Predigt über Markus 2,1-12 (Familienkirche Oberkaufungen, 11. Oktober 2015)

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Transkript:

Predigt über Markus 2,1-12 (Familienkirche Oberkaufungen, 11. Oktober 2015) Liebe Gemeinde! Es ist dunkel, Nacht. Ich bin vor Angst erstarrt. Da ist jemand an der Wohnungstür. Er kommt herein. Ich kann mir nicht erklären, wie das möglich ist. Aber ich höre ihn näher kommen. Ich will weglaufen, fliehen, ins nächste Zimmer. Aber ich komme nicht weg. Es geht einfach nicht. Ich bin wie gelähmt. Ich wache auf, schweißgebadet mit schweren Gliedern. Es dauert einige Sekunden, bis ich begreife: Es war ein Traum. Alles ist gut. Um den Traum loszuwerden, stehe ich auf und gehe einmal durch die Wohnung. Dann kann ich weiterschlafen. Vermutlich haben wir so etwas alle schon einmal erlebt. Aber nicht nur im Traum können wir wie gelähmt sein. Und es ist auch nicht nur die Angst, die uns lähmen kann. Obwohl sie es häufig ist: die Angst vor der Aufgabe, die wir bewältigen müssen. Die Angst vor einem Scheitern, einem Versagen oder vor einem Abschied, etwa von einem Menschen. Die Angst vor einer Diagnose, die der Arzt stellen wird. Die Angst vor einem anderen Menschen, gegen den wir nicht ankommen. In der Schule vielleicht die Angst vor einer schlechten Note. Angst kann lähmen. Dann gleichen wir dem Kaninchen vor der Schlange. Es könnte noch weglaufen, sich retten. Aber es ist starr vor Angst. Es bleibt hocken und die Schlange hat leichtes Spiel. Was kann noch lähmen? Die Trauer kann lähmen wenn ich einen Menschen verloren habe, der mir fehlt. Minderwertigkeitsgefühle können lähmen ich vergleiche mich mit an- 1

deren und habe das Gefühl, mit ihnen nicht mithalten zu können. Und so mache ich mich klein vor ihnen. Unversöhnlichkeit kann lähmen. Das habe ich manchmal in den Dörfern erlebt, in denen ich früher tätig war. Da gab es Familien, die waren miteinander böse. Sie liefen aneinander vorbei und grüßten einander nicht. Kein Gedanke, dass man da auch einmal etwas ändern könnte, dass man einen neuen Anfang machen könnte miteinander. Schuld kann lähmen. Ich habe etwas getan, was nicht gut war und werde es nicht so richtig wieder los. Ich erlebe mich dadurch als unfrei auch in Begegnung mit anderen. Ein traumatisches Erlebnis kann lähmen. Es war noch nicht allzu oft, aber hin und wieder habe ich mit Menschen zu tun, die als Kinder missbraucht worden sind entweder sexuell oder durch Gewalt. Und dann merke ich, wie unendlich schwer es manchen von ihnen fällt, das hinter sich zu lassen und wirklich frei zu sein. Das traumatische Erleben wirkt sich aus. Es lähmt sie. Auch unser Predigttext erzählt von einer Lähmung, von einem Gelähmten. Nur dass es eine körperliche Lähmung ist, um die es hier geht. Freunde des Gelähmten haben gehört, dass Jesus in der Stadt ist. Der Jesus, von dem es heißt, er könne Kranke wieder gesund machen. Sie wissen nicht, was da dran ist, aber einen Versuch ist es wert. Und so bringen sie ihren gelähmten Freund zu Jesus und beschreiten dabei einen ungewöhnlichen Weg: weil der Zugang versperrt ist, wählen sie den Weg über das Dach des Hauses. Dann passiert etwas Unerwartetes. Sie hoffen auf Heilung, doch Jesus sagt zu ihrem Freund: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Warum heilt er ihn nicht? Warum redet er stattdessen von Sündenvergebung? 2

