Strafrecht Allgemeiner Teil II

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Transkript:

Strafrecht Allgemeiner Teil II 6 Strafbefreiungsgründe und Strafrahmen Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi, LL.M., RA SCHWARZENEGGER/HUG/JOSITSCH, 5; STRATENWERTH AT II, 6 und 7

Der Vorgang der Strafzumessung im Überblick Vorüberlegung: Ist überhaupt eine Sanktion festzulegen? (-), wenn ein Strafbefreiungsgrund gegeben und/oder eine Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen angezeigt ist. Wenn eine Strafe festzulegen ist: 1. Bestimmung des in Betracht kommenden Strafrahmens a) Bestimmung des ordentlichen Strafrahmens b) Erweiterung des Strafrahmens nach unten (Strafmilderung)? c) Erweiterung des Strafrahmens nach oben (Strafschärfung)? 2. Ermittlung der strafzumessungsrelevanten Umstände 3. Umsetzung in eine konkrete Strafe 4. gegebenenfalls: Entscheidung über den Vollzug der Strafe (Busse: immer unbedingt; Geldstrafe: unbedingt/(voll-)bedingt; Freiheitsstrafe: unbedingt/(voll-)bedingt/teilbedingt) FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 171

Vorüberlegung: Ist überhaupt eine Sanktion festzulegen? (-), wenn ein Strafbefreiungsgrund gegeben und/oder eine Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen angezeigt ist. 1. Strafbefreiungsgründe im StGB vgl. insbesondere Art. 52 ff. StGB und dazu Art. 8 Abs. 1 StPO (Verzicht auf Strafverfolgung) vgl. weiter Art. 173 Ziff. 4 StGB, Art. 177 Abs. 2 und 3 StGB, Art. 187 Ziff. 3 StGB, Art. 192 Abs. 2 StGB, Art. 293 Abs. 3 StGB, Art. 308 Abs. 1 StGB 2. Verfahrenseinstellung, vgl. insbesondere Art. 8 Abs. 2 und 3 StPO sowie im StGB Art. 55a: bei den genannten Delikten, wenn das Opfer der Ehegatte/eingetragene Partner/Lebenspartner ist und darum ersucht oder einem entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde zustimmt FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 172

Bestimmung des ordentlichen Strafrahmens ab 1.1.2018 Vorgaben zu den einzelnen Strafarten aus dem AT: Freiheitsstrafe zeitige Freiheitsstrafe: 3 Tage bis maximal 20 Jahre lebenslange Freiheitsstrafe: nur, wenn im konkreten Straftatbestand angedroht Geldstrafe: 3 Tagessätze bis maximal 180 Tagessätze Busse: 1 Franken bis maximal 10 000 Franken FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 173

Bestimmung des ordentlichen Strafrahmens Vorgehen: Berücksichtigung der Angaben im konkret in Frage stehenden Straftatbestand Wenn dieser nicht alle Angaben zur Mindest-und Höchststrafe enthält: Ergänzung durch die Regelungen aus dem AT FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 174

Anwendungsbeispiel: ordentlicher Strafrahmen Ordentlicher Strafrahmenvon Art. 179 ter StGB? (Unbefugtes Aufnehmen von Gesprächen) Art. 179 ter StGB: Unbefugtes Aufnehmen von Gesprächen Wer als Gesprächsteilnehmer ein nichtöffentliches Gespräch, ohne die Einwilligung der andern daran Beteiligten, auf einen Tonträger aufnimmt, wer eine Aufnahme, von der er weiss oder annehmen muss, dass sie durch eine nach Absatz 1 strafbare Handlung hergestellt wurde, aufbewahrt, auswertet, einem Dritten zugänglich macht oder einem Dritten vom Inhalt der Aufnahme Kenntnis gibt, wird, auf Antrag, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 175

Anwendungsbeispiel: ordentlicher Strafrahmen Ordentlicher Strafrahmenvon Art. 179 ter StGB? (Unbefugtes Aufnehmen von Gesprächen) angedrohte Strafe: Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe obere Strafrahmengrenze: bei der Freiheitsstrafe: durch Art. 179 ter StGB auf 1 Jahr begrenzt bei der Geldstrafe: durch Art. 34 nstgbauf 180 Tagessätze (à CHF 3 000.-) begrenzt untere Strafrahmengrenze: bei der Freiheitsstrafe gem. Art. 40 nstgb:3 Tage bei der Geldstrafe gem. Art. 34 nstgb:3 Tagessätze (à CHF 30.-/ausn. à CHF 10.-) FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 176

Anwendungsbeispiel: ordentlicher Strafrahmen ab 1.1.2018 3 Tagessätze 180 Tagessätze Geldstrafe 3Tage 6 Monate 1 Jahr 2Jahre 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 177

Erweiterung des Strafrahmens nach unten 9durch einen Strafmilderungsgrund = Regelung, deren Anwendung den Strafrahmen unabhängig vom Deliktstyp zu Gunsten des Verurteilten nach unten hin erweitert. Ein Strafmilderungsgrund besteht: bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 48 StGB (vgl. gesonderte Folie) wenn bestimmte Regelungen des AT einschlägig sind (vgl. gesonderte Folie) wenn bestimmte Regelungen des BT einschlägig sind (vgl. Art. 123 Ziff. 1; 173 Ziff. 4 StGB) eventuell, wenn im Strafverfahren das Beschleunigungsgebot (Art. 5 StPO; Art. 6 EMRK) verletzt worden ist. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 178

