Vorlesung Soziologische Theorie SoSe 2016 Mo 1015-1145 Uhr, AudiMax 30. Mai 2016 Talcott Parsons: Gesellschaft als politische Einheit/ Soziologie als Theorie sozialer Systeme Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 1
Armin Nassehi: Soziologie. Zehn einführende Vorlesungen 2. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag 2011. Hans Joas/Wolfgang Knöbl: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen Aktualisierte Auflage Frankfurt/M./Berlin: Suhrkamp 2004. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 2
Programm 18.04. Die Vorgeschichte: Rousseau, Hobbes, Hegel und Marx Die Erfindung der bürgerlichen Gesellschaft und ihre Kritik Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Band 7, Frankfurt/M. 1970, 182-188, S. 339-346; Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1, Berlin (DDR) 1969, S. 378-391. 25.04. Emile Durkheim: Gesellschaft als integrierte Einheit/Soziologie als Moralwissenschaft Emile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt/M. 1977, S. 152-173 und 437-450. Emile Durkheim: Regeln der soziologischen Methode, Neuwied 1961, S. 115-128. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 3
02.05. Max Weber: Soziologie ohne Gesellschaft Max Weber: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: ders.: Schriften 1894-1922, ausgew. v. Dirk Käsler, Stuttgart 2002, S. 275-313. 09.05. George Herbert Mead: Gesellschaft als universe of discourse/soziologie als Verhaltenswissenschaft George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Hrsg. von Charles W. Morris. Frankfurt/M. 1992, S. 194-221 und 230-265. 16.05.! Pfingstmontag 23.05.! keine Vorlesung 30.05. Talcott Parsons: Gesellschaft als politische Einheit/Soziologie als Theorie sozialer Systeme Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, München 1972, S. 12-42. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 4
06.06. Alfred Schütz/Peter Berger/Thomas Luckmann: Gesellschaft als Lebenswelt/Soziologie als Phänomenologie und Anthropologie Alfred Schütz/Thomas Luckmann: Die Lebenswelt des Alltags und die natürliche Einstellung, in: dies.: Strukturen der Lebenswelt. Band 1, Frankfurt/M. 2003, S. 29-50. 13.06. Jürgen Habermas: Gesellschaft als System und Lebenswelt/Soziologie als Aufklärungsprojekt Jürgen Habermas: Der normative Gehalt der Moderne, in: ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 390-425. 20.06. Niklas Luhmann: Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze/Soziologie als Aufklärung Niklas Luhmann: Das Moderne der modernen Gesellschaft, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11-49. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 5
27.06. Pierre Bourdieu: Gesellschaft als Distinktionsraum/Soziologie als (Selbst-)Aufklärung Pierre Bourdieu: Leçon sur la leçon, in: ders.: Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 49-81. 04.07. Bruno Latour: Gesellschaft posthumaner Kollektive/Soziologie als Theorie hybrider Akteure Bruno Latour: Kleine Soziologie alltäglicher Gegenstände, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin, S. 15-84. 11.07. Klausur Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 6
Weitere Informationen: Die Texte werden in den Tutorien bearbeitet und sollen von allen sonstigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Vorlesung mitgelesen werden. Die Anmeldeformalitäten für die Klausur werden im Laufe der Vorlesung erläutert. Sonntags ab spätestens 23.00 Uhr (meist früher) lassen sich die Folien des darauf folgenden Montags von der Homepage des Lehrstuhls herunterladen (www.nassehi.de). Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 7
Talcott Parsons (1902-1979) Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied/Berlin 1964. 40f.: Eine der Hauptrichtungen in der Geschichte der soziologischen Theorie war eng verbunden mit der Geschichtsphilosophie und geht tatsächlich in diese über. Ihr Hauptanliegen war die Herausarbeitung allgemeinster Muster für die Veränderungsprozesse aller menschlicher Gesellschaften, sei es als lineare Entwicklung, als zyklischer oder dialektischer Prozess, oder was immer. Das beste Beispiel sind vielleicht die Entwicklungstheorien von Anthropologen wie Tylor und Morgan. Doch in Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 8
gewisser Hinsicht gilt dies auch für Marx und seine Nachfolger, für Veblen und für viele andere. Das Allgemeinheitselement in diesen Lehren, das die Bezeichnung ihrer Begründer als Theoretiker rechtfertigt, liegt in dem umfassenden Anspruch der empirischen Allgemeinheitsaussagen, die sie formulieren und zu beweisen suchten. Im Gegensatz dazu enthält die Theorie der analytischen Mechanik oder der allgemeinen Physiologie als Theorie überhaupt keine empirische Allgemeinaussage. Sie ist lediglich ein Werkzeug, mit Hilfe dessen man bestimmte empirische Lösungen und empirische Allgemeinaussagen gewinnen kann, wenn man es auf entsprechende Daten anwendet. Empirische Allgemeinaussagen zum eigentlichen Mittelpunkt einer wissenschaftlichen Theorie zu machen, heißt den Wagen vor das Pferd zu span- Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 9
