Nicht erkrankt - und doch betroffen Angehörige in der Selbsthilfe

Ähnliche Dokumente
Sucht, Beziehung und Familie

Psychotherapeutische Unterstützung von Kindern- und Jugendlichen Migranten unter Berücksichtigung der psychologischen Grundbedürfnisse

Psychodynamik chronischer Schmerzen und Auswirkungen auf Betreffende und deren Beziehung. Vortrag Pflegeforum am Klinikum Oldenburg

John Bowlby, Mary Ainsworth, Bindung

Angehörigenarbeit in der. Psychiatrie

Ritter Rost und die Räuber

Fachtag für ElternkursleiterInnen 13. März 2012 Hannover

Bindungen im Lebenslauf. Frühjahrstrimester 2017 Prof. Dr. Kerstin Dietzel

Eigene MC-Fragen Bindungstheorie (online Vorlesung) 1. Wie lautet die Ausgangsfrage der Bindungstheorie von John Bowlby?

Der Fremde-Situations-Test (FST)... bei Erwachsenen?

Entwicklung, Bindung und Risiko

Angehörige von suchtkranken Menschen Abhängigkeitserkrankungen aus einer anderen Perspektive

IV Der personzentrierte Ansatz und die Bindungstheorie

Verschiedene Bindungsmuster

Kreuzbund - Kongress 2016 Wiebke Schneider, Guttempler-Bundesverband Suchtreferentin und Geschäftsführerin

Mütterliche Bindungserfahrung und Beziehungsqualität zum eigenen Kind

WAS BEDEUTET ABSTINENZ FÜR SUBSTITUIERTE? Ulrich Claussen Diplompsychologe Jugendberatung und Jugendhilfe e.v., Frankfurt am Main

Frühförderung und Frühe Hilfen Fachtagung Kassel 2010 Spiel-Raum Heilpädagogische und therapeutische Arbeit mit Müttern und Kleinkindern

Entwicklungspsychologie für Lehrer. Das Bindungskonzept und seine Bedeutung für die Entwicklung

Bindung als Voraussetzung für die weitere Entwicklung

Leben mit Demenz. Empfehlungen für den Alltag. Brücken in die Welt der Demenz Validation im Alltag ein Informationstag Kardinal König Haus

KAPITEL I.1 Historische und evolutionsbiologische Wurzeln der Bindungsforschung

Warum wir ohne Bindungen nicht leben können

Inhalt. Basiswissen. Grundlegende Informationen 11. Alkohol: Zahlen und Fakten 32. Vorwort 9. Was Sie über Alkoholismus wissen sollten 12

Der Einfluss von Bindung auf das Ergebnis stationärer psychosomatischer Rehabilitation

Die Bedeutung der sicheren Bindung. Chancen und Risiken der kindlichen Entwicklung

Wenn Alkohol zum Problem wird

Alkohol, Medikamente, Partnerschaft: Frauen als Betroffene und Mitbetroffene Karin Mohn, Universität Dortmund

Von Monika Horneff, Dipl.Soz.Päd.(FH), Adaptionseinrichtung An der Bergstrasse, Heppenheim Caritas-Verband Darmstadt

WIR ANGEHÖRIGE. Wer? Was? VASK bietet... Angehörigen Hilfe zur Selbsthilfe. VASK vertritt... die Angehörigen psychisch Erkrankter

Familien von schwerkranken und sterbenden Menschen stehen vor besonderen Herausforderungen und brauchen unsere Unterstützung

Wie können wir miteinander reden?

Bindung zentrale Voraussetzung für ein gesundes Aufwachsen

Angehörige: Unterstützung oder Herausforderung

Kinder stärken, gemeinsam für mehr Gesundheit. Herzlich Willkommen. Gemeinsam für mehr Gesundheit

Gesundheitsförderung für pflegende Angehörige/Pflegekräfte In Kontakt sein zu Menschen mit Demenz Marte Meo (aus eigener Kraft)

Was ist Sucht/Abhängigkeit?

Wie lassen sich körperliche Symptome psychosomatisch verstehen? Oder: Die verborgenen Wege der Gefühle

Inhalt. Grundlegende Informationen Was Sie über Alkoholismus wissen sollten 12

Vorgehen im Umgang mit suchtbelasteten Familien in der Jugendhilfe

Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern eine besondere Herausforderung für die Hilfesysteme Rede nicht! Traue nicht! Fühle nicht!

