Ein Weg von der Bioenergetischen Analyse zur analytischen Körperpsychotherapie André Sassenfeld J. 1 ANALYTISCHE KÖRPERPSYCHOTHERAPIE: EINE BESTANDSAUFNAHME Peter Geissler Psychosozial-Verlag, Giessen, 2009 Nach der Herausgabe des ersten systematischen Lehrbuches zur analytischen Körperpsychotherapie im Jahr 2007, in der Gaceta de Psiquiatría Universitaria rezensiert (Sassenfeld, 2007), veröffentlichte Peter Geissler vor einigen Monaten ein zum Verständnis der historischen Entwicklung des klinischen Ansatzes der analytischen Körperpsychotherapie wesentliches Buch. Dieses Buch ermöglicht ein tieferes Verständnis von mehreren Aspekten, die Geissler in einem vor einigen Monaten in der Gaceta veröffentlichten Interview erwähnt. Es handelt sich um persönliche und professionelle Erfahrungen, die in grossem Mass die Rückkehr zur Psychoanalyse bestimmten und damit die Geburt der analytischen Körperpsychotherapie nach vielen Jahren der Zugehörigkeit zur Bioenergetischen Analyse, einer wichtigen Form von post-reichianischer Körperpsychotherapie. Diese Buch, mit dem Titel Analytische Körperpsychotherapie: Eine Bestandsaufnahme, versammelt eine diverse Anzahl von Geisslers Beiträgen, von denen einige schon zuvor veröffentlicht wurden und andere nicht. In diesen Beiträgen analysiert Geissler zuerst den Weg von seiner Teilnahme als Patient, Analytiker und ausbildender Analytiker an der Bioenergetischen Analyse von Alexander Lowen, Wilhelm Reichs wichtigstem Schüler, hin zu einer wachsenden kritischen Wahrnehmung einiger Grundsätze dieses Ansatzes. 1 Klinischer Psychologe, Erachsenenpsychotherapeut. Lehrtätigkeit am Departamento de Psicología, Universidad de Chile. Kontakt: asjorquera@gmail.com / www.sassenfeld.cl
Geisslers intime und persönliche Bekenntnisse unterstreichen sein Erkennen, lange Zeit implizit im Sinne einer gefühlsmässigen und verkörperten Erfahrung die schwer in Worte zu fassen ist, der Mangel der Bioenergetischen Analyse: die Schwierigkeit oder sogar das Desinteresse an der Exploration und klinischen Einbindung der Beziehungsdimension des psychotherapeutischen Austausches als wesentliches Element. Er beschreibt klar und eindrucksvoll die regressiven Übertragungs-Gegenübertragungsdynamiken, die kritiklose Denkmodalität und die defensiven Gruppenphänomene, die oft in therapeutischen Ansätzen, die in grossem Mass das Herstellen von Erfahrungen grosser emotionaler Intensität als Wandlungsmechanismus einsetzen, aufkommen. Mit grosser Offenheit zeigt er auf, wie der Therapeut auf Grund von narzisstischen Gratifikationen von solchen Situationen fast abhängig werden kann. Weiter beschreibt Geissler einen wesentlichen persönlichen und professionellen Prozess, der ihn auf den Weg der Formulierung der analytischen Körperpsychotherapie brachte. Es handelt sich um eine mehrjährige Supervision mit Jacques Berliner, einem belgischen bioenergetischen Analytiker der sich der Psychoanalyse genähert hatte und Lowens Ideen kritisch gegenüberstand. Diese Jahre der Supervision werden zu einem Wendepunkt für Geissler, der durch Berliners Einführung vieler psychoanalytischer Konzepte sich selbst der Psychoanalyse wieder nähern kann Geissler betont, dass es sich um eine Rückkehr handelt weil er auf der einen Seite in seiner Studienzeit als Patient in einer Psychoanalyse mit Couch- Setting gewesen war und auf der anderen Seite weil er sich ursprünglich als Psychoanalytiker hatte ausbilden wollen. Wie zu erwarten war, ist diese Rückkehr zur Psychoanalyse durch Erforschung von Theoretikern wie Ferenczi, Balint und Winnicott geprägt, Theoretiker die der Rolle des Körpers in der Psychotherapie teilweise offen gegenüberstanden. Geisslers psychoanalytische Explorationen münden schliesslich in der Formulierung der soganannten analytischen Körperpsychotherapie ein, ein Ansatz der in groben Umrissen analytischen Charakter hat aber ausserdem ein von Heisterkamp und Geissler (2007) als für Körperinterventionen offenes