nen.... Man kann... sagen, dass jedes System von stichhaltigen empirischen Allgemeinaussagen ein allgemeines theoretisches System impliziert. Zur Theorie sozialer Systeme, Westdeutscher Verlag 1976. S. 121: Handeln besteht aus den Strukturen und Prozessen, in denen Menschen ihre sinnhaften Intentionen ausdrücken und mit deren Hilfe sie diese Intentionen ausdrücken und mit deren Hilfe sie diese Intentionen in konkreten Situationen mehr oder minder erfolgreich verwirklichen. Das Wort sinnhaft bezieht sich auf die symbolische oder kulturelle Ebene. Intentionen und Implementation zusammen setzen voraus, dass in dem jeweiligen individuel- Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 10
len oder kollektiven Handlungssystem die Möglichkeit angelegt ist, Beziehungen zur Situation oder Umwelt in einer gewünschten Richtung zu verändern. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 11
Pattern Variables Affektivität Diffusität Partikularismus Qualität (Zuschreibung) Kollektivitätsorientierung Affektive Neutralität Spezifität Universalismus Verhalten (Leistung) Selbstorientierung Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 12
Pattern Variables Affektivität Diffusität Partikularismus Qualität (Zuschreibung) Kollektivitätsorientierung traditional Affektive Neutralität Spezifität Universalismus Verhalten (Leistung) Selbstorientierung modern Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 13
S. 124: Dieser Entwurf von vier generellen Subsystemen menschlichen Handelns Organismus, Persönlichkeit, Sozialsystem und Kultursystem beruht auf einem allgemeinen Paradigma, das für alles Handeln gilt und im folgenden speziell zur Analyse von Sozialsystemen verwendet wird. In diesem Paradigma wird jedes Handlungssystem mit Hilfe folgender vier Funktionskategorien analysiert: 1. Erhaltung der höchsten Steuerungs- und Kontroll -Anlagen...; 2. interne Integration des Systems; 3. Orientierung an der Erreichung von Zielen gegenüber der Umwelt; 4. allgemeine Anpassung an die Gesamtbedingungen der Umwelt.... Innerhalb der Handlungssysteme sind Kultursysteme auf die Funktion der Strukturerhaltung spezialisiert; Sozialsysteme auf die Funktion der Integration der Handlungseinheiten...; Persönlichkeitssysteme auf die Funktion der Zielerreichung und der Verhaltensorganismus auf die Funktion der Adaptation. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 14
AGIL-Schema Adaptation Goal attainment Integration Latent pattern maintenance Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 15
Allgemeines Handlungssystem Adaptation Verhaltensorganismus Goal attainment Persönlichkeitssystem Integration Soziales System Latent pattern maintenance Kultur Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 16
Allgemeines Handlungssystem Adaptation Verhaltensorganismus Goal attainment Persönlichkeitssystem Integration Latent pattern maintenance Kultur Soziales System Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 17
Soziales System (Gesellschaft) Adaptation Wirtschaft Goal attainment Politik Integration Gesellschaftliche Gemeinschaft Latent pattern maintenance Treuhandsystem Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 18
Adaptation Wirtschaft à Rollen Goal attainment Politik à Kollektive Integration Gesellschaftliche Gemeinschaft à Normen Latent pattern maintenance Treuhandsystem à Werte Zur Theorie sozialer Systeme, a.a.o. S. 80: Sozialsysteme bestehen aus interagierenden Rollen innerhalb von Kollektiven, deren spezifische Interaktion durch Normen geordnet wird, die in Werten begründet und an Werten orientiert sind. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 19
Ludwig v. Bertalanffy: General System Theory, in: General Systems. Yearbook of the Society for the Advancement of General Systems Theory 1, Ann Arbor/Michigan 1956, S. 1-10. S. 2: classical science was highly successfull in developing the theory of unorganized complexity which stems from statistics, the laws of change, and, in the last resort, the second law of thermodynamics. Today our main problem is that of organized complexity. Concepts like those of organizing, wholeness, teleology, control, self-regulation, differentiation and the like [are] alien to conventional physics. However, they pop up everywhere in the biological, behavioral, and the social sciences, and are, in fact, indispensible for dealing with living organisms or social groups. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 20
