Johannes Brock Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit Dresden Vernetzt, gefangen, aufgefangen?! Vortrag zur 5. Jahrestagung Mobile Jugendarbeit/Streetwork am 06.10.04 in Glauchau Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Stichwort NETZ fällt mir wie auch den Gestaltern des Flyers zunächst die Assoziation zum Spinnennetz ein. Der Altweibersommer geht gerade zu Ende und bietet wieder die Gelegenheit, die hohe Kunst des Netzbaus zu bestaunen. Das typische Spinnennetz, das auf dem Flyer abgebildet ist, wird auch Radnetz genannt; und weil das Rad das Symbol für Mobilität ist, ist auch der Zusammenhang zur Mobilen Jugendarbeit einfach herzustellen. Ich möchte mich im Folgenden von diesem Zusammenhang leiten lassen und danach fragen, welche künstlerischen Fähigkeiten beim Bau des Spinnennetzes auf die Kunst der Sozialen Arbeit und speziell der Mobilen Jugendarbeit übertragbar sind. Zum Stichwort vernetzt möchte ich in einem ersten Teil einen Ausflug in die Biologie und in die Soziologie unternehmen. Zum Stichwort gefangen möchte ich im zweiten Teil auf Gefahren beim Netzwerken hinweisen. I. Wie ist so ein Spinnennetz eigentlich aufgebaut? Beim Radnetz bestehen die äußere Begrenzung und die Hauptspeichen aus nichtklebenden Fäden. Sie dienen der Spinne dazu, sich in ihrem Netz zu bewegen, ohne selbst festzukleben. Die Fangspirale in der Mitte des Netzes besteht aus klebenden Fäden, an denen kleinere Insekten haften bleiben. Zum Weben ihrer Netze produzieren die Spinnen Spinnfäden in ihren Spinndrüsen. Diese Fäden kommen aus den Spinnwarzen am Hinterleib heraus und bestehen aus einer Substanz, die an der Luft erhärtet. Spinnen sind in der Lage, je nach Funktion, verschiedene Fäden herzustellen: Signalfäden, Haltefäden, spezielle Fäden für Nachkommen, Sicherheitsfäden und Stolperdrähte. Um Insekten zu fangen, befestigt z. B. die Kreuzspinne einen sogenannten Signalfaden an ihrem Radnetz. Am Ende des Signalfadens lauert sie geduldig auf ihre Beute. Der Signalfaden zeigt ihr an, wenn es Veränderungen im Netz gibt, z. B. weil sich ein Insekt im Netz verfangen hat. Die Stolperdrähte werden von Spinnen verwendet, die keine Klebefäden produzieren. Sie warten dann am Rand des Netzes oder unter dem Netz, bis ein Insekt über den Stolperdraht stolpert uns ins Netz fällt und beißen dann zu, um das Insekt zu betäuben. Die verschiedenen Funktionen der Fäden kennen wir auch aus dem networking der Mobilen Jugendarbeit. Wenn wir daran gehen, ein Netzwerk aufzubauen, sollten wir diese Funktionen mit bedenken:
Welche Signalfäden baue ich ein, um kurzfristig Veränderungen im System wahrnehmen zu können? Welche Sicherheitsfäden stehen mir zur Verfügung, wenn ich mich wie beim Klettern mit Sicherungsseil in riskantem und unübersichtlichem Gelände bewege? Welche Fäden knüpfe ich für den Nachwuchs? Und welche Stolperdrähte lege ich aus, um die in unserem Fall hoffentlich hilfreiche Begegnung mit dem Netzwerk zu provozieren? Je nach Funktion sind die verschiedenen Spinnfäden unterschiedlich stark. Eines haben sie aber alle gemeinsam: Sie sind extrem elastisch. Deshalb als letzte Frage dazu: Wie kann ich das Netzwerk elastisch und flexibel halten? Nach diesem Ausflug in die Biologie möchte ich nun noch einen Abstecher in die Soziologie gehen, und zwar mit der Frage: Welche Netztypen gibt es denn eigentlich? Schon Luhmann (1976) unterschied vier Formen institutioneller Kommunikationsströme (und ein Netzwerk ist ja eine Variante strukturierter Kommunikation): die kreisförmige, die lineare, die zentralisierte und die lose Verbund-Netzgestaltung (siehe Folie). Für welchen Netztyp ich mich entscheide, ist abhängig von den definierten Zielen (Was soll mit Hilfe des Netzwerkes erreicht werden?) und von der Strategie.
