... ~ -+ Die gute Seite am Flächentarif besteht darin, dass er den. Titel. ... Dabei wird häufig übersehen, dass

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Transkript:

Titel... Dabei wird häufig übersehen, dass... ~ Unternehmen ein lebhaftes Eigeninteresse am Fortbestand zentraler Regulierungssysteme haben und sich aktiv an ihrer Weiterentwicklung und Optimierung beteiligen. -+ Die gute Seite am Flächentarif besteht darin, dass er den Unternehmen ein hohes Maß an sozialem Frieden garantiert. Klassenkonflikte werden außerhalb der Firma ausgetragen. Zudem unterliegen Arbeitskämpfe strengen Regeln, die dazu beitragen, Auseinandersetzungen zu kanalisieren und kalkulierbar zu machen. Das deutsche System industrieller Beziehungen ist für seine Fähigkeit berühmt, Frieden zu stiften. Doch wie bei allen Dingen im Leben sind auch beim Flächentarifvertrag Gewinne und Verluste nicht gleich verteilt. Großunternehmen haben weniger unter der schlechten Seite zentraler Regulierung zu leiden als kleine, profitieren dafür aber stärker von seinen Vorteilen. Warum ist das so? Die Interessen der Großen Großunternehmen mit mehreren Tausend Beschäftigten verfügen über eigenständige Regulierungssysteme, die die Effekte zentraler Vereinbarungen besser integrieren oder kompensieren können als kleine Betriebe. Arbeitszeitverkürzung ist dort kein Problem, wo die Rigidität der Verkürzung durch die gleichzeitige Flexibilisierung der Arbeitszeit über 20 000 Köpfe hinweg kompensiert werden kann. Es ist kein Wunder, dass die 4-Tage-Woche bei Volkswagen erfunden wurde und nicht bei Elektro- meister Kurt Kabel mit 15 Beschäftigten. Großunternehmen haben zudem im Regelfall ein ausdifferenziertes System an über- und außertariflichen Leistungen. Sie zahlen ohnehin häufig mehr als der Flächentarif ihnen abverlangt. Lohnabschlüsse, die sich am Durchschnitt orientieren müssen, schmerzen hier weniger als in kleinen Unternehmen. Und in wirtschaftlich schwierigen Zeiten stellen die zusätzlichen Leistungen einen Flexibilitätspuffer dar. Hohe Lohnabschlüsse können in Großkonzernen mit übertariflicher Bezahlung verrechnet und somit abgefedert werden, während sie in kleinen Firmen schneller an die Substanz gehen. Großunternehmen leiden also weniger als kleine Betriebe unter den negativen Effekten von zentraler Regulierung. Sie profitieren aber auch stärker von ihrer friedenstiftenden Funktion. Durch die Regelungen der Mitbestimmung auf betrieblicher und Unternehmensebene haben sie starke Arbeitnehmervertretungen, während kleine Firmen häufig nicht einmal über einen Betriebsrat verfügen. Großunternehmen sind im Fall eines Arbeitskampfes von Streikaktionen betroffen; nicht nur deshalb, weil die Belegschaften in der Regel hoch organisiert sind, sondern auch, weil die zu erzielende öffentliche Aufmerksamkeit hier besonders hoch ist. Das Management der DaimlerChrysler AG muss theoretisch bei jeder Tarifrunde davon ausgehen, im Konfliktfall bestreikt zu werden. Und das kann sehr schmerzhaft sein, 12 Mitbestimmung 10/2001

