Wie schützt das Recht das Wohl und die Wünsche der Betreuten? Überarbeitete Fassung eines Vortrages auf dem 7. Württembergischen Vormundschaftsgerichtstag in Ravensburg-Weingarten am 6. März 2009 Dr. Andrea Diekmann Vorsitzende Richterin am Landgericht, zurzeit: Senatsverwaltung für Justiz, Berlin 1 I. Einleitung Die heutige Tagung beschäftigt sich mit einem der wichtigsten, wenn nicht dem wichtigsten Thema des Betreuungsrechts: dem Wohl der Betreuten. Um der Frage nachzugehen, wie das Recht das Wohl und die Wünsche der Betreuten schützt, ich zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen voranstellen. 1. Was bedeutet Betreuung? Nach 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB ist ein Betreuer zu bestellen, wenn bei dem Betroffenen eine psychische Krankheit oder eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung vorliegt, auf Grund derer er seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden, 1896 Abs. 1 a BGB. Die Betreuung umfasst alle Tätigkeiten, die erforderlich sind, um die Angelegenheiten des Betreuten 2 rechtlich zu besorgen, 1901 Abs. 1 BGB. Der Gesetzgeber beschreibt das als Rechtsfürsorge. Was heißt das? 1 Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Ansicht der Verf. wieder. 2 Der Gesetzeswortlaut ist beibehalten worden. 1
Der Betreuer vertritt den Betroffenen im festgelegten Aufgabenkreis gerichtlich und außergerichtlich, 1902 BGB. Er ist dessen gesetzlicher Vertreter. Diese Regelungen scheinen darauf hinzudeuten, die Aufgabe des Betreuers nur als diejenige eines Stellvertreters zu beschreiben; d.h. der Betreuer gibt für den Betroffenen rechtlich bindende Erklärungen ab 3. Wenn man das gesamte Regelwerk des Betreuungsrechts betrachtet, greift diese Beschreibung zu kurz. Aus verschiedenen Vorschriften ergibt sich nämlich, dass der Betreute nicht nur rechtlich vertreten, sondern auch geschützt werden soll. Man denke z.b. an die Genehmigung der Unterbringung ( 1906 BGB). 2. Rechtfertigung und Aufgaben der Betreuung Es stellt sich die Frage, welche Rechtfertigung es dafür gibt, dass einem Volljährigen diese Hilfe und dieser Schutz zuteil werden sollen. Die eigenverantwortliche Entscheidung des Einzelnen kennzeichnet sein Selbstbestimmungsrecht. Dieses Recht, das der Staat zu achten und zu wahren hat, steht jedem Kranken oder Behinderten zu. Kann ein Betroffener krankheitsbedingt nicht (mehr) entscheiden, muss er aus verfassungsrechtlichen Gründen einem Menschen, der eine Entscheidung selbst treffen kann, rechtlich gleichgestellt werden 4. Sofern sich ein Betroffener auf Grund einer krankheitsbedingt eingeschränkten Eigenverantwortlichkeit selbst zu schädigen droht, bedarf es eines rechtlichen Schutzes, weil die Handlungen des Betroffenen in diesem Fall nicht selbstbestimmt sind. Diesen rechtlichen Schutz soll die Betreuung ebenfalls gewährleisten 5. Die Aufgaben der Betreuung lassen sich demnach wie folgt beschreiben: Herstellung der Handlungsfähigkeit des Betroffenen und Schutz vor 3 Vgl. 164 ff. BGB. 4 Vgl. Lipp, Volker, Freiheit und Fürsorge: Der Mensch als Rechtsperson. Zu Funktion und Stellung der rechtlichen Betreuung, Tübringen 2000, 55. 5 Lipp, a.a.o., 73, 75 ff. 2
Selbstgefährdung bei einer krankheitsbedingt eingeschränkten Eigenverantwortlichkeit. II. Wahrnehmung der Aufgaben 1. Rechtliche Vorgaben Wie sind diese Aufgaben wahrzunehmen? Der rechtliche Rahmen ist in 1901 BGB vorgegeben. In 1901 Abs. 2 Satz 1 BGB heißt es: Der Betreuer hat die Angelegenheiten des Betreuten so zu besorgen, wie es dessen Wohl entspricht. Handlungsmaßstab ist allein das Wohl des Betroffenen. Es ist nicht Aufgabe des Betreuers, im Drittinteresse zu handeln. Nach der Gesetzesbegründung ist eine nähere Konkretisierung des Begriffs Wohl nicht möglich. Umstritten ist, nach welchem Maßstab sich das Wohl des Betreuten bestimmt. Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 22. Juli 2009 6 darf der Begriff des Wohles nicht losgelöst von seinen subjektiven Vorstellungen und Wünschen bestimmt werden. Denn zum Wohl des Betreuten gehört auch die Möglichkeit, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach seinen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Wie sind Wunsch und Wille des Betroffenen zu ermitteln? Wenn der Betreute keine Entscheidung mehr treffen kann und dies auch nicht früher geschehen ist (z.b. bei einer Patientenverfügung 1901 a BGB 7 ), obliegt es der Betreuung, die Handlungsfähigkeit des Betroffenen herzustellen. Soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass der Betreute (wieder) selbst entscheiden kann, hat der Betreuer zunächst die Ansichten und Einstellungen des Betroffenen in Erfahrung zu bringen. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung von Menschen, die dem 6 BGH BtPrax 2009, 290 ff. 7 Die Regelung ist mit dem am 1. September 2009 in Kraft getretenen 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz Gesetz geworden. 3
Betreuten vertraut sind, besonders hervorzuheben. Kann aus den Ansichten und Einstellungen des Betroffenen geschlossen werden, welche konkrete Entscheidung dem wirklichen Willen des Betroffenen entspricht, ist diese vom Betreuer zu treffen. Wenn der wirkliche Wille nicht ermittelt werden kann, kommt es auf den mutmaßlichen Willen an. Lässt sich dieser z.b. anhand von früheren Äußerungen nicht feststellen, kann nachrangig auf das Interesse des Betroffenen und damit auf objektivere Kriterien zurückgegriffen werden 8. Wann läuft ein Wunsch dem Wohl des Betreuten zuwider? Nach der vorgenannten Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist dies nicht bereits dann der Fall, wenn er dessen objektivem Interesse widerspricht. Vielmehr entsteht ein beachtlicher Gegensatz zwischen Wohl und Wille des Betreuten erst dann, wenn die Erfüllung der Wünsche höherrangige Rechtsgüter des Betreuten gefährden oder seine gesamte Lebens- und Versorgungssituation erheblich verschlechtern würde 9. Dies könne aber nur unter der Voraussetzung gelten, dass der Wunsch nicht Ausdruck der Erkrankung des Betreuten sei 10. Das bedeute nicht, dass jeder Wunsch unbeachtlich sei, den der Betreute ohne Erkrankung nicht hätte oder der als irrational zu bewerten sei. Vielmehr sei ein Wunsch lediglich dann unbeachtlich, wenn der Betreute infolge seiner Erkrankung entweder nicht in der Lage sei, eigene Wünsche und Vorstellungen zu bilden und zur Grundlage und Orientierung seiner Lebensgestaltung zu machen, oder wenn er die der Willensbildung zugrunde liegenden Tatsachen infolge seiner Erkrankung verkenne. Der Vorrang des Willens gelte nur für solche Wünsche, die Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts des Betroffenen seien 11. 8 Vgl. Lipp BtPrax 2002, 47 ff. (48, 52). 9 BGH BtPrax 2009, 290, 292. 10 BGH BtPrax 2009, 290, 292. 11 BGH BtPrax 2009, 290, 292, s. dazu ausführlich Thar, BtPrax 2010, 12 ff.; Brosey, ebd., 16 ff. 4
2. Bedeutung des 1901 BGB Welche Bedeutung kommt damit der Regelung des 1901 BGB zu? Zum einen wird ein Grundziel des Betreuungsrechts 12 formuliert. Außerdem werden Verpflichtungen des Betreuers beschrieben: - Beachtung des Wohles und Ermittlung dessen, was dem Wohl des Betroffenen entspricht; - Besprechung wichtiger Angelegenheiten mit dem Betreuten, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft, 1901 Abs. 3 Satz 3 BGB; - bei Berufsbetreuern: in geeigneten Fällen Aufstellung eines Betreuungsplanes Berufsbetreuern ( 1901 Abs. 4 Satz 3 BGB). Mit dieser Betrachtung des 1901 BGB könnten die Ausführungen abgeschlossen werden. Als Ergebnis wäre festzuhalten, dass in dieser Vorschrift die Vorgaben für den Betreuer festgeschrieben sind, die er umsetzen muss. Das wäre allerdings zu einfach betrachtet. Nach dem Betreuungsrecht sind alle Akteure dem Wohl der Betroffenen verpflichtet. Das soll näher betrachtet werden. III. Das Wohl des Betroffenen und das gerichtliche Verfahren 1. Gerichtliches Verfahren Das gerichtliche Verfahren, das bei der Prüfung, ob ein Betreuer zu bestellen ist, maßgeblich ist, ist am Wohl des Betroffenen ausgerichtet. Genannt werden sollen: die Auswahl eines qualifizierten Sachverständigen, aber auch die Vorführung, wenn diese im Schutzinteresse des Betroffenen erforderlich ist, die Anhörung - ggfls. in der üblichen Umgebung - und die Bestellung eines Verfahrenspflegers, der allein die Interessen des Betroffenen zu vertreten hat. 12 Vgl. BT-Drucks. 11/4528, 53, 133. 5
