Evidenzanalyse Maßnahmen zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen



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Evidenzanalyse Maßnahmen zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen 10 2007

2 INHALT Evidenzanalyse: Maßnahmen zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen... 3 Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege (1)... 3 Welche Sturzgefahren drohen alten Menschen und wie lassen sich Stürze am wirksamsten vermeiden? HEN Review (8)... 6 Interventionen zur Sturzprävention bei älteren Menschen Cochrane Review 2003(9)... 7 Hüftprotektoren zur Prävention von Hüftfrakturen bei älteren Menschen. Cochrane Review 2005 (10)... 8 Literatur...10

3 Evidenzanalyse: Maßnahmen zur Sturzprophylaxe bei älteren Menschen Etwa 30% aller Menschen über 65 Jahre stürzen jedes Jahr. Für Menschen jenseits der 75 liegt die Rate noch höher. 20-30% der Sturzopfer ziehen sich Verletzungen zu, die die Mobilität und Unabhängigkeit einschränken oder zu erhöhter Morbidität und Mortalität führen. Darüber hinaus entstehen erhebliche Kosten im Sozial- und Gesundheitswesen. Sturzpräventionsprogramme können dazu beitragen, die Sturzrate zu reduzieren. Gemeinsam ist allen Interventionen, dass sie bei den bekannten und zum Teil gut untersuchten Risikofaktoren für Stürze im Alter ansetzen. Das können u.a. sein: eine Sturzvorgeschichte, das Lebensalter, Arzneimittelgebrauch (speziell Psychopharmaka) oder eingeschränkte Mobilität. Hinzu kommen Risikofaktoren aus der räumlichen Umwelt z.b. Stolperfallen, schlechte Beleuchtung, glatte Böden oder ungeeignetes Schuhwerk. Untersuchungen zur Wirksamkeit von Interventionen liegen inzwischen aus mehreren Quellen vor. Allerdings weisen eigentlich alle verfügbaren und in den Reviews bewerteten Studien methodische Schwächen auf. So ist die Art der Teilnehmerrekrutierung häufig nicht ausreichend beschrieben. Es werden verschiedenste Assessment-Instrumente zur Erfassung des Sturzrisikos eingesetzt. Auch das Sturzereignis unterliegt keiner einheitlichen Definition. Eine echte Vergleichbarkeit ist damit praktisch nicht möglich. Außerdem haben die Studien meist eine relativ kurze Follow-up-Phase. Über eine längerfristige Compliance bei einzelnen Maßnahmen, z.b. einer Medikamentenreduktion, oder beim regelmäßigen Tragen von Hüftprotektoren ist deshalb noch wenig bekannt. Die bisher vorliegenden Interventionsstudien zur Sturzvermeidung haben zudem nicht genug Aussagekraft, um zu belegen, ob sie einen positiven Einfluss auch auf die Anzahl sturzbedingter Frakturen und Verletzungen haben. Um mehr als die bisher eher schwach belegte Wirksamkeit von Programmen nachweisen zu können, bedarf es großer längerfristig angelegter Studien, die mit standardisierten Instrumenten durchgeführt werden. Auf den folgenden Seiten wird der Kenntnisstand aus einigen relevanten internationalen Reviews kurz referiert. Es lassen sich an einigen Punkten Widersprüche in den Aussagen finden, da nicht alle Reviews die gleichen Studien einschließen und unterschiedliche Analysemethoden zum Einsatz kommen. Trotz der benannten methodischen Einschränkungen lassen sich dennoch einige Hinweise für erfolgversprechende Programme ableiten. Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege (1) Für den Pflegebereich wurde im Frühjahr 2006 der "Expertenstandard Sturzprophylaxe" veröffentlicht. Im Rahmen einer Literaturanalyse wurden Programme für zu Hause lebende Personen, Programme in der stationären Altenhilfe und Programme in Krankenhäusern gesichtet und analysiert. Anschließend wurden Einzelinterventionen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Die Verfasser sprechen sich zusammenfassend für den Einsatz von multifaktoriellen Programmen bzw. für eine Kombination von Einzelmaßnahmen aus, da diese den größten Effekt zeigen, insbesondere wenn die Programme bzw. Kombinationen an das individuelle Sturzrisiko und die jeweilige Lebenslage des sturzgefährdeten Menschen angepasst sind. Es ist belegt, dass Kraft und Balanceübungen einen großen Anteil an wirksamen Interventionen haben. Für zu Hause lebende Personen beschreiben die Verfasser beispielhaft drei multifaktorielle Interventionsprogramme, deren Effektivität empirisch nachgewiesen ist.