Die kreisförmige Netzgestaltung hat vor allem den Vorteil, dass allen Netzbeteiligten zeitgleich alle Informationen zugehen und dass Entscheidungen gemeinsam getroffen werden. Allerdings ist der zeitliche Aufwand erheblich, und es dauert oft lange, bis ein Konsens hergestellt ist. Bei der linearen Netzgestaltung können Entscheidungen schneller getroffen werden, weil daran immer nur die in der konkreten Situation Betroffenen beteiligt sind. Wie man häufig am Dienstweg in größeren Institutionen sehen kann, werden dann allerdings auch Entscheidungen getroffen, die ein paar Netzwerkknoten weiter nicht mehr verstanden werden oder an der Realität vorbeigehen. Beim zentralisierten Netztyp gibt es einen Koordinator, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Er hat die Aufgabe, (möglichst) im Konsens getroffene Grundsatzentscheidungen operativ zu bearbeiten, also z. B. Umsetzungsentscheidungen zu treffen, andere Stellen zu beauftragen oder Anweisungen im Sinne der Grundsatzentscheidungen zu geben. Das kann schnell gehen und aufgrund der Autorität des Koordinators auch effektiv. Andererseits können aber auch Fehlentscheidungen des Koordinators sehr folgenreiche Auswirkungen auf das ganze Netzwerk haben. Lose Verbund-Netzgestaltung heißt nicht, dass hier unstrukturiert oder ungeordnet gearbeitet wird. Sondern es wird im Gegenteil ergebnisorientiert gearbeitet, indem die Netzstrukturen jeweils für ein bestimmtes Ziel aktiviert werden. Wenn ein Ziel erreicht worden ist, werden alle Netzbeteiligten informiert und die Aktivität ruht, bis später wieder eine andere Aufgabe, vielleicht mit anderen Netzmitgliedern, in Angriff genommen wird.
Dieses Netzwerk funktioniert am besten, wenn allen Beteiligten klar ist, was sie davon haben und wenn es vor allem bei großen Netzwerken ein zentrales Steuerungselement ( Systemkopf ) gibt. Bei einem Blick in die Praxis der Sozialen Arbeit komme ich zu dem Eindruck, dass die Vor- und Nachteile dieser Netztypen zwar häufig bekannt sind, dass aber oft der Zufall oder die Gewohnheit darüber entscheidet, mit welchem Netztyp gearbeitet wird. Wenn also die Frage steht, ein Netzwerk neu aufzubauen, z. B. für die Zusammenarbeit von Mobiler Jugendarbeit und Schule, dann sollten zu Beginn die folgenden Fragen ausreichend geklärt sein: Welches Ziel soll mit Hilfe des Netzes erreicht werden? Welche Beteiligten sollen ins Netzwerk eingebunden werden? Welcher Netztyp ist unter den gegebenen Voraussetzungen geeignet, das Ziel zu erreichen? II. Netzwerkarbeit ist ja zur Zeit in aller Munde, in der Sozialen Arbeit verspricht man sich davon Nutzung von Synergieeffekten, Nachhaltigkeit, Bürgeraktivierung und damit Kostenreduzierung. Die Gefahren z. B. das Gefangensein im Netz - werden dabei oft übersehen. Ich möchte deshalb im Folgenden einige dieser Gefahren, auf die Mobile Jugendarbeit bezogen, wenigstens nennen. Dabei möchte ich den Blick zunächst auf die Jugendlichen und dann auf die Mitarbeiter in der Mobilen Jugendarbeit lenken. In den meisten Konzeptionen der Mobilen Jugendarbeit steht: Wir gehen auf Jugendliche zu, die von sonstigen Einrichtungen der Jugendarbeit nicht oder nicht mehr erreicht werden. Die Adressaten der Mobilen Jugendarbeit können Straßenkinder sein, die gar nicht wissen, welche Einrichtungen es gibt; Cliquen, die in der Jugendeinrichtung Hausverbot haben; oder Jugendliche einer bestimmten Jugendkultur, die aufgrund ihrer Szenezugehörigkeit keinen Zugang zu den Angeboten der Jugendarbeit bekommen. Die Kontakte zur Schule, zu den Eltern und zu anderen Erwachsenen sind meistens gestört oder nicht mehr vorhanden. Das heißt, wenn Mitarbeiter der Mobilen Jugendarbeit mit diesen Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen, dann sind sie häufig die einzigen Erwachsenen, die pädagogisch Einfluss nehmen. Diese große Bedeutung der pädagogischen Einflussnahme, egal ob sie auf der Straße, in der Kneipe oder sonstwo stattfindet, sollten sich die Mitarbeiter im Kontakt immer bewusst machen. Sie ist ein scharfes zweischneidiges Schwert: Einerseits kann sie relativ schnell zu einer Beziehungsgrundlage werden, die wichtig für notwendige Hilfeleistungen ist. Andererseits ist sie Ausdruck der Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas) der Jugendlichen: die letzten Freiräume ohne erwachsene Pädagogen werden nun auch noch durch die Sozialpädagogen besetzt. Und eine solche Besetzung, gesteuert über ein Netzwerk-Management, kann sehr effektiv sein. Um mit diesem zweischneidigen Schwert verantwortungsvoll umgehen zu können, ist deshalb eine
