Navid Kermani: Zu Religionswissenschaft und jüdischen Studien Sehr verehrte Damen und Herren, vielleicht finden Sie es sonderbar, daß ich als Islamwissenschaftler gerade auf diesem Panel zu Ihnen spreche, das sich der allgemeinen Religionswissenschaft und den jüdischen Studien widmet. Ich tue dies ganz bewußt und freue mich über die Gelegenheit, weil ich einen Aspekt in die Diskussion einbringen möchte, der mir in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats, so sehr ich sie grundsätzlich begrüße, zu fehlen scheint. Diese Leerstelle sticht gerade aus der Perspektive meines eigenen Fachs besonders ins Auge. Sie ist gewiß nicht auf die Ignoranz der beteiligten Wissenschaftler zurückzuführen, sondern Ausdruck der Organisation, in der sich unser Wissen von den außereuropäischen Kulturen und speziell den Kulturen des östlichen Mittelmeerraums herausbildet. Ich möchte die Problematik zunächst mit einer Anekdote veranschaulichen: Ein Kollege, der heute als Redakteur einer bekannten deutschen Tageszeitung arbeitet, erzählte, wie er einst Judaistik studieren wollte. Weil sich Hauptstränge beider Traditionen durch den gleichen, arabisch geprägten Kulturraum ziehen, hielt er es für sinnvoll, im Nebenfach Islamwissenschaft zu studieren. In der Studienberatung erzählte er von seinem Vorhaben. "Sie wollen beides studieren?" fragte die verdutzte 1
Dozentin. "Also da müssen Sie sich schon entscheiden, ob sie für die Araber oder die Juden sind. Die Dozentin war jung, das Beispiel nicht typisch, und doch erzählt es viel darüber, wie Europa die eigenen, modernen Grenzlinien auf die Geschichte des Orients (zu dem doch auch das Judentum und das Christentum gehören) projiziert. An vielen großen Universitäten in Deutschland gibt es Seminare für Islamwissenschaft, für Judaistik und einige wenige für die Wissenschaft vom christlichen Orient. Eine Verbindung zwischen diesen Seminaren besteht in der Regel nicht eine Folge auch des Nationalsozialismus, der die Tradition herausragender jüdischer Orientalisten in Deutschland und die häufig mit ihnen korrespondierende Wissenschaft des Judentums abgebrochen hat. Heute lernen nur wenige Studenten, die sich mit der islamischen Theologie, Philosophie oder Mystik beschäftigen, die Werke jüdischer oder christlicher Autoren kennen, obwohl diese zur gleichen Zeit, in der gleichen Stadt, ja, in der gleichen Gasse entstanden sein könnten wie der Traktat, über den sie sich gerade beugen. Umgekehrt lernen nur wenige Studenten der Judaistik die arabische Sprache, obwohl wesentliche Werke der jüdischen Philosophie, Poesie oder Mystik von Autoren verfaßt worden sind, die Arabisch sprachen, schrieben und sich an eine arabischsprachige Öffentlichkeit wandten. 2
Die Literaturen, die Künste und die religiösen Traditionen des arabisch geprägten Kulturraums sind historisch so eng miteinander verflochten oft bis zur Ununterscheidbarkeit -, daß sie nur im Zusammenhang studiert und dargestellt werden können. Ein Studium arabischer, hebräischer oder persischer Texte jener Jahrhunderte aus einem ausschließlich judaistischen beziehungsweise islamwissenschaftlichen Blickwinkel führt zu einer Beschränkung der Sinnebenen, zu einem Übergewicht religiös-konfessioneller Momente in der Deutung: So werden Autoren, die sich ursprünglich längst nicht so eindeutig auf eine einzelne Identität bezogen, sondern allgemeine theologische, poetische oder philosophische Themen behandelten, nachträglich auf ihre Konfession hin gelesen. Texte, Autoren und historische Entwicklungen, die sich ihrem Ursprung nach keineswegs eindeutig auf eine klar umrissene religiöse Identität beziehen, werden nachträglich in einen konfessionellen Rahmen gepresst. Daß die deutsche Bildungslandschaft durch ihre Fächeraufteilung bis ins Räumliche die modernen, ideologisch motovierten, historisch hingegen nicht zu rechtfertigenden Grenzziehungen übernimmt, ist mehr als nur ein bedauerlicher, aber mit Blick auf die spärlichen Studentenzahlen nicht weiter folgenreicher Aspekt des deutschen und europäischen Bildungswesens. Es führt dazu, daß die Ideologisierung seit dem 19. Jahrhundert stets neu reproduziert wird. 3