Bereits bei der Bestellung eines Betreuers hat das Gericht den Erforderlichkeitsgrundsatz zu beachten. Ein Betreuer darf nur für die Angelegenheiten bestellt werden, in denen ein Regelungsbedarf besteht, in denen sie notwendig ist, 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB. Bei der Auswahl des Betreuers ist das Gericht an die Vorschläge des Betroffenen gebunden, es sei denn, sie liefen erkennbar seinem Wohl zuwider, 1897 Abs. 4 Satz 1 BGB. Auch wenn kein Vorschlag vorliegt, muss das Wohl des Betroffenen berücksichtigt werden, denn es ist auf die Gefahr von Interessenskonflikten zu achten, 1897 Abs. 5 BGB. 2. Genehmigungserfordernisse In bestimmten Fällen unterliegen die Entscheidungen der Betreuer gerichtlichen Genehmigungserfordernissen. Ein Beispiel ist die Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, 1906 Abs. 1 BGB. Sie ist nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, z.b. weil auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass sich der Betroffene selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt ( 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Der Betreuer kann die Entscheidung, dass der Betroffene freiheitsentziehend untergebracht wird, nur treffen, wenn dies dem Wohl des Betroffenen entspricht. Die Ausgestaltung des gerichtlichen Verfahrens (Einholung eines Sachverständigengutachtens, Durchführung von Anhörungen, Bestellung eines Verfahrenspflegers) dient ebenfalls diesem Ziel: auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse soll das Gericht kann eine Genehmigung nur erteilen, wenn diese dem Wohl des Betroffenen entspricht. 6
3. Aufsicht durch das Betreuungsgericht Durch die gerichtliche Aufsicht ( 1908 i Abs. 1 BGB i.v.m. 1837 Abs. 2 BGB entsprechend) soll überprüft werden, ob der Betreuer seinen Verpflichtungen nachkommt. Gerade in diesem Bereich zeigt sich, dass der Maßstab des Wohles des Betroffenen nicht allgemein bestimmt werden kann. Selbst wenn das Gericht der Ansicht zuneigt, dass es eine andere Entscheidung als der Betreuer getroffen hätte, führt dies nicht zwingend zu aufsichtlichen Maßnahmen. Diese dürfen nur angewandt werden, wenn der Betreuer pflichtwidrig gehandelt hat. Betrachtet man die vorgestellten Regelungen, kann von einem ausbalancierten System gesprochen werden. Maßstab aller handelnder Akteure ist das Wohl des Betroffenen. Einerseits soll die Selbstbestimmung der Betroffenen gewahrt bleiben bzw. verwirklicht werden. Andererseits soll der Betroffenen vor sich selbst geschützt werden, wenn er sich krankheitsbedingt selbst schädigt. 5. Konfliktsituationen Niemand wird verkennen, dass es in Anwendung des Betreuungsrechts bei allen Akteuren bedauerlicher Weise zu Fehlern kommen kann. Es ist aber wichtig zu betonen, dass alle auf der Grundlage des Betreuungsrechts Handelnden allein dem Wohl des Betreuten verpflichtet sind. Damit sind Konflikte mit Dritten vorprogrammiert: nämlich dann, wenn sie auf Grund ihrer eigenen Verpflichtungen oder Interessen Entscheidungen treffen wollen oder müssen, die in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreifen können. Diesem Konflikt müssen sich die Akteure im Betreuungswesen stellen. Sie müssen deshalb ihre Pflichten genau kennen und zum Wohl der Betroffenen umsetzen. 7
IV. Schlussbetrachtung Die Frage, wie das Recht das Wohl der Betreuten schützt, versuche ich abschließend wie folgt zu beantworten: Der rechtliche Rahmen beinhaltet die Vorgaben, dass und wie das Wohl der Betroffenen zu gewährleisten ist. Der Rahmen ist aber nicht isoliert zu betrachten. Nur durch eine am Wohl des Betroffenen orientierte Anwendung des Rechts durch alle im Betreuungsrecht Handelnden kann der Anspruch des Rechts, das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu gewährleisten, gewahrt und umgesetzt werden und bleiben. 8