Auswirkung der psychischen Erkrankung der Eltern auf die Beziehungsgestaltung mit den Kindern

Wenn Eltern psychisch krank sind: Forschungsstand und Erfordernisse der Praxis

Bad Sassendorf, Vater-Kind-Bindung: Ist sie etwas Besonderes? Dr. Andreas Eickhorst. Deutsches Jugendinstitut, München

Sucht und Abhängigkeit

Lindenhoftagung Beratung und Psychotherapie bei Paaren mit Suchtproblematik - eine Unmöglichkeit?

Zusammen können wir Leben retten

Das Kind und ich eine Bindung, die stärkt

Katzen als Begleiterinnen in der Psychotherapie

Ressourcen aktivieren in Verlustsituationen

Sucht und Trauma. Die schwarzen Brüder

Kinder aus suchtbelasteten Familien

fdr Kongress 2013: Seminar 15 Sucht und häusliche Gewalt Auswirkungen auf die Frauen Autonomes Frauenzentrum Potsdam e.v. Frauenberatungsstelle

Angehörige als zentraler Partner in der Langzeitpflege. gemeinsam für eine gute Lebensqualität

Wie erkennen Pflegefachpersonen, was Angehörige von onkologischen Patienten brauchen?

Herzlich willkommen zum 38. Ehemaligenfest der Fachklinik Fredeburg. Dr. med. Dieter Geyer

Spirituelle Evaluation im Patientengespräch anhand des Modells STIW

Ein suchtmittelübergreifendes Programm für den verantwortungsvollen Umgang bei riskantem Konsumverhalten für Jugendliche und Erwachsene

Kinderschutz im Frauenhaus

Bindungstheorie (John Bowlby) Evolutionsbiologische Perspektive. Bindungs-Explorations-Balance (Mary Ainsworth)

Sichere Bindung - Das beste Fundament für eine glückliche Entwicklung von Kindern. Folien?

Sichere Bindungserfahrungen: Das Fundament einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung.

Ergebnisse früherer Studien

Unterstützung von Angehörigen von Menschen mit Behinderungen

Fleherstraße Düsseldorf-Bilk Tel Fax

THEORIE FRÜHKINDLICHER BINDUNGSSTÖRUNGEN WORKSHOP FÜR HEBAMMEN UND ÄRZTE DR MED JÖRG LANGLITZ KLINIK FÜR KINDER- UND JUGENDMEDIZIN EUREGIO-KLINIK

Trauma bei Kindern psychisch kranker Eltern

Herzlich willkommen zum Elternabend Stärke statt Macht

Rau/Dehner-Rau Raus aus der Suchtfalle!

Das System Familie. Themen

Diagnostik der Bindungsqualität. Einführung in die Diagnostik der Frühen Bildung und Frühförderung

Referentin: Elisabeth Nüßlein, Dipl. Sozialpädagogin, ausgebildete Trauerbegleiterin, Referentin für Hospizarbeit, Gruppentherapeutin

Die Bedeutung von Bindung in Sozialer Arbeit, Pädagogik und Beratung

Suchtmedizinisches Curriculum für MFA Suchttherapietage Hamburg 2016 Angebote Kursmodule

Kinder psychisch kranker Eltern INHALT

Alles, was Sie über Alkohol wissen sollten 14

Einführung in die Bindungstheorie

Sexualität und Demenz. Gatterer Gerald Geriatriezentrum am Wienerwald; Wien

Bindungswissen als Ressource im BeWo Sucht?! Eine Fragebogenerhebung im Zuständigkeitsgebiet des LVR

Depression. Ursachen der Depression: Bindung. Ursachen der Depression: Bindung. Ursachen der Depression: Bindung

Spezialkonzepte der AHG Klinik Richelsdorf

Was ko nnen wir lernen? Konzepte und Modellprojekte in der Arbeit mit Kindern & Familien

2,6 Mio. ca In Halberstadt leben. Kinder & Jugendliche in solchen Familien

Sucht oder Abhängigkeit - oder keins von beidem?

Elterliche psychische Erkrankung, Erziehungsfähigkeit und kindliche Entwicklung

HÄUSLICHE GEWALT WAHRNEHMEN UND ERKENNEN. Sozialkonferenz Nidwalden September 2007

Bindung. Definition nach John Bowlby:

Psychoonkologische Betreuung für Palliativpatienten

Eine Medizin für alle?