4 Tinetti et al.(2) evaluierten ein Programm an 301 zu Hause leben-den Personen, bei denen mindestens ein Sturzrisikofaktor ermittelt werden konnte und die mindestens 70 Jahre alt waren. Den Personen der Interventionsgruppe wurden ihren individuellen Risikofaktoren entsprechende Interventionen angeboten. Dazu gehörten Anpassung der Medikation, Anleitung und Schulung zur verhaltensbedingten Reduktion von Sturzgefahren, Übungen zum Toilette-, Bett- und Stuhltransfer, Balanceübungen, Übungen zum Aufbau der Muskelkraft sowie Anleitung zur Vermeidung eines Blutdruckabfalls durch Haltungsveränderungen. Zusätzlich wurde in einigen Fällen durch Anbringen von Haltegriffen, Antirutschmatten und erhöhten Toilettensitzen eine Umgebungsanpassung vorgenommen. Durch das Programm konnte eine Reduktion der Sturzrate um 12% im Vergleich zur Kontrollgruppe innerhalb eines Jahres erzielt werden. Die zweite Intervention (Steinberg et al.(3)) mit zu Hause lebenden aktiven Personen in Australien umfasste eine Schulung zur Bewusstmachung der eigenen Sturzrisikofaktoren, Übungen zur Verbesserung von Kraft und Balance, eine Beratung zur Modifizierung der wohnraumbedingten Sturzgefahren und eine Anpassung der Medikation. Die prospektive Datenerhebung bzw. das Monitoring erfolgte über einen Kalender, der von den Probanden täglich zu den Vorfällen (Sturz, Ausrutschen Stolpern) sowie zu den näheren Umständen geführt wurde. Die Interventionsgruppen erzielten eine deutliche Risikoreduktion der Stürze um 29% im Vergleich zur Kontrollgruppe. Auch die Häufigkeit des Ausrutschens bzw. Stolperns ohne Sturzfolge konnte deutlich reduziert werden. Allerdings bestand die Stichprobe auch aus jüngeren Teilnehmern (ab 50 Jahren), die über Seniorenclubs rekrutiert wurden und von denen angenommen werden kann, dass sie aktiver und gesünder waren als die Normpopulation alter Menschen. Insgesamt zeigt die Studie, dass wirksame Programme zur Prävention von Sturz, Stolpern und Ausrutschen im kommunalen Rahmen erfolgreich umgesetzt werden können, insbesondere für die Zielgruppe der aktiven älteren Menschen. Im 12-Monats Follow-up äußerte die Mehrheit der Teilnehmer eine große Zufriedenheit mit dem Programm. Ein größeres Selbstvertrauen und eine verminderte Angst vor Stürzen konnte ebenfalls erreicht werden. Darüber hinaus wurde von mehr als 80% der Teilnehmer der Wunsch geäußert, auch nach Beendigung der 2jährigen Studienzeit mit dem Monitoring fortzufahren, das von den Autoren als Interventionsbaustein mit eigener Wirksamkeit angesehen wird. Ebenfalls in Australien wurde ein weiteres multifaktorielles Programm durchgeführt und evaluiert (Day et al.(4)). Die Probanden waren hier 70 Jahre und älter und bei gutem bis sehr gutem Gesundheitszustand. Die Intervention bestand aus drei Komponenten (Kraft- und Balancetraining, einer häuslichen Umgebungsanpassung sowie einem Sehtest mit Modifikation von Beeinträchtigungen). Diese Bausteine wurden einzeln und in verschiedenen Kombinationen eingesetzt. Ein signifikanter Effekt in Hinblick auf die Verringerung der Sturzrate konnte für das Kraft- und Balancetraining allein und in jeweiliger Kombination mit den anderen Komponenten erzielt werden. Den größten Effekt zeigte die Kombination aller drei Interventionen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Einzelinterventionen häusliche Umgebungsanpassung und Modifikation von Sehbeeinträchtigungen zeigten weder allein noch in Kombination einen statistisch signifikanten Effekt auf die Sturzrate. Insgesamt handelt es sich hier um ein mit 15 Wochen relativ kurzes Programm mit geringer Intensität, das aber bei der Zielgruppe der 70-84jährigen mit gutem bis sehr gutem Gesundheitszustand durchaus in der Lage ist, die Sturzrate zu vermindern.