ständige Reflektion des doppelten Mandats (nämlich der Hilfe und der Kontrolle) nötig. Wenn im Netz einer Kreuzspinne ein Insekt kleben bleibt, wird die Spinne über den Signalfaden davon informiert. Sie bewegt sich zu dem Insekt und betäubt es durch einen giftigen Biss. Durch das Gift wird das Insekt langsam zersetzt, bis die Kreuzspinne nach einigen Stunden dann ihre Fleischbrühe zu sich nehmen kann. Gefangen im Netz das kann auch den Mitarbeitern in der Mobilen Jugendarbeit passieren. Anzeichen dafür sind, dass sie sich in ihrer Arbeit ausgelaugt, ausgesaugt fühlen und keine konkreten Gründe dafür finden können. (Das Gift der Betäubung hat gewirkt). Wenn man sich die Arbeit macht herauszufinden, wie es zu dem Zustand des Ausgesaugt-Seins gekommen ist, wird man eine Vielzahl von Faktoren finden Ausdruck der Komplexität der Arbeit, wenn man Netzwerkbeteiligter ist. Der hohe Grad an Komplexität kann dazu führen, dass Netzwerkbeteiligte den Überblick verlieren, dass sie z. B. verschiedene Ziele, Strategien und Entscheidungsebenen nicht mehr auseinanderhalten können. Das kann dann zum Gefühl der Überforderung, zu Fehlentscheidungen und demotivierenden Misserfolgen führen. Ein zweiter Faktor des Aussaugens: Netzwerkarbeit erfordert einen hohen Koordinationsaufwand. Auch wenn man sich vornimmt, die Anzahl der Gremien gering zu halten es gibt einen hohen Bedarf an Absprachen, Abstimmungen, Konfliktmanagement usw. Dieser Koordinationsaufwand wird in der Regel nicht bezahlt. Die Förderung durch die Leistungsgewährer bleibt so bestehen oder wird sogar reduziert, der Arbeitsaufwand jedoch steigt. Mitunter ist die Förderung auch die eigentliche Motivation für Netzwerkarbeit: Der Leistungsgewährer gibt nur noch Geld, wenn verschiedene Institutionen ihre Ressourcen zusammenbringen. Und einen dritten Aussaug-Faktor möchte ich noch nennen: den der unzureichenden Abgrenzung. Es erscheint zunächst widersprüchlich, aber Abgrenzung gehört zum Netzwerken. Ein Netzwerk erweitert die Perspektiven. Neue Handlungsmöglichkeiten kommen in den Blick, Arbeitsinhalte und Arbeitsweisen der Kooperationspartner werden interessant, bestimmte Arbeitsprinzipien müssen evtl. aufgegeben werden. Wie sieht es zum Beispiel mit dem Prinzip der Parteilichkeit für den Jugendlichen aus, wenn ich bei einer bestehenden Kooperationsbeziehung mit einer systemisch konzipierten Familientherapie mit in die Familie gehe? Auch dieses dürfte also ein interessantes Thema für die Arbeitsgruppen sein: Wie verändert sich Mobile Jugendarbeit durch die Kooperationen mit Familientherapie, mit Schule oder Jugendhilfeeinrichtungen? Bleiben die Fachstandards noch relevant? Wird Mobile Jugendarbeit ihr Profil evtl. so verändern, dass sie nicht mehr erkennbar ist? Dass sie zersetzt wird und sich auflöst wie das Insekt durch das Spinnengift? Wo also setzen wir Grenzen? Durch diese skeptischen Fragen am Schluss möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich von der sogenannten Schnittstellenarbeit z. B. mit Schule oder Hilfen zur Erziehung nichts halte. Im Gegenteil, ich sehe eine Menge Chancen für die Weiterentwicklung des Ansatzes und die Mobile Jugendarbeit kann selbstbewusst wichtige Beiträge für solche Netzwerke leisten. Es geht mir aber um die Empfehlung, nicht unter dem Druck der Leistungsgewährer oder der Träger nun schnell Netzwerke aufzubauen, ohne die oben genannten Fragen in Ruhe geklärt zu haben.