Parsons: Zur Theorie sozialer Systeme, a.a.o. S. 73f.: In mancher Hinsicht erscheinen wir Soziologen als die Lumpensammler der Theorie, weil wir viele unserer Primärbegriffe aus anderen Disziplinen geholt haben. Zum Beispiel ist in unserer Verwendung des Systembegriffs noch viel von seinem Ursprung in der physiologischen Theorie enthalten.... Ein begrifflicher Minimalaspekt von Systemen könnte in der Tat sein, sie als Bereiche relativer Nichtzufälligkeit aufzufassen. Richtig ist auch, dass Systemgrenzen durchdringlich sind: System und Umwelt unterpenetrieren einander. Ein System ist ein geordnetes Aggregat in einer fluktuierenden Umwelt, mit der es interagiert. Mit diesem Systembegriff gelangt der Analytiker sogleich zu einigen Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 21
Implikationen. Er kann solche wichtigen Fragen stellen wie z.b.: Wie wird ein bestimmtes Maß an Ordnung gegen Umweltfluktuationen aufrechterhalten? und In welcher Ordnung stehen die internen Systemkomponenten zueinander? Der Analytiker wird Betrach-tungen über Systemprobleme anstellen, z.b. über Probleme der Grenzerhaltung, über Probleme der Beschaffung und Allokation von Ressourcen sowie über Probleme der Strukturerhaltung. Wenn es ihm mehr um die Theorie als um empirische Verallgemeinerungen geht, wird er diese Probleme in allgemeinen Begriffen definieren und identifizieren, d.h. in Begriffen, die nicht spezifisch für irgend-eine Klasse von Handlungssystemen gelten, sondern prinzipiell alle isomorphen Systeme erfassen. Der Analytiker wird versuchen: Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 22
1. Probleme zu definieren, 2. Mechanismen der Problemlösung zu identifizieren (wie adäquat oder inadäquat auch immer) und 3. die Bedingungen und Konsequenzen adäquater oder inadäquater Problemlösung festzustellen. Das System moderner Gesellschaften, München 1972. S. 16f.: Wir definieren Gesellschaft als den Typ eines sozialen Systems, dessen Kennzeichen ein Höchstmaß an Selbstgenügsamkeit (self-sufficiency) im Verhältnis zu seiner Umwelt, einschließlich anderer sozialer Systeme, ist. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 23
S. 21f.: Innerhalb dieses Bezugsrahmens ist der Kern der Gesellschaft als einem sozialen System die vierte Komponente, ihr integratives Subsystem. Da wir allgemein das soziale System als für Handlungssysteme integrativ behandeln, müssen wir besonders beachten, auf welche Weise es die verschiedenen Arten und Ebenen interner Integration zustandebringt oder auch nicht zustandebringt. Wir wollen das integrative Subsystem einer Gesellschaft gesellschaftliche Gemeinschaft nennen. Die vielleicht allgemeinste Funktion einer gesellschaftlichen Gemeinschaft besteht darin, ein Normensystem mit einheitlicher und kohärenter kollektiver Organisation hervorzubringen. In Anlehnung an Weber bezeichnen wir diesen normativen Aspekt als System legitimer Ordnung: Der kollektive Aspekt ist die gesellschaftliche Gemeinschaft als eine einzige abgegrenzte Gesamtheit. Die gesell- Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 24
schaftliche Ordnung erfordert klare und deutliche Integration, womit wir einerseits normative Kohärenz und andererseits gesellschaftliche Harmonie und Koordination meinen. Außerdem müssen als Normen definierte Pflichten im großen und ganzen akzeptiert werden, während umgekehrt Gesamtheiten über normative Sanktionsmöglichkeiten zur Erfüllung ihrer Funktionen und Verfolgung ihrer legitimen Interessen verfügen müssen. So enthält die normative Ordnung auf gesellschaftlicher Ebene eine Lösung für das von Hobbes präsentierte Problem: nämlich die zwischenmenschlichen Beziehungen vor einem Degenerieren zum Krieg aller gegen alle zu bewahren. S. 146: Der neue Typ gesellschaftlicher Gemeinschaft, wie wir ihn in den Vereinigten Staaten vor und haben, rechtfertigt mehr als jeder Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 25
andere Einzelfaktor, dass wir ihr die Führung in der jüngsten Modernisierungsphase zuschreiben. Wir haben angenommen, dass sie zu einem hohen Grad jene Chancengleichheit herbeigeführt hat, die im Sozialismus betont wird. Sie setzt ein Marktsystem, eine starke, von der Regierung relativ unabhängige Rechtsordnung und einen Nationalstaat voraus, der sich von spezifischer religiöser oder ethnischer Leitung und Kontrolle befreit hat. Wir haben die Bildungsrevolution besonders hinsichtlich ihrer Betonung des Vereinungsmusters und wegen ihrer Chancenoffenheit als entscheidende Neuerung angesehen. Vor allem hat sich die amerikanische Gesellschaft weiter als jede andere vergleichbare Gesellschaft von den älteren zugewiesenen Ungleichheiten entfernt und die Institutionalisierung eines grundsätzlich egalitären Musters vorangetrieben. Prof. Dr. Armin Nassehi Seite 26