Setting beschriebene Struktur hat. Genauer scheint analytische Körperpsychotherapie eine Psychotherapieform zu sein, die in der relationalen und intersubjektiven analytischen Tradition steht (Mitchell & Aron, 1999). Diese Tradition misst theoretisch und klinisch den affektiven Beziehungen grosse Wichtigkeit in Entwicklung, Psychopathologie und psychotherapeutischen Wandlungsmechanismen bei. Aus dieser Perspektive werden der Körper und die subjektive Körpererfahrung immer im Kontext der therapeutischen Beziehung angesehen, verstanden und angesprochen. Die Buchkapitel führen so von Geisslers der analytischen Körperpsychotherapie vorhergehenden persönlichen und professionellen Erfahrungen zur Artikulation verschiedener Aspekte, die schon Bestandteil der analytischen Körperpsychotherapie sind. Man bemerkt, dass analytische Körperpsychotherapie von der gegenwärtigen Entwicklungspsychologie beeinflusst ist und dass sie mit dieser in einem beständigen Dialog steht, Säuglingsforschung und Bindungstheorie miteingeschlossen. Geissler beschreibt auf anschauliche Weise die Relevanz und die Grundlagen des nonverbalen affektiven Austausches sowohl in der frühen Entwicklung als auch in der klinischen Praxis mit Erwachsenen. Er erwähnt ausserdem weitere Themen wie Selbstregulation und Regression im Rahmen der Psychotherapie und widmet ein ganzes Kapitel der Bedeutung des Klanges in der Psychotherapie, wozu Geissler auf mehrere Forschungsgebiete zurückgreift. Persönlich scheint mir dies ein mutiges Buch. Die Offenheit, mit der Geissler wichtige Aspekte seiner persönlichen und profesionellen Wachstums- und Entwicklungsprozesse detailliert, ist bewundernswert. Auf der anderen Seite ist es für mich bedeutungsvoll die Entwicklung der theoretischen und praktischen Arbeit eines Psychotherapeuten in seinen Kontinuitäten und Diskontinuitäten oder Sprüngen verstehen zu können. In einer mit Geissler geteilten Reflexion über die Dynamik der Ausbildungsprozesse und der professionellen Wachstumsprozesse stellte ich fest, dass viele Therapeuten oft behaupten mit wichtigen Elementen jener Ansätze, in denen sie ausgebildet wurden, nicht mehr einverstanden zu sein oder sie sogar aufgegeben zu haben. Und später, wenn solche Therapeuten dann anfangen zu schreiben und andere in eigenen
Ansätzen auszubilden, wird oft etwas wesentliches ausgelassen: so wie die Forschung das Vorhandensein eines impliziten Beziehungswissens aufzeigt das heisst, ein nicht bewusstes Wissen, das Resultat unserer vorhergehenden Beziehungserfahrungen ist und das unserer jetzigen Beziehungserfahrungen Form verleiht scheint mir, dass es auch ein theoretisch-praktisches implizites Wissen und ein implizites klinisches Wissen gibt. In anderen Worten, auch wenn ein Psychotherapeut anfängt bestimmte Aspekte seiner Ausbildungserfahrungen als unwichtig anzusehen, was er gegenwärtig tut, denkt und fühlt basiert immer auf seinen früheren Erfahrungen und auf den Spuren der Lernprozesse die die erwähnten Erfahrungen auf der impliziten Ebene hinter sich gelassen haben. Es ist zum Beispiel nicht unüblich von Therapeuten zu hören, dass sie die Praxis der Diagnose in der Psychotherapie aufgegeben haben und dass sie die Diagnose als ein den therapeutischen Prozess und den Kontakt mit dem Patienten erschwerendes Element ansehen. Meiner Meinung nach ist dies eher trügerisch: auch wenn man nicht eine explizite Diagnose anwendet, sind die Lernerfahrungen des Therapeuten zur Diagnose während seiner Ausbildung nicht etwas, das dieser tatsächlich abwerfen könnte; er wird weiterhin diagnostische Eindrücke haben, nur sind diese nun implizite Eindrücke. Solche Eindrücke, unabhängig davon ob es einem gefällt, beeinflussen weiter die klinischen und therapeutischen Entscheidungen, die ein Therapeut trifft. Ich glaube, dass Geisslers Buch in diesem Sinne einen Versuch darstellt, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten eines von einem Therapeuten begangenen Weges darzustellen auch wenn dies nicht seine bewusste Absicht gewesen ist. Es bleibt zu hoffen, dass Geissler, Autor und Herausgeber, in der Zukunft weiter den in diesem Buch versammelten ähnliche bedeutsame Beiträge macht. Sein kontinuierlicher Fokus auf die Verbindung von theoretischen Formulierungen mit der klinischen Praxis das Buch beinhaltet diverse Fallbeispiele macht es möglich, sich ein klareres Bild der analytischen Körperpsychotherapie als gegenwärtigen psychotherapeutischen Ansatz zu machen.
Literatur Heisterkamp G. Geissler P. Rahmen, Arbeitsbündnis und Setting oder die Einrichtung der psychotherapeutischen Werkstatt. En Geissler P. & Heisterkamp G. Psychoanalyse der Lebensbewegungen: Zum körperlichen Geschehen in der psychoanalytischen Therapie. Springer, Wien, 2007, pp. 199-210. Mitchell S. Aron L. Relational Psychoanalysis: The Emergence of a Tradition. The Analytic Press, New Jersey, 1999. Sassenfeld A. Psicoterapia corporal y psicoanálisis? La consolidación de la psicoterapia corporal analítica. Gaceta de Psiquiatría Universitaria 2007; 3 (4): 381-383.