5 Für den Bereich der stationären Altenhilfe werteten die Autoren des Expertenstandards ebenfalls vorliegende Studien aus und kommen zu dem Schluss, dass multifaktorielle Interventionsprogramme in Alten- und Pflegeheimen, insbesondere bei langfristiger Durchführung die Sturzraten der Bewohner positiv beeinflussen können, wenn die Bedingungen für die Einführung und Durchführung eines solchen Programms in den Einrichtungen gegeben sind. Belegt wird die Wirksamkeit durch zwei randomisierte kontrollierte Studien, darunter auch eine Intervention in deutschen Alten- und Pflegeheimen, die wegen der Übertragbarkeit von Maßnahmen natürlich von besonderem Interesse ist(5). Die Intervention nach dem "Ulmer Modell" wurde in sechs Einrichtungen an 981 Altenheimbewohnern durchgeführt. Sie umfasste die Schulung des Personals und der Bewohner, Hinweise zur Verminderung umgebungsbedingter Sturzgefahren, progressives Balance- und Muskelaufbautraining und das Angebot von Hüftprotektoren. Mit diesem Programm konnte die Rate der Erststürze und die Rate der Mehrfachstürze innerhalb von 12 Monaten gesenkt werden. Zusätzlich nahm die Differenz zwischen Interventions- und Kontrollgruppe im Untersuchungsverlauf zu. Zur Beurteilung der Wirksamkeit hinsichtlich der Frakturrate kann wegen der geringen Stichprobengröße und der geringen Anzahl von Frakturen in Interventions- und Kontrollgruppe keine Aussage gemacht werden. Die zweite Studie wurde an neun Einrichtungen der stationären Altenhilfe in Schweden mit insgesamt 439 Bewohnern durchgeführt(6). Das Programm umfasste die Schulung und Begleitung des Personals, die Modifikation von Räumlichkeiten und die Instandsetzung von Hilfsmitteln, ein individuell angepasstes Kraft-, Balance- und Gehtraining, das Angebot von Hüftprotektoren und eine Anpassung der Medikation. Nach einem Sturzereignis folgte jeweils eine Teamkonferenz zur Ursachendiskussion mit dem Ziel, erneutes Stürzen zu verhindern. Mit dem Gesamtprogramm konnten die Sturzrate, die Anzahl der gestürzten Personen, die Zeit bis zum ersten Sturz und die Anzahl von Oberschenkelfrakturen als Folge von Stürzen gesenkt werden. Ein derartig umfassendes Programm ist allerdings mit erheblichem Aufwand verbunden, insbesondere durch umfassende Schulungen des Pflegepersonals und eine Begleitung durch externe Experten. Ohne eine Anpassung der vorhandenen Ressourcen, insbesondere ohne Schulung des Pflegepersonals durch Experten und ohne die Bereitstellung von Zeit- und Personalressourcen für die Implementation können multifaktorielle Programme möglicherweise auch Schaden anrichten. So zeigt eine Studie aus Neuseeland, dass ein Programm unter nicht angepassten Bedingungen sogar zu mehr Stürzen als in der Kontrollgruppe führte(7). Für wichtige Einzelmaßnahmen zur Sturzprophylaxe beurteilen die Autoren des Expertenstandard die Wirksamkeit aus der Literatur wie folgt: Die Reduktion von umgebungsbedingten Sturzgefahren stellt als alleinige Maßnahme keine ausreichende Intervention dar. In Kombination mit anderen Interventionen ist die Umgebungsanpassung eine wichtige Komponente zur Sturzrisikoverminderung. Die Wirksamkeit eines regelmäßigen Kraft und Balancetrainings ist bei zu Hause lebenden Personen hinsichtlich der Verminderung der Sturzrate gut belegt. Wobei die Effektivität von allgemeinen Gruppentrainings begrenzt ist, während individualisierte Übungsprogramme zu einer Reduktion von Stürzen und sturzbedingten Verletzungen beitragen. Das Absetzen, Anpassen und Reduzieren der Medikation ist Bestandteil vieler multifaktorieller Interventionsprogramme. Gezielte Untersuchungen zur Auswirkung einer Medikamentenanpassung auf die Sturzrate sind aber noch rar. Hinsichtlich einer Risikoverminderung für Frakturen nach Stürzen zeichnet sich die Wirkung einer kombinierten Calcium und Vitamin-D-Supplementierung ab.