Letztlich weiß ich die Antwort auch nicht. Aber ich habe eine Vermutung. Ich versuche, mich in den Gelähmten hinein zu versetzen. Ich stelle mir vor, dass er schon lange gelähmt war. Ich male mir aus, was in ihm vorgeht. Die anderen können laufen, springen, hüpfen, tanzen. Er dagegen ist immer auf Hilfe angewiesen. Manchmal bekommt er sie, manchmal nicht. Wie gerne wäre er wie die anderen. Aber keine Chance! Es kommen negative Gedanken und Gefühle in ihm auf. Hat das Leben, hat sein Leben überhaupt noch einen Sinn? Womit hat er das verdient? Und womit haben eigentlich die anderen es verdient, dass es ihnen so anders, so gut geht? Das ist doch ungerecht. Wenn er die anderen sieht, wird er neidisch. Er gönnt ihnen ihre Gesundheit nicht. Ja, manchmal wünscht er ihnen sogar Böses, damit sie auch einmal merken, wie das ist, wenn man immer auf Hilfe angewiesen ist - im Leben. Neid, Eifersucht. Am Mittwochabend rief mich eine meine Töchter an. Sie lebt in Erfurt. Sie hatte an einer Gegendemonstration zu einer Kundgebung der AfD der sogenannten Alternative für Deutschland - teilgenommen. Sie erzählte mir, welche erschreckenden, missgünstigen und hasserfüllten Parolen dort gebrüllt worden war. Wollt ihr eine multikulturelle Gesellschaft? Ein tausendfaches Nein war die Antwort. Nein, wir wollen diese Fremden nicht. Diese Menschen mit einer anderen Hautfarbe. Diese Menschen mit einem anderen Glauben. Diese Menschen mit einer anderen Sprache. Diese Menschen mit einer anderen Kultur. Wir gönnen es ihnen nicht, in unserem Land in Sicherheit und Freiheit zu leben. Keine Frage: Unser Land steht vor einer großen Herausforderung. Leicht wird es nicht, die hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen und vor allem: sie zu integrieren, sie zu einem 3

Teil unserer Gesellschaft werden zu lassen. Da wird auch Offenheit und Bereitschaft auf Seiten der Flüchtlinge nötig sein. Offenheit für unsere Gesellschaft, Bereitschaft, die Werte unserer Gesellschaft anzuerkennen: die Gleichberechtigung von Mann und Frau zum Beispiel. Oder das gleichrangige Miteinander verschiedener Glaubensrichtungen und Lebenskonzepte. Das Projekt der Integration kann scheitern. Es wird scheitern, wenn Stimmen wie die der AfD und von Pegida Schule machen. Solche Stimmen lähmen. Sie lähmen das, was notwendig ist auch aus einem christlichen Gewissen heraus. Neid, Eifersucht, Missgunst. Ob das Gefühle waren, die der Gelähmte kannte? Ob diese Gefühle immer wieder in ihm wühlten? Ob sie verhinderten, dass er sich am Leben freuen konnte trotz seiner Behinderung? Ob sie verhinderten, dass er davon wusste: Mein Leben ist etwas wert? Es hat eine Würde? Immerhin hatte er Freunde. Menschen, die ihn nicht fallen ließen. Ganz im Gegenteil. Sie bringen ihn zu Jesus. Und Jesus wendet sich erst einmal der eigentlichen Lähmung zu. Der inneren Lähmung. Wenn meine Vermutung stimmen sollte: den Gefühlen von Neid, Eifersucht und Missgunst. Davon soll der Gelähmte geheilt werden. Das ist das Wichtigste. Und genau da liegt für mich auch die Herausforderung dieses Textes. Ich kann andere Menschen nicht körperlich heilen. Das bekomme ich nicht hin. Wie auch immer Jesus das gemacht hat er hat ja den Gelähmten dann auch noch körperlich geheilt - ich komme da nicht dran. Aber worum ich mich kümmern möchte ist, mitzuhelfen, dass Menschen innere Heilung erfahren. Und ich möchte mir auch 4