Bindung und Beziehung im Kontext von Kindeswohlgefährdung

Neurodermitis und Schuppenflechte natürlich behandeln

Leben mit einer bipolaren Partnerin

Empathische Kommunikation

Trennung und Verlust

Elternabend der Schulen Geissenstein & Steinhof, Luzern 26. Mai 2011

Gesundheitsförderung in der Geburtshilfe: Über den Zusammenhang von Stillförderung, Bonding und Familiengesundheit

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Transkript:

Nicht erkrankt - und doch betroffen Angehörige in der Selbsthilfe Jan-H. Obendiek Fachklinik Alte Ölmühle - Magdeburg 1 Was sind Angehörigen? Ein Versuch von Kurt Tucholsky ;-) Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin sehen, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie Verwandtschaft. 2 / 29 1

Was ist die Situation 3,4 Millionen Suchtkranke * 1,77 Millionen alkoholabhängig 1,4 Millionen medikamentenabhängig 600.000 drogenabhängig * Drogen- und Suchtbericht BmG 7/2014 5 7 Mio. Angehörige mehr Angehörige als Suchtkranke!!! Nur 10% der Alkoholiker machen eine Therapie (Prof. K. Mann) 90% der Angehörigen leben mit einem Kranken zusammen, der keine Behandlung bekommt!!! 3 / 29 4 / 29 2

Was ist die Situation Angehörige von Suchtkranken sind besonders belastet. Sie werden (mit)verantwortlich gemacht. fühlen sich selbst (mit)verantwortlich. erleben die Sucht bewusster als der Betroffene. sind psycho-sozial belasteter als andere.* * Moos, R.H., Finney, J.W. & Gamble, W. (1982). The process of recovery from alcoholism. II. Comparing spouses of alcoholic patients and matched community controls. Journal of Studies on Alcohol 43, 888-909 5 / 29 Was ist die Situation Frauen sind öfter betroffene Angehörige, da mehr Männer alkoholabhängig Frauen trennen sich nicht so schnell von suchtkranken Männern wie Männer von suchtkranken Frauen Partnerinnen drogenabhängiger Männer sind öfter selbst drogenabhängig (im Vergleich zu Alkoholabhängigen) Szene, Beschaffungsdruck, Verführung, Kriminalität, Alkohol wird zur Nähe-Distanz-Regulation genutzt Teufelskreis Streit Versöhnung führt zur Chronifizierung Viele Partnerinnen sind von physischer, sexueller und psychischer Gewalt betroffen.* * O Farrell & Murphy, 1995; Klein, 1996 6 / 29 3

7 / 29 Fragen, Fragen, Fragen Warum trennen sich Angehörige nicht (einfach)? Besser umgekehrt gefragt: Was hält jemand mit einem Suchtkranken zusammen? Was hält Menschen überhaupt zusammen? und was bedeutet das für die Selbsthilfe? 8 / 29 4

Was zusammenhält Beziehung Was hält eine Beziehung? 9 / 29 Was hält Familien zusammen? Starke emotionale Beziehung Bindung Kind: Nähe suchen Erwachsener: Fürsorge zeigen evolutionär angelegtes Verhaltenssystem Bindungsverhalten 10 / 29 5

Wie entsteht Bindungsverhalten Bindung ist ein... affektives Band als Folge von vorprogrammierten Verhaltensmuster, auf ein bestimmtes Individuum konzentriert John Bowlby die Wirkung besteht darin, das erste Individuum nahe an das andere heranzubringen, und es dort zu halten deshalb der umfassende Begriff Bindungsverhalten. 11 / 29 Einstimmung 12 / 29 6

Unterschiede im Bindungsverhalten Individueller Unterschiede in der Bewältigung von Trennungsstress Die fremde Situation Mary Ainsworth 13 / 29 Unterschiede im Bindungsverhalten Beobachtung: Verhalten bei Wiedervereinigung Kontakt und Nähe zur Mutter sicher Ignorieren oder aktives Vermeiden der Mutter vermeidend Annäherungs-Vermeidungs-Konflikts gegenüber der Mutter Bindungsstile ängstlich-ambivalent 14 / 29 7

Kinder - Erwachsene Fürsorgeverhalten Bindungsverhalten Reptilien (Iguanas): keine elterliche Fürsorge Vögel (Seeschwalbe): Gesten der elterlichen Fürsorge als Signal beim Balzverhalten wiederverwandt Säugetiere (Orang Utan): Emotionale Repertoire der Eltern-Kind- Interaktion wird in der erwachsenen Paarbeziehung erneut verwendet 15 / 29 Macht Liebe blind? Mütterliche und romantische Liebe deaktivieren bzw. aktiviert die gleichen Areale im Gehirn negative Emotionen, kritische soziale Beurteilungen v. Mitmenschen Belohnungssystem Mütterliche Liebe Romantische Liebe 16 / 29 8