6 Hinsichtlich der Modifikation von Sehbeeinträchtigungen kommen die Verfasser des Expertenstandard zu dem Schluss, dass weitere Interventionen durch diese Maßnahme positiv unterstützt werden. Es liegt allerdings nur eine randomisierte kontrollierte Studie vor. Gehhilfen dienen der Verminderung von Sturzrisikofaktoren. Es kann davon ausgegangen werde, dass sie auch vor Stürzen schützen. Ob die alleinige Anwendung von Gehhilfen als Intervention ausreicht, ist nicht geklärt. Für im eigenen Wohnumfeld lebende Senioren ist die Wirksamkeit von Hüftprotektoren nicht belegt. Zur Wirksamkeit von Hüftprotektoren bei Alten- und Pflegeheimbewohnern gibt es kontroverse Studienergebnisse, einige Studien fanden keine Wirkung der Protektoren, andere Reduktionen der Hüftfrakturinzidenz. Wichtig scheint eine strukturierte Schulung von Pflegekräften und Patienten zu sein. Welche Sturzgefahren drohen alten Menschen und wie lassen sich Stürze am wirksamsten vermeiden? HEN Review (8) Diese Übersicht des Health Evidence Network (HEN) aus 2004 hat die bisher bekannte Evidenzlage zur Prävention von Stürzen ebenfalls zusammengetragen. Die Verfasser des HEN-Review kommen zu folgenden Aussagen: Die Evidenz für eine Reduktion von Stürzen ist am ausgeprägtesten bei Interventionen, die sich an eine Hochrisiko-Zielgruppen richten und die einen patientenzentrierten multifaktoriellen Ansatz verfolgen. Spezielle Einzelinterventionen, die sich als wirksam erwiesen haben, sind Medikamentenüberprüfung und -anpassung insbesondere eine Reduktion des Psychopharmakakonsums. Die Evidenz für häusliche Umgebungsanpassung als Einzelmaßnahme ist gering. Bewegungs-, Kraft- und Balancetraining im Rahmen von multifaktoriellen Programmen ist effektiv. Dabei haben sich Interventionen mit Balancetraining als Kernelement des Bewegungsprogramms für fast alle Altersstufen und auch für Menschen mit funktionellen Einschränkungen am erfolgversprechendsten gezeigt. Bewegungsprogramme können aber auch das Verletzungsrisiko bei untrainierten Menschen mit Defiziten in der Balance erhöhen. Ein Walking-Trainingsprogramm in einer Gruppe von Personen mit Sturzvorgeschichte zeigte eine erhöhte Rate von Verletzungen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Inzwischen zeichnet sich auch für den Bereich Altenheimbewohner Evidenz für Präventionsstrategien ab, die Bewegungs- und Balancetraining sowie eine Umgebungsanpassung umfassen. Die Wirksamkeit einer Supplementierung mit Calcium und Vitamin D ist für die Gruppe der Menschen in Alten- und Pflegeheimen belegt. Hüftprotektoren können Frakturen in dieser Gruppe ebenfalls reduzieren. Die Compliance ist recht gering. Sie kann durch gut ausgebildetes Personal aber erhöht werden. Der HEN Review stellt auch Lücken und Konflikte in der Evidenz fest: über Mechanismen, die die Teilnahmebereitschaft, die Motivation, die Akzeptanz und die langfristige Compliance bestimmen, ist noch wenig bekannt. Es gibt sehr wenige Ergebnisse zum Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf das Sturzrisiko und auch zum Einfluss dieser Faktoren auf den Erfolg von Interventionsprogrammen. Es gibt nur sehr wenige Untersuchungen zum Sturzrisiko und zur Effektivität von Interventionen bei Männern oder bei unterschiedlichen ethnischen Gruppen.

