die Versorgungssituation psychischer Störungen in Deutschland. Eine klinisch epidemiologische Abschätzung anhand des Bundes-Gesundheitssurveys 1998. Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 44, 993-1000. World Health Organization (1993). 10 th revision of the international classification of diseases, chapter V (F): mental and behavioral disorders. Clinical descriptions and diagnostic guidelines. WHO Genf. Seite 11 von 13

8. Anhang Abbildung 1: Leistungsspektrum bei depressiven Episoden 40% 35% 30% 25% 20% 37% 27% 28% 25% 21% 18% 17% 17% 36% 29% 24% keine Behandlung vorrangig Pharmakotherapie niederschwellige Leistungen 15% Psychotherapie 10% 5% 3% 6% 6% 5% Psychotherapie und Pharmakotherapie 0% leichte depressive Episode (N=18957) mittelgradige depressive Episode (N=55109) schwere depressive Episode (N=39149) Quelle: KV Bayerns, 2007 (N = 113 215) Legende: niedrigschwellige Leistungen: psychiatrisch-psychotherapeutisches Gesprächsangebot; Psychotherapie: antragspflichtige Psychotherapie (Richtlinienpsychotherapie) Abbildung 2: Leistungsspektrum bei rezidivierenden depressive Störungen und Dysthymie 40% 38% 36% 35% 32% 34% 30% 25% 20% 15% 26% 19% 17% 23% 18% 16% 19% 29% 26% 21% 21% keine Behandlung vorrangig Pharmakotherapie niederschwellige Leistungen Psychotherapie Psychotherapie und Pharmakotherapie 10% 5% 6% 9% 3% 4% 4% 0% rez. depressive Störung, ggw. leichte Episode (N=10020) rez. depressive Störung, ggw. mittelgradige Episode (N=29237) rez. depressive Störung, ggw. schwere Episode (N=32256) Dysthymie (N=25055) Quelle: KV Bayerns, 2007 (N = 96 568) Legende: niedrigschwellige Leistungen: psychiatrisch-psychotherapeutisches Gesprächsangebot; Psychotherapie: antragspflichtige Psychotherapie (Richtlinienpsychotherapie) Seite 12 von 13

Abbildung 3: Verteilung der Versicherten der KVB mit einer depressiven Störung auf die verschiedenen Diagnosegruppen 7% 44% 19% leichte depressive Episode mittelgradige depressive Episode schwere depressive Episode Dysthymie 13% Double Depression (Dysthymie und depressive Episode) rezidivierende depressive Störung 9% 8% Quelle: KV Bayerns, 2007 (N=298 131) Abbildung 4: 12-Monatsprävalenzen für ausgewählte Diagnosen Major depression 8,3% leichte depressive Episode 1,0% mittelschwere depressive Episode 1,7% schwere depressive Episode 1,6% rezidivierende depressive Störung 4,0% Dysthymie 3,0% Angststörungen 14,5% 0% 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 16% Quelle: Bundesgesundheitssurvey, 1998 Seite 13 von 13