Die Problematik, die etwa dem Fach Islamwissenschaft ähnlich wie anderen Regionalwissenschaften, die allerdings in der Regel nicht zusätzlich mit dem Ballast beschwert sind, den Bezug zur Religion im Namen zu führen eingeschrieben ist, dürfte innerhalb unseres Fachs von kaum jemanden noch bestritten werden und wurde vom Arbeitskreis Moderne und Islam als einer der Gründe hervorgehoben, sich 1996 am Wissenschaftskolleg zu konstituieren. Anerkannt worden ist auch und vor allem, wie fatal sich das religiös-theologische Vorzeichen, unter dem das Fach betrieben wird, auf das öffentliche Bild der Kulturen, die vom Islam mitgeprägt worden sind. Seit die frühe Orientalistik den Islam als autonome anthropologische Größe behandelte, welcher der Muslim willenlos ergeben sei, und die Religion der Muslime zur Ursache ihrer Unterlegenheit und strukturellen Reformunfähigkeit erklärte, wurde die muslimische Urgeschichte zum Deutungsmuster auch der Gegenwart. In verblüffender Analogie zu islamistischen Auffassungen nahm man einen islamischen Urzustand an und betrachtet die Geschichte und die Kultur vorrangig unter der Frage, inwiefern sie der frühislamischen Norm entspreche beziehungsweise zu einem Abweichen von ihr geführt habe. Nicht religiös determinierte Phänomene, Diskurse und Strömungen wurden so fast automatisch als heterodox gedeutet, anstatt in jener Autonomie wahrgenommen zu werden, die etwa Shakespeare, 4
dem Zweiten Weltkrieg oder der Phänomenologie des Geistes zukäme, die eine religiöse Dimension wohl haben, jedoch unmöglich auf diese zu reduzieren sind. Dieser essentialistische Blick ist zwar innerhalb der Islamwissenschaft längst in Frage gestellt, beherrscht aber noch immer weite Teile der öffentlichen Darstellung. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrats die ich für fundiert und insgesamt für außerordentlich begrüßenswert halte sind mit Blick auf das geschilderte Dilemma zugleich Gefahr und Chance. Einerseits besteht die Gefahr, daß die fraglos notwendige - Entstehung eines theologisch orientierten Studiums des Islams die Gräben zwischen den einzelnen Fächern, die sich teilweise oder sogar größtenteils mit dem gleichen Kulturraum beschäftigen, noch vertiefen. Es besteht auch die Gefahr, daß der nahöstliche Kulturraum sogar noch stärker als ohnehin bereits nur mit Blick auf den Islam wahrgenommen wird. Andererseits bietet die Stärkung von einzelnen Standorten, die über mindestens drei der hier behandelten religionsbezogenen Disziplinen verfügen, die Chance, fächerübergreifende Kooperationen zu fördern und gemeinsame Zentren theologischer und religionsbezogener Forschung einzurichten. Diese Perspektive wird erfreulicherweise in den Empfehlungen ausdrücklich hervorgehoben. 5
Vor allem aber, und das scheint mir in den Empfehlungen die eigentliche Leerstelle zu sein, müßten die Empfehlungen nicht nur neue Disziplinen schaffen, sondern auch die bestehenden Disziplinen verändern. Die Erforschung des Islams als Religion hat ihren systematischen Ort im Kontext der Religionswissenschaften, genauso wie die Erforschung der anderen Religionen. Die Erforschung des Nahen und Mittleren Ostens aber als eines gemeinsamen Kulturraums geht nicht in den drei Fächern Islamwissenschaft, Judaistik und der Wissenschaft des christlichen Orients auf. Hier muß sich die Orientalistik als eine Kulturwissenschaft neu aufstellen und zugleich mit dem notwendigen kritischen Bewußtsein an jene deutschsprachige Tradition anknüpfen, die nicht zuletzt mit der Wissenschaft des Judentums in Verbindung steht. Gewiß bedürfte jedes einzelne der von hier angesprochenen Themen einer vertieften Auseinandersetzung, geht es doch um nichts weniger als eine grundsätzliche Neuausrichtung der akademischen Beschäftigung mit dem Kulturraum, den wir die islamische Welt nennen. Ich hoffe, daß ich mit meinen Schlaglichter dennoch einige zusätzliche Anregungen für unsere Diskussion geben konnte, und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 6