7 Die Datenlage zu Interventionsstudien für die Gruppe von dementen und kognitiv eingeschränkten Menschen ist defizitär. Ebenso fehlen ökonomische Analysen, die die Langzeitkosten und Effekte einer Risikoreduktion in unterschiedlichen Altersgruppen ausweisen, aber auch ökonomische Analysen, die diese Kosten und Effekte für verschiedene Interventionssysteme (z.b. durch niedergelassene Ärzte oder Gesundheitsförderungsprogramme in der Gemeinde) ermitteln und vergleichen. Interventionen zur Sturzprävention bei älteren Menschen Cochrane Review 2003(9) Dieser Cochrane Review schließt 62 randomisierte, kontrollierte Studien zur Sturzprävention bei älteren Menschen ein. Im Vergleich zur Vorgängerversion sind 22 neue Studien aufgenommen worden. Mit dem Zuwachs an Studien kristallisiert sich weiter heraus, dass Interventionen bei unselektierten Gruppen weniger wirksam sind als Maßnahmen, die sich an Menschen mit Sturzvorgeschichte richten. Wann immer wichtige individuelle Risikofaktoren gezielt ausgeräumt werden können, zeigt sich eine klare Effektivität dieser Maßnahmen. Allerdings gibt es bisher noch keine Erkenntnisse über die optimale Dauer und die Intensität von Maßnahmen. Ferner merken die Verfasser an, dass das zentrale outcome in den berücksichtigten Studien, "der Sturz" nicht immer genau und nicht immer gleichartig definiert wird. Zudem gibt es Bedenken bezüglich des Erinnerungsvermögens, wenn das Sturzgeschehen retrospektiv erhoben wird. Eine aktive Meldung/Registrierung von Stürzen wurde nur für 35 der 62 ausgewerteten Studien ausgemacht. Analysiert wurden auch hier Studien an zu Hause lebenden älteren Men-schen und Studien im Bereich der stationären Altenhilfe sowie in Krankenhäusern. Für die nächste Überarbeitung des Review sind getrennte Analysen für diese Zielgruppen geplant. Die Verfasser ziehen im Diskussionsteil ihrer Arbeit folgende Schlüsse zu verschiedenen Interventionsansätzen: Kraft-, Balance- und Bewegungstraining Individuell angepasste, kombinierte Kraft-, Balance- und Bewegungstrainings, angeleitet durch ausgebildetes Personal, zeigten sich als wirksam bei der Reduktion der Sturzrate. Alle Programme, die effektiv waren, beinhalteten ein Balancetraining. Es kann davon ausgegangen werden, dass dieses Balancetraining eine wichtige Komponente für erfolgreiche Interventionen darstellt. Die Evidenz für eine Effektivität von Gruppentrainings sog. "standard packages" bleibt weiterhin begrenzt, Ausnahme bildet eine Tai-Chi Intervention, deren Wirksamkeit durch eine Studie belegt ist. Umgebungsanpassung Eine professionell angeleitete Umgebungsanpassung zeigte sich als wirksam insbesondere bei Menschen mit Sturzvorgeschichte. Kognitives Training/Verhaltenstraining Obwohl diese Komponenten in verschiedenen wirksamen multifaktoriellen Programmen eingesetzt werden, konnten die Verfasser keine Evidenz für die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen als alleiniges Element finden. Medikationsanpassung Die Reduktion, bzw. das Absetzen von Psychopharmaka reduzierte das Sturzrisiko zwar signifikant. Aufgrund der Erfahrungen in der einzigen placebo-kontrollierten Studie, die bisher durchgeführt wurde, ist aber nicht von einer dauerhaften Compliance der Teilnehmer auszugehen.