bewusst machen, dass auch ich selbst innerlich heil geheilt werden kann, wenn ich umgetrieben werde von Gedanken und Gefühlen, die mir nicht gut tun. Mir nicht und anderen nicht. Innere Heilung erfahren. Das geschieht in aller Regel nicht von jetzt auf gleich. In aller Regel ist das ein Weg. Dieser Weg muss zugelassen werden auch vom Kranken selbst. Ich denke an Menschen, die meine Hilfe anfragen. Meine Hilfe als Pfarrer. Sie haben Probleme mit sich, mit anderen, mit dem Leben. Und dann finden wir im Gespräch Lösungsmöglichkeiten, Wege, auf denen sie innere Heilung erfahren könnten. Aber sie zucken davor zurück. Sie wollen bei allem Leiden am alten Schlamassel in genau diesem Schlamassel bleiben. Da wird mir immer klar, dass es ohne Mithilfe des Hilfesuchenden, ohne seine Offenheit, nicht geht. Ohne diese Offenheit, ohne diese Mithilfe kann er nicht heil, geheilt, werden. Auch der Gelähmte in unsere Geschichte muss das annehmen, dass ihm seine Sünden vergeben sind. Unser Predigttext erzählt nicht davon, wie der Gelähmte mit diesem Zuspruch umgegangen ist. Jesus kann ihm die Vergebung zusprechen und er tut das ja auch, aber jetzt liegt es am Gelähmten, ob er diesen Zuspruch für sich in Anspruch nimmt, ob er von daher sein Leben neu versteht. Die körperliche Heilung alleine macht es nicht. So wünschenswert sie auch ist, das Eigentliche ist die innere Heilung. Die Voraussetzungen dafür sind da. Da ist zum einen der Zuspruch Jesu: Deine Sünden sind dir vergeben. Und da sind zum anderen die Freunde. Menschen, die ihm zur Seite stehen. Menschen, denen er vertrauen kann. Menschen, die ihn nicht fallen lassen, sondern die ihn hintragen zu Jesus. Und die dabei auch einen ungewohnten Weg gehen durchs Dach eines Hauses! 5

Menschliche Beziehungen können helfen, dass Heilung geschieht. Das ist für mich auch ein wichtiger Aspekt von Freundschaft. Bei einer Freundschaft geht es nicht nur darum, sich gut zu verstehen und sich sympathisch zu sein, sondern es geht darum, mit dafür Sorge zu tragen, dass der andere zurechtkommt. Es geht darum, ihn aufmerksam zu machen auf das, was in seinem Leben vielleicht nicht in Ordnung ist. Es geht darum, ihm Hinweise zu geben, wo er Hilfe finden und wo er etwas verändern kann. Heilung, innere Heilung geschieht in der Regel nicht von jetzt auf gleich. Es ist ein Weg. Das sagte ich schon. Ein Weg nicht selten auch mit Rückschlägen. Aber trotz aller Schwierigkeiten und Rückschlägen führt dieser Weg zum Leben. Es ist wenig bekannt, aber in den Evangelien wird erzählt, dass Jesus einmal seine Jünger losschickte, um zu predigen - und um zu heilen. Es ist ein Auftrag, der der ganzen Kirche gilt, also auch uns. Wir sollen von Gottes Liebe weitersagen und wir sollen mithelfen, dass Menschen wieder zurechtkommen, dass es neue Anfänge gibt, dass Heilendes geschieht. Wenn wir uns die Weltlage so anschauen, haben wir den Eindruck: Es ist vieles durcheinander geraten. Oft regiert die Gewalt. Es geht um Macht und Einfluss ohne Rücksicht auf andere. Menschen und Menschenleben spielen keine Rolle. Hass und Abgrenzung geben nicht selten den Ton an. Da ist ganz vieles krank in unserer Welt. Auch in Europa. Es ist eine Frage, die mich bewegt: Was könnte es da bedeuten für uns als Kirche, für uns als Christen -, zu heilen? Etwa Menschen die Angst zu nehmen, zu kurz zu kommen. Oder ihnen zu helfen, mit schweren Erfahrungen umzugehen. Oder ihnen vorzuleben, dass Leben etwas ganz anderes ist als den eigenen Platz zu behaupten und andere bei- 6

seite zu schieben. Warum sind die Kirchen Europas so stumm? Warum stehen sie jetzt nicht auf und setzen sich gemeinsam für die Bewältigung der Krisen und Konflikte ein, Seite an Seite, Hand in Hand? Wir nennen uns doch Christen. Wir nennen uns nach dem, der einen neuen Geist in diese Welt gebracht hat, der Grenzen gesprengt und Mauern durchbrochen hat. Durch den eine neue Gemeinschaft entstand, über die Paulus einmal schreibt (Galater 3,28): Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Wie können wir dahin kommen, dass das, was durch Jesus in unsere Welt gekommen ist, unser Leben prägt unser Denken, Reden und Handeln? Unsere Welt braucht Heilung. Amen. 7