r wie die Auseinandersetzungen um die Lohnfortzahlung gungsabbau. Die zunehmende Internationalisierung der im Krankheitsfall 1996 eindrucksvoll gezeigt haben. Produktion zwang die deutschen Standorte in einen in- Die Ungleichverteilung von Kosten und Nutzen zwi- tensivierten Kosten- und Produktivitätswettbewerb. Die schen großen und kleinen Firmen lässt sich auch an der Privatisierung entließ ehemals staatliche Dienstleister in Struktur der Arbeitgeberverbände ablesen. Kleine Betrie- den Markt, und die deutsche Wiedervereinigung war für be unterliegen weniger häufig dem Flächentarifvertrag und sind auch weniger häufig Mitglied im Arbeitgeberverband als Großunternehmen. In einem System branchenspezifischer Verbände haben sie zudem weniger viele Arbeitnehmer mit dem Verlust ihrer Arbeitsplätze verbunden. Für die Unternehmen bedeutete diese Entwicklung einen erheblichen Anstieg der Arbeitskosten. Trotz der lauter werdenden Klagen über die Rigidität Mitspracherechte als die Konzerne, da der Einfluss eines des Flächentarifes haben große Unternehmen das System Unternehmens bei Wahlen und Abstimmungen regelmä- jedoch nur im Einzelfall verlassen. Statt dessen taten sie, ßig proportional zu seiner Größe gewährt wird. Für die was sie in derartigen Situationen historisch immer getan Spitze eines Arbeitgeberverbandes ist eine Strategie ge- haben: Sie suchten gemeinsam mit Betriebsräten auf betrieblicher Ebene nach Problemlösungen. Und so etablierte sich im Verlauf der 90er Jahre ein Vereinbarungstyp, der an die Tradition betrieblicher Verhandlungen gen die Interessen von Großunternehmen also nicht praktikabel. Auch dieses faktische Vetorecht der Konzerne dürfte zu deren Interesse am Flächentarif erheblich beitragen. anschließt und doch neuartig ist: betriebliche Bündnisse zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssicherung. Ziel dieser Vereinbarungen ist nicht, tarifvertragliche Rege- Lokale Flexibilitätsspielräume erweitert lungen zu implementieren oder zu differenzieren und tarifliche Leistungen aufzustocken, wie dies traditionell Eine Reihe von Faktoren haben die Unternehmen seit der Fall war. Die Entstehungslogik dieser Pakte besteht darin, dass Management und Betriebsräte gemeinsam Beginn der 90er Jahre unter erheblichen Wettbewerbsdruck gesetzt und damit Beschäftigung bedroht. Die Rezession 1992/93 führte zu einem massiven Beschäfti- versuchen, die lokalen Flexibilitätsspielräume gegenüber dem zentralisierten Regulierungssystem zu erweitern. Es -+ Betriebliche Bündnisse zur Beschäftigungs- und Wettbewerbssicherung in deutschen Großunternehmen Pakte zur Senkung :der.;\roottskesten Häufigkeit (in % 23 (42%) 29 (53%) Pakte zur Produktivi- tätssteigerung 27 (49%) aller Unternehmen mit betrieblichen Bündnissen)* Eit11S<:immfmsve12icht:. ~b ubertanfücher8ezahfung 1 F ~»au~rta.riflit.:her t,.eistungen ~Y titll~l'l&iaez..11 ung Mehrarbeit und Verlängerung der Betriebszeiten, Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes. Ne1;te'Arbeltsorganisatlon, leistungsorientierte Vergütung Konzessionen der Beschäftigungs- und Beschäftigungs- und Arbeitgeber Ausbildungszusagen Investitionszusagen Investitionszusagen N = 55 Unternehmen *=Viele Unternehmen machen Gebrauch von mehreren Vereinbarungstypen. Mitbestimmung 10/2001 13