8 Multidisziplinär durchgeführtes multifaktorielles Risikofaktoren-Screening mit anschließenden multifaktoriellen Interventionen Inzwischen gibt es einige Belege für die Wirksamkeit derartiger komplexer Programme für zu Hause lebende Menschen mit und ohne Sturzvorgeschichte. Ebenso für multidisziplinäres Assessment und Intervention im Alten- und Pflegeheimbereich. Weitere Interventionen Die Wirksamkeit einer Supplementation mit Vitamin-D ist noch nicht klar belegt. Hüftprotektoren zur Prävention von Hüftfrakturen bei älteren Menschen. Cochrane Review 2005 (10) Obwohl der Einsatz von Hüftprotektoren auch in anderen Reviews, meist als Baustein im Rahmen multimodaler Programme zur Sturzprävention bewertet wird, wird die Wirksamkeit dieser Intervention hinsichtlich der Vermeidung von Hüftfrakturen in einem separaten Cochrane-Review analysiert. Der Review ist inzwischen in einer aktualisierten Fassung erschie-nen, deren Ergebnisse in den anderen Übersichten noch nicht berücksichtigt sind. Insgesamt wurden die Daten von elf Studien im Bereich Alten- und Pflegeheime sowie drei Studien an zu Hause lebenden älteren Menschen in die Analyse eingeschlossen. Eine weitere Studie untersuchte die Compliance bzw. Trage-Akzeptanz, ohne frakturrelevante Daten zu erheben. Die Reviewer kommen dabei zu folgenden Aussagen: Es sprechen einige Hinweise dafür, dass in Alten- und Pflegeheimen, in denen die Rate an Hüftfrakturen hoch ist, Hüftprotektoren dazu beitragen können, das Risiko für eine Fraktur zu verringern. Allerdings zeigt sich dieser Effekt unter Berücksichtigung der Ergebnisse der neueren Studien abgeschwächt. Die ursprüngliche Analyse umfasste fast ausschließlich cluster-randomisierte Studien. Für die inzwischen hinzugekommenen Studien mit individueller Randomisierung konnten die Effekte nicht in gleicher Größenordnung bestätigt werden. Es zeigt sich keine Evidenz für die Wirksamkeit von Hüftprotektoren für die Mehrzahl von zu Hause lebenden älteren Menschen. Das Problem der mangelnden Compliance bei der Nutzung von Hüftprotektoren ist evident. In diesen Review eingeschlossen wurde auch eine Studie, die in 42 Hamburger Pflegeheimen durchgeführt worden ist und auf die hier noch kurz eingegangen werden soll.(11) Die Maßnahme umfasste allerdings neben der reinen Bereitstellung von Hüftprotektoren für alle Teilnehmer auch eine strukturierte Schulung des Pflegepersonals und der Bewohner. Die Teilnehmer der Kontrollgruppe erhielten die übliche Pflege, ergänzt um eine kurze Information des Personals und die Vergabe von zwei Protektoren pro Einrichtung zu Demonstrationszwecken. Zum Ende der Nachbeobachtungszeit, die 15 Monate (Interventionsgruppe) bzw. 14 Monate (Kontrollgruppe) betrug, zeigte sich, dass der Einsatz von Hüftprotektoren durch die Maßnahme erheblich gesteigert werden konnte. Dies resultierte in einer relativen Reduktion von Hüftfrakturen von mehr als 40%. Die Hamburger Studie schloss auch eine ökonomische Analyse ein, deren Ergebnisse bisher nur im Rahmen einer Dissertation(12) veröffentlicht worden sind. Da die Untersuchung methodisch hochwertig ist und fundierte ökonomische Analysen in diesem Bereich äußerst rar sind, hier kurz die wesentlichen Resultate: Die Schulung und die Bereitstellung der Hüftprotektoren verursachte Kosten in Höhe von 166 pro Teilnehmer in der Interventionsgruppe. Bei den Studienteilnehmern der Kontrollgruppe waren es 5. Dem stehen Kosten gegenüber, die zum Großteil durch Ressourcenverbrauch in Folge von Hüftgelenksfrakturen entstanden. Für die Interventionsgruppe waren dies 382 pro Teilnehmer. In der

9 Kontrollgruppe lag der Wert bei 622. Insgesamt führte das Programm in der Interventionsgruppe zu einer mittleren Kostensenkung von 79 pro Teilnehmer. Die Autoren der gesichteten systematischen Reviews sind sich darin einig, dass sich für ein multifaktorielles Risikoassessment mit anschließenden multifaktoriellen Interventionen durch ein multidisziplinär besetztes und geschultes Team einige Wirksamkeitsbelege finden. Als zentrales Element wird ein Kraft-, Balance- und Bewegungstraining angesehen, das von weiteren Maßnahmen der Umgebungsanpassung, der Medikamentenüberprüfung und -anpassung sowie dem Einsatz von Hüftprotektoren (je nach Risikofaktoren) flankiert werden sollte. Multifaktorielle Programme sind bisher erfolgreich sowohl mit zu Hause lebenden Personen als auch mit Personen in Alten- und Pflegeheimen durchgeführt worden, wobei nicht für alle Einzelmaßnahmen eine Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte. Für Gruppen mit speziellen gesundheitlichen Einschränkungen z.b. demente oder kognitiv beeinträchtigte ältere Menschen stehen Belege noch aus. Es ist davon auszugehen, dass nur langfristig angelegte Programme anhaltend erfolgreich sein können.

