Gedanken zum Volkstrauertag am

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Transkript:

Gedanken zum Volkstrauertag am 13. 11. 2016 von Prof. em. Dr. Stig Förster Meine Damen und Herrn, Wenn wir uns heute an diesem Ort zum Gedenken versammeln, so lohnt es sich, einen Rückblick in die Geschichte zu werfen, um unserer Trauer einen tieferen Sinn zu geben. Der Volkstrauertag wurde im Jahre 1919 vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zum Gedenken an die fast zwei Millionen gefallenen deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg vorgeschlagen und am 1. März 1925 zum ersten Mal begangen. Allerdings blieb der Volkstrauertag angesichts der politischen Spannungen in der Weimarer Republik umstritten. Vor allem nationalkonservative und völkische Redner versuchten, den Volkstrauertag für ihre Zwecke zu missbrauchen und gegen die Republik zu hetzen. Die Nationalsozialisten gingen noch weiter und benannten den Volkstrauertag in Heldengedenktag um. Statt dem Gedenken an die Kriegstoten stand nunmehr die Heldenverehrung zum Zwecke der Kriegshetze im Vordergrund. Noch im März 1945 wurde der Heldengedenktag in Berlin von den Spitzen der NSDAP, der Wehrmacht und der SS feierlich begangen. Kurz danach begann die mörderische Schlacht um Berlin. Ab 1952 wurde dem Volkstrauertag wieder seine ursprüngliche Bedeutung zurückgegeben und nunmehr zum Gedenken an die Toten zweier Weltkriege an den Fronten und in der Heimat und an die Opfer von Gewaltherrschaft aller Nationen begangen. Er wurde nun aber auf den November verlegt. 1

Gedenken, Trauer und der Wunsch auf Versöhnung sind die Leitgedanken des Volkstrauertages. Das ist richtig und wichtig, denn die Opfer und die Gräuel der Weltkriege sollen nicht in Vergessenheit geraten. Heldenverehrung und Kriegshetze sind aber im demokratischen Deutschland längst passé. Da auch der nationalsozialistischen und stalinistischen Verbrechen und ihrer Opfer gedacht wird, hat der Volkstrauertag zudem seine Eindimensionalität verloren. Die historische Entwicklung des Volkstrauertages ist somit in gewisser Weise ein Symbol für den Sieg des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates im vereinigten Deutschland. Und dennoch sind Trauer sowie Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht genug. Die Welt ist leider keineswegs ein Hort des Friedens geworden. Was sich im Moment in Aleppo, dem Irak, weiten Teilen Afrikas und anderswo abspielt, darf nicht aus dem Blickfeld geraten. Wir sollten uns heute auch daran erinnern, denn die trauernde Rückschau in die Vergangenheit ist immer auch mit einer Verpflichtung für die Gegenwart und die Zukunft verbunden. Die ursprüngliche Idee des Volkstrauertages war nach dem Ersten Weltkrieg nämlich mit dem Ruf von Millionen verbunden: NIE WIEDER! Wer aber diesem Ruf Folge leisten will, kann es nicht einfach bei Trauer und Mitleid bewenden lassen. Vielmehr muss der Frage nachgegangen werden, warum im Ersten Weltkrieg mehr als zehn Millionen Menschen und im Zweiten Weltkrieg womöglich 65 Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten. Es die Frage nach den Verantwortlichkeiten, nach den Ursachen dieser Kriege. Für den Zweiten Weltkrieg lässt sich diese Frage relativ schnell beantworten. Es war die verbrecherische Nazi- Clique im Bündnis mit den italienischen Faschisten und den japanischen Militaristen, die diesen Krieg vom Zaun brach, ihn immer weiter ausdehnte und in seinem Verlauf unsägliche Massenverbrechen beging. Dass das stalinistische Regime hierbei Hilfestellung leistete und die Westmächte sich lange Zeit 2