Titel -+ handelt sich also nicht um einen kontrollierten top- und fachlich flexibler als noch vor wenigen Jahren. Das down-prozess, sondern um einen dezentralen bottom arbeitgeberseitige Gegenstück stellt hierbei die Beschäfti up-prozess. Während der 90er Jahre haben 55 (46 Prozent) der 120 größten deutschen Unternehmen mindestens ein Bündnis geschlossen. Die Zahl der Unternehmen hat dabei im Verlauf der Dekade kontinuierlich zugenommen (und nimmt weiter zu). Im Zentrum der Pakte stehen die Ziele Wettbewerbs- und Arbeitsplatzsicherung. Drei große Themen dominieren die Arbeitgeberinteressen im Zusammenhang mit den Pakten: Produktivitätssteigerung, Arbeitsumverteilung und die Senkung der Arbeitskosten. Von diesen 55 Unternehmen handelten 29 (53 Prozent) Pakte zur Senkung der Arbeitskosten aus (siehe Tabelle). Hierbei verzichten die Arbeitnehmer auf Einkommen. Im Zentrum steht dabei im Regelfall der Abbau über- und außertariflicher Leistungen bzw. ihre Verrechnung mit tariflichen Lohnzuwächsen. Doch auch Bezahlung unterhalb des Flächentarifniveaus für einzelne Gruppen von Arbeitnehmern (Langzeitarbeitslose, Berufsanfänger) oder ganze Belegschaften wird verabredet. Im Gegenzug spricht die Arbeitgeberseite Beschäftigungs- oder Investitionszusagen aus. 23 (42 Prozent) Unternehmen schlossen Pakte zur Arbeitsumverteilung. Die Verkürzung der Arbeitszeit stellt dabei die prominenteste Maßnahme dar. Zudem wird in vielen Fällen die Flexibilität des Arbeitseinsatzes erhöht. Arbeitnehmer arbeiten heute vielfach zeitlich, räumlich gungssicherung dar, aber auch Zusagen bezüglich der Sicherung des Ausbildungsstandes sowie die Übernahme der Auszubildenden in ein Beschäftigungsverhältnis. 27 (49 Prozent) Firmen vereinbarten Pakte zur Produktivitätssteigerung. Wichtige Arbeitnehmerzusagen sind hierbei die Zustimmung zur Mehrarbeit, Maßnahmen zur Senkung des Krankenstandes, Veränderungen im Bereich der Arbeitsorganisation sowie die Variabilisierung von Entgeltanteilen zur Steigerung der Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmern. Produktivitätsfördernde Pakte werden meist verknüpft mit Investitionszusagen und treten ausschließlich in multinationalen Konzernen auf, die im Rahmen internationaler Standortkonkurrenz Investitionsentscheidungen an den Abschluss einer derartigen Vereinbarungen knüpfen. Flexiblere Fläche Großunternehmen waren zudem die treibende Kraft für die Einführung von Öffnungs- und Härtefallklauseln in das westdeutsche Tarifsystem, die oftmals erst die tariflichen Voraussetzungen für betriebliche Pakte schufen. So haben Unternehmensleitung und Gesamtbetriebsrat von Mercedes-Benz im Dezember 1993 die Möglichkeit der Arbeitszeitreduzierung auf 30 Wochenstunden im 4 Mitbestimmung 10/2001

Vertrauen darauf vereinbart, dass diese Praxis in der Tarifrunde 1994 auch durch den Tarifvertrag abgesegnet würde. Die bedeutendste Öffnung eines Tarifvertrags war die Einführung der Option einer 10-prozentigen Lohnsenkung im Tarifvertrag der chemischen Industrie im Jahr 1995. Sie ist auf das Drängen des Reifenherstellers Continental entstanden, der mit der Abwanderung in einen neuen Tarifbereich drohte, falls die Lohnkosten nicht gesenkt würden. In den darauffolgenden Jahren wurde eine Vielzahl von Öffnungsklauseln in westdeutsche Tarifverträge eingeführt. Sie waren zum Teil an Bedingungen geknüpft wie an die Betriebsgröße, an Härtefälle oder daran, dass die Ausnahmen nur für bestimmte Beschäftigtengruppen (vormalige Langzeitarbeitslose) gelten sollten. Heute finden sich nach einer Auswertung des WS! in der Hans-Böckler-Stiftung 215 Klauseln in über 100 Tarifbereichen. Die zuweilen noch immer geforderte Flexibilisierung des Tarifsystems durch den Vorrang betrieblicher Lösungen ist somit in der Praxis verbreiteter als die Debatte vermuten lässt. Mittlerweile berufen