10 Literatur 1. Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege. Entwicklung, Konsentierung, Implementierung. Hrsg.: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP). Osnabrück: Fachhochschule Osnabrück, 2006 2. Tinetti ME; Baker DI; McAvay G; Claus EB; Garrett P; Gottschalk M; Koch ML; Trainor K: A multifactorial intervention to reduce the risk of falling among elderly people living in the community. N Engl J Med. 1994 Sep 29;331(13):821-7. 3. Steinberg M; Cartwright C; Peel N; Williams G: A sustainable programme to prevent falls and near falls in community dwelling older people: results of a random-ised trial. J Epidemiol Community Health. 2000 Mar;54(3):227-32. 4. Day L; Fildes B; Gordon I; Fitzharris M; Flammer H; Lord S: Randomised factorial trial of falls prevention among older people living in their own homes. BMJ. 2002 Jul 20;325(7356):128. 5. Becker C; Kron M; Lindemann U; Sturm E; Eichner B; Walter-Jung B; Nikolaus T: Effectiveness of a multifaceted intervention on falls in nursing home residents. J Am Geriatr Soc. 2003 Mar;51(3):306-13. 6. Jensen J; Lundin-Olsson L; Nyberg L; Gustafson Y: Fall and injury prevention in older people living in residential care facilities. A cluster randomized trial. Ann Intern Med. 2002 May 21;136(10):733-41. 7. Kerse N; Butler M; Robinson E; Todd M: Fall prevention in residential care: a clus-ter randomizied, controlled trial J Am Geriatr. Soc. 2004 Apr;52(4):524-31 8. Skelton D; Todd C: What are the main risk factors for falls amongst older people and what are the most effective interventions to prevent these falls? Copenhagen: WHO Regional Office for Europe, 2005 (Health Evidence Network Report) http://www.euro.who.int/document/e82552.pdf 9. Gillespie LD; Gillespie WJ; Robertson MC; Lamb SE; Cumming RG; Rowe BH: In-terventions for preventing falls in elderly people Cochrane Database of Systematic Reviews 2003, Issue 4 Art. No: CD000340 10. Parker MJ; Gillespie WJ; Gillespie LD: Hip protectors for preventing hip fractures in older people Cochrane Database of Systematic Reviews 2005, Issue 3. Art. No.: CD001255 11. Meyer G; Warnke A; Bender R; Mühlhauser I:Effect on hip fractures of increased use of hip protectors in nursing homes : cluster randomised controlled trial British Medical J. 2003 Jan 11;326(7380):76-78 http://www.pubmedcentral.nih.gov/picrender.fcgi?artid=139934&blobtype=pdf 12. Meyer G: Ökonomische Analyse eines Interventionsprogramms zur Prävention von Hüftgelenksfrakturen durch externen Hüftschutz In: Meyer G: Evidenz-basierte präventive Interventionen in der Pflege und Ge-sundheitsversorgung S. 15-27 Hamburg, Univ., Diss., 2004 http://www.sub.uni-hamburg.de/opus/volltexte/2004/2143/pdf/dissertation.pdf