ungeschickt und allzu zurückhaltend verhielten, soll jedoch nicht unerwähnt bleiben. Viel komplexer ist die Frage nach den Ursachen des Ersten Weltkrieges. Hier soll nun keine Geschichtsvorlesung stattfinden, die den Einzelheiten nachgeht. Vielmehr will ich mich auf das Wesentliche konzentrieren, nämlich die zynische Verantwortungslosigkeit mit der die Entscheidungsträger in Europa vor dem August 1914 das Leben von Millionen aufs Spiel setzten. Wer zum Beispiel Christopher Clarks Bestseller Die Schlafwandler liest, dem oder der wird auffallen, dass die meisten gekrönten Häupter, Politiker und Militärs in den letzten Jahren vor dem Krieg hemmungslos auf Machtpolitik, Intrigen und Betrug setzten. Allgemeines Misstrauen und eine trotz dauernden Geredes merkwürdige Sprachlosigkeit waren für die Epoche kennzeichnend. Es war ein Spiel mit dem Feuer, das auf die Masse der Menschen keine Rücksicht nahm. Stattdessen war pathetisch viel von nationaler Ehre die Rede. Es ging angeblich um das Prestige des Staates, doch gemeint war damit vor allem das Prestige der handelnden Eliten. Die Drohung mit Krieg war in diesem Spiel ganz einfach normal. Doch genau deswegen fühlten sich alle Beteiligten auch dauernd bedroht, was sie im Zweifelsfall zur Überreaktion verleiten konnte. Es gab aber auch führende Köpfe, die den Krieg geradezu herbeisehnten. Typisch für diese Haltung war der preußische General Colmar von der Goltz, der im Jahre 1907 an seinen Kameraden Oberst Mudra schrieb: Ich wünsche dem deutschen Vaterlande freilich von allen guten Dingen zwei, nämlich völlige Verarmung und einen mehrjährigen harten Krieg. Dann würde sich das deutsche Volk vielleicht noch einmal wieder erheben und für Jahrhunderte vor moralischer Auflösung schützen. Derartige Äusserungen lassen sich bei vielen Militärs und Politikern in Europa vor 1914 finden. Sie waren Ausdruck einer 3

regelrechten Kriegstreiberei, die vor allem in rechtsnationalistischen Kreisen weit verbreitet war aber sogar bis in die bürgerliche Mitte reichte. Friedensappelle und der Aufruf zur Vernunft hatten es demgegenüber immer schwerer. In diesem Klima genügte ein Funken, ein Zufall, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen dieser Funken war dann das Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914. In der sich daran anschliessenden internationalen Krise wurden die Intrigenspiele von den europäischen Regierungen auf die Spitze getrieben. Keine Regierung unternahm ernsthafte Versuche, den drohenden allgemeinen Krieg zu verhindern - auch der britische Aussenminister Sir Edward Grey nicht. Doch für das, was dann folgte, waren zunächst vor allem der österreichisch-ungarische Kaiser Franz Joseph und seine Befehlsempfänger verantwortlich. Allein die deutsche Regierung hätte die Macht besessen, sie zu stoppen. Doch Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg goss laufend Benzin ins Feuer und trieb die Machthaber in Wien zum Handeln an. Krieg schien ihm der beste Ausweg aus der innen- und aussenpolitisch verfahrenen Lage des Reichs zu sein. So kam es zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wie später der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan schrieb. Dabei war es aber keineswegs so, dass die Entscheidungsträger von 1914 nicht ahnen konnten, was für einen furchtbaren Krieg sie da heraufbeschworen. Warnungen gab es vor 1914 genügend. Schon im Jahre 1890 hatte der preußische Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke im Deutschen Reichstag verkündet: Die Zeit der Kabinettskriege liegt hinter uns - wir haben jetzt nur noch den Volkskrieg Meine Herren, wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre lang wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, - wenn dieser Krieg zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und ist sein Ende nicht abzusehen. Es sind die größten Mächte Europas, welche, 4

gerüstet wie nie zuvor, gegen einander in den Kampf treten; keine derselben kann in einem oder in zwei Feldzügen so vollständig niedergeworfen werden, daß sie sich für überwunden erklärte, daß sie auf harte Bedingungen hin Frieden schließen müßte, daß sie sich nicht wieder aufrichten sollte, wenn auch erst nach Jahresfrist, um den Kampf zu erneuern. Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden, - wehe dem, der Europa in Brand steckt, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert! Solche Warnungen wurden international aber auch intern immer wieder zum Ausdruck gebracht. Der polnisch-jüdische Eisenbahnmagnat Ivan Bloch verfasste zum Beispiel ein sechsbändiges Werk, in dem er die katastrophalen Auswirkungen eines allgemeinen europäischen Krieges in geradezu prophetischer Weise drastisch vorhersagte. Doch die Führungen in Europa scherten sich im Sommer 1914 nicht mehr darum. Ihnen waren Machtspiele, Intrigen und vor allem das Prestige längst wichtiger geworden. Jahrzehntelang haben Historiker, Politiker und Diplomaten über die Kriegsschuldfrage im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg diskutiert. Schließlich hatte der Versailler Vertrag von 1919 dem Deutschen Reich die Alleinschuld für den Kriegsausbruch 1914 zugewiesen. Betrachtet man die Politik von Reichskanzler Bethmann Hollweg in der Julikrise 1914, so war dieser Vorwurf noch nicht einmal ganz unberechtigt. Dennoch war er grundsätzlich falsch und legte den Keim für den nächsten Krieg, denn das deutsche Volk in seiner Gesamtheit war für diesen Krieg wohl kaum haftbar zu machen. Die moderne Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren denn auch von derart pauschalen nationalistischen Schuldzuweisungen befreit. Es kann ja nun wirklich keine Rede davon sein, dass der Stahlarbeiter in Bochum, das Dienstmädchen in Berlin, der Bauer im Allgäu und die Bürokraft in Bremen für diesen Krieg verantwortlich waren. Die Völker Europas haben diesen Krieg nicht herbeigeführt, sondern wurden von ihren zumeist nicht demokratisch gewählten Regierungen auf die Schlachtbank 5