sich fast die Hälfte aller betrieblichen Pakte auf eine Öffnungsklausel oder sie haben die Form eines Haustarifvertrages gewählt. Dieser hohe Anteil verweist darauf, dass die Unternehmen nicht nur mehr lokale Flexibilität erzielt, sondern diese Flexibilität auch in das Vertragswerk des Flächentarifes eingebaut haben. Fortschreitende Erosion bei den Kleinen Die großen Unternehmen haben somit wemg Grund, sich über die neueren Entwicklungen in der Tarifpolitik zu beklagen: Der Flächentarif schützt sie weiterhin vor Konflikten und Lohnabschlüssen, die sich eher an den Ertragslagen als an dem gesamtwirtschaftlichen Produktivitätszuwachs orientieren. Gleichzeitig ermöglicht die Kooperation mit den Betriebsräten und den Gewerkschaften auf der betrieblichen Ebene eine sozialverträgliche Kostensenkungsstrategie. Und die zunehmende Flexibilisierung der Tarifverträge kommt ihren betrieblichen Aktivitiiten entgegen. Während die großen Unternehmen durch Pilotversuche, wie das 5000 x 5000 Projekt bei VW, das Tarifsystem zu optimieren versuchen, findet die Erosion des deutschen Tarifsystems am Rande statt. Das Arbeitsministerium geht in seinem neuesten Tarifbericht davon aus, dass nur noch 70 Prozent der Arbeitnehmer von Tarifverträgen abgedeckt werden. Immer weniger Arbeitnehmer sind bei grof~en Unternehmen beschäftigt, während der Anteil der Beschäftigten in Klein- und Mittelbetrieben steigt. Für die kleinen Arbeitgeber ist die Welt der großen Tarifpolitik, die sich an VW und Holzmann orientiert, jedoch nicht gut gerüstet. Das ist die wirkliche Herausforderung, vor der das deutsche Tarifsystem steht. Literatur Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Tarifvertragliche Arbeitsbedingungen im Jahr 2000. Bonn, 2001 Reinhard Bispinck und WSl-Tarifarchiv: Das Märchen vom starren Flächentarifvertrag. Eine Analyse von tariflichen Öffnungsklauseln aus über 100 Tarifbereichen. Düsseldorf, 1999 Anke Hassei und Britta Rehder: The role of big companies in the institutional change of the German wage bargaining system. MPI für Gesellschaftsforschung Köln, 2001 Hartmut Seifert: Beschäftigen statt entlassen. edition sigma, Berlin (im Erscheinen) Projektinfos Seit Beginn 1999 gibt es am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln einen Projektverbund zum Thema Das deutsche System der industriellen Beziehungen unter dem Einfluss der Internationalisierung". Der Verbund besteht aus vier von der Hans-Bökkler-Stiftung geförderten Dissertationsprojekten und einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG geförderten Forschungsprojekt. Die Dissertationsprojekte beschäftigen sich mit dem Einfluss der Internationalisierung auf ausgesuchte Einzelthemen der industriellen Beziehungen: betriebliche Entgeltsysteme, Vereinbarungen zu Standortsicherung, Shareholder-Value-Politik und Veränderungen im Investitionsverhalten von Unternehmen. Das DFG-Forschungsprojekt untersucht den Zusammenhangs zwischen dem Grad der Internationalisierung und der Verteilung der Nettowertschöpfung der Unternehmen an Arbeitnehmer, Anteilseigner, Unternehmen und Staat. Die Untersuchungseinheiten der Projekte sind die 100 größten Unternehmen in Deutschland in den Jahren 1986 und 1996, ausgewählt nach den Kriterien der Monopolkommission. Weitere Publikationshinweise und Informationen auf der Projekthomepage www.mpi-fg-koeln.mpg.de/sysbez/ Mitbestimmung 10/2001 15