Einstimmung 17 / 29 Grundbedürfnisse des Einzelnen Bindungsbedürfnis Orientierung und Kontrolle Lustgewinn / Unlustvermeidung Selbstwerterhöhung* *Grawe, 2004 Alle Grundbedürfnisse sind im Fall von Sucht irritiert: Beim Suchtkranken: Beim Angehörigen: Ausgrenzung Ausgrenzung u. Alleingelassen Kontrollverlust Kontrollverlust Unlusterleben Unlusterleben Minderwertigkeitsgefühle Minderwertigkeitsgefühle 18 / 29 9

Bindung - Bezogenheit Auf wen ist der Suchtkranke bezogen? Auf wen sind die Angehörigen bezogen? Bindung + Sucht = Einbahnstrasse Co-Abhängigkeit 19 / 29 20 / 29 10

Co-Abhängigkeit als Erklärungsversuch 50er Jahren, Al-Anon, 80er Jahre in Deutschland vordergründig einleuchtend die krankheitsfördernden Dynamiken innerhalb der Familiensystems konnte man sich zu ersten Mal erklären Suchtfamilie oder suchtkranken Familie Die Co-Abhängige leidet an einem Mangel an Selbstwertgefühl, das sie durch übermäßige Fürsorge und Kontrolle auszugleichen versucht. Vorteil Erklärung, der Suchtkranke fühlt sich nicht allein betroffen Nachteil Diagnose co-abhängig kann Schuldgefühle erzeugen; 21 / 29 werden der Angehörige könnte zum Problem erklärt Sucht, Bindungsstil, Gesundheit Ein Résumé (-versuch): Sucht verändert Bindungsverhalten Angehöriger Suchtkranke anklammernd/abweisend ängstlichvermeidend 22 / 29 A. Steffanowski, 1997, psychosomatische Patienten 11

Was bedeutet das für die Selbsthilfe Bindungsverhalten ist ein zentrales Thema! Zentrale Frage: Wie verhalte ich mich in emotional wichtigen Beziehungen? Ein Suchtkranker muss erst einmal zu einer Person eine Beziehung aufbauen bei der er sich sicher fühlt. dann eine Beziehung zu sich selbst, dann eine Beziehung zu Mitbetroffenen, dann neue Beziehungen zu seinem (neuen) Umfeld. 23 / 29 Ein Angehöriger muss erst einmal zu einer Person eine Beziehung aufbauen bei der er sich sicher fühlt. dann eine Beziehung zu sich selbst, dann eine Beziehung zu Mitbetroffenen dann neue Beziehungen zu seinem (neuen) Umfeld. Sicheres gesundes Bindungsverhalten entwickeln 24 / 29 12

Wo durch wird das möglich? Sucht-Selbsthilfe wirkt durch Geteilte Erfahrungen auf Basis gemeinsamer Betroffenheit Hilfe auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe Soziale Kontakte, Überwindung von Einsamkeit, Isolation und Schamgefühlen Vermittlung von Informationen über die Sucht(mittel)Problematik für Betroffene und Angehörige Einüben neuer Kommunikationsmuster, Erprobung und Reflexion neuer Handlungs- und Verhaltensstrategien Soziales Lernen und persönliche Weiterentwicklung Angebote zur Freizeitgestaltung Weiterleitung in andere Hilfesysteme, z.b. in Entgiftung, Beratung und Therapie Langfristigkeit der Angebote und schwellenlosen Zugang und vieles Andere mehr 25 / 29 Wo durch wird das möglich? Selbsthilfe bietet Angehörigen: Informationen Raum für sich selbst Verständnis, Akzeptanz, Anerkennung und Wertschätzung der bisherigen eigenen Bemühungen Rückmeldungen (Feedback) zum bisherigen Verhalten und den Konsequenzen, Hilfe beim Loslassen alter Verhaltensmuster Unterstützung, um die positiven Eigenschaften des/der Abhängigen stärken und wertzuschätzen zu können, Hilfe bei der Setzung eindeutiger Grenzen und konsequenter Haltungen Möglichkeiten, sich selbst (wieder) wertzuschätzen und vieles Andere mehr 26 / 29 13

Was bedeutet das für die Selbsthilfe Selbsthilfe für Betroffene und Selbsthilfe für Angehörige heißt, dass beide wieder in eine gemeinsame Richtung sehen. 27 / 29 Manchmal geht es aber auch schief ;-) 28 / 29 14

für s Zuhören 29 / 29 15