geführt. Aber auch hier lagen die Dinge nicht ganz so einfach. Eine klare Trennung zwischen Opfern und Tätern lässt sich nämlich nicht ziehen. Der alldeutsche Rechtsanwalt, der nationalistische Stammtischpolitiker, die patriotischen Kriegervereine und jene Frauen, die im August 1914 die Gewehre der in den Krieg ziehenden Soldaten mit Blumen schmückten, sie alle trugen zu jenem Klima bei, dass den nun beginnenden Totentanz überhaupt erst ermöglichte. Noch deutlicher wird die Notwendigkeit zur Differenzierung, wenn man aus deutscher Sicht den Zweiten Weltkrieg betrachtet. Wenn wir über die Kriegstoten trauern, beweinen wir dann auch die gefallenen Männer der Waffen-SS, die vor dem für sie tödlichen Kampfeinsatz wehrlose jüdische Menschen ermordet hatten? Wie gedenken wir der im Bombenhagel getöteten Frauen und Kinder, deren Ehemänner und Väter als SS-Schergen in den Konzentrationslagern dienten? Diese Kinder zumindest waren genauso unschuldig wie die Kinder von Joseph Goebbels, die seine Frau Magda im Führerbunker umbrachte. Es macht einfach keinen Sinn, die Toten der Kriege undifferenziert und ohne Hinterfragung zu betrauern. Opfer waren eben häufig auch Täter und umgekehrt. Das gemahnt uns nicht zu vergessen, dass wir alle Verantwortung tragen. Zumindest heutzutage haben wir in einem demokratischen Gemeinwesen verbesserte Möglichkeiten, verantwortungslose Entscheidungsträger zur Rechenschaft zu ziehen. Aber als Staatsbürger müssen wir auch unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen und denjenigen Widerstand entgegensetzen, die erneut die Barbarei anstreben. Es ist ungemein wichtig, sich diese Zusammenhänge vor Augen zu führen, um eine Wiederholung zu verhindern. Tatsächlich besteht Hoffnung, dass Menschen doch etwas aus der Geschichte zu lernen vermögen. Als im Sommer 2014 die 6

Ukrainekrise hochkochte, war die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel krank und ans Bett gefesselt. Sie nutzte die seltene Gelegenheit, etwas Zeit zu haben, um Christopher Clarks Buch über die Entstehung des Ersten Weltkrieges zu lesen. In diesem Buch wird wie gesagt - verdeutlicht, dass eine wesentliche Ursache für diese Katastrophe das abgrundtiefe Misstrauen und die Unfähigkeit zur ehrlichen Kommunikation zwischen den Schlüsselpersonen in den europäischen Hauptstädten gewesen war. Frau Merkel lernte daraus, dass so etwas nicht noch einmal passieren durfte und tat alles, um den Draht zu Vladimir Putin nicht abreißen zu lassen und durch Verhandlungen die Situation zu entschärfen. Ihr Erfolg ist bis heute mäßig geblieben. Doch sind ernsthafte Verhandlungen immer noch der beste und verantwortungsvollste Weg, um den Frieden zu bewahren oder wenigstens die Ausweitung von Konflikten zu verhindern. Wenn wir also heute der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedenken so tun wir dies am besten, wenn wir über die Ursachen für den Tod von Millionen nachdenken und wenn wir uns bewusstwerden, dass wir alle persönliche Verantwortung tragen. Wir tun uns damit für die Bewältigung von Gegenwart und Zukunft einen Gefallen. In diesem Sinne sollte der Gedenktag ein Tag des Nachdenkens sein. 7