Strafmilderungsgründe nach Art. 48 StGB Das Gericht mildert die Strafe, wenn: a. der Täter gehandelt hat: 1. aus achtenswerten Beweggründen, 2. in schwerer Bedrängnis, 3. unter dem Eindruck einer schweren Drohung, 4. auf Veranlassung einer Person, der er Gehorsam schuldet oder von der er abhängig ist; b. der Täter durch das Verhalten der verletzten Person ernsthaft in Versuchung geführt worden ist; c. der Täter in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung gehandelt hat; d. der Täter aufrichtige Reue betätigt, namentlich den Schaden, soweit es ihm zuzumuten war, ersetzt hat; e. das Strafbedürfnis in Anbetracht der seit der Tat verstrichenen Zeit deutlich vermindert ist und der Täter sich in dieser Zeit wohl verhalten hat. Notstandsnähe einwilligungsnahes Verhalten analog Totschlag Reue nach vollendeter Tat «Gras drüber gewachsen» FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 179

Weitere Strafmilderungsgründe aus dem AT Unterlassungsdelikte (Art. 11 Abs. 4 StGB) entschuldbare Notwehr (Art. 16 Abs. 1 StGB) entschuldbarer Notstand (Art. 18 Abs. 1 StGB) verminderte Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB) vermeidbarer Rechtsirrtum (Art. 21 Satz 2 StGB) Versuch (Art. 22 Abs. 1 StGB) Rücktritt/tätige Reue (Art. 23 StGB) Gehilfenschaft (Art. 25 StGB) Teilnehmer am Sonderdelikt (Art. 26 StGB) Strafbefreiungs-als Strafmilderungsgründe? (Art. 52 ff., umstr.) FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 180

Wirkung des Strafmilderungsgrundes Liegt ein Strafmilderungsgrund vor, ergibt sich dessen Wirkung aus Art. 48a StGB: 1 Mildert das Gericht die Strafe, so ist es nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden. 2 Das Gericht kann auf eine andere als die angedrohte Strafarterkennen, ist aber an das gesetzliche Höchst- und Mindestmass der Strafart gebunden. Die Bindung an eine im Regelstrafrahmen angeordnete erhöhte Mindeststrafe entfällt. Die Strafbehörde kann auch eine andere als die im Regelstrafrahmen vorgesehene(n) Strafart(en) wählen. Die Strafbehörde bleibt aber an das gesetzlich vorgesehene Mindestmass der jeweils gewählten Strafart(en) gebunden. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 181

Anwendungsbeispiel: Erweiterung des Strafrahmens nach unten Der Angeklagte ist schuldig des qualifizierten Raubes (Art. 140 Ziff. 4 StGB). Zum Tatzeitpunkt war er in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB). Bestimmen Sie den Strafrahmen. Art. 140 Ziff. 4 StGB: Raub 4. Die Strafe ist Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, wenn der Täter das Opfer in Lebensgefahr bringt, ihm eine schwere Körperverletzung zufügt oder es grausam behandelt. Art. 19 Abs. 2 StGB: Schuldfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit 2 War der Täter zur Zeit der Tat nur teilweise fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss dieser Einsicht zu handeln, so mildert das Gericht die Strafe. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 182

Anwendungsbeispiel: Erweiterung des Strafrahmens nach unten Der Angeklagte ist schuldig des qualifizierten Raubes (Art. 140 Ziff. 4 StGB), begangen in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB). Bestimmen Sie den Strafrahmen. 1. Ordentlicher Strafrahmen angedrohte Strafe: Freiheitsstrafe nicht unter 5 Jahren obere Strafrahmengrenze (Art. 40 Abs. 2 nstgb): 20 Jahre Freiheitsstrafe untere Strafrahmengrenze (Art. 140 Ziff. 4 StGB): 5 Jahre Freiheitsstrafe = ordentlicher Strafrahmen: 5 bis 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 183

ab 1.1.2018 Anwendungsbeispiel: ordentlicher Strafrahmen 3Tage 6 Monate 1 Jahr 2Jahre 5Jahre 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 184

ab 1.1.2018 Anwendungsbeispiel: Erweiterung des Strafrahmens nach unten Der Angeklagte ist schuldig des qualifizierten Raubes (Art. 140 Ziff. 4 StGB), begangen in einem Zustand verminderter Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB). Bestimmen Sie den Strafrahmen. 2. Erweiterter Strafrahmen gemäss Art. 48a wegen verminderter Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB)? Art. 48a StGB: Wirkung 1 Mildert das Gericht die Strafe, so ist es nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden. 2 Das Gericht kann auf eine andere als die angedrohte Strafarterkennen, ist aber an das gesetzliche Höchst- und Mindestmass der Strafart gebunden. = erweiterter Strafrahmen: 3 Tage bis 20 Jahre Freiheitsstrafe oder Geldstrafe von 3 bis 180 Tagessätzen oder Busse von CHF 1.-bis CHF 10 000.- FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 185

ab 1.1.2018 Anwendungsbeispiel: Erweiterung des Strafrahmens nach unten 1 Fr. 10 000 Fr. Busse 3 Tagessätze 180 Tagessätze Geldstrafe 3Tage 6 Monate 1 Jahr 2Jahre 5Jahre 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 186

Erweiterung des Strafrahmens nach oben Bei einer Strafschärfungnach Art. 49 Abs. 1 StGB ist der Regelstrafrahmen des schwersten Deliktes nach oben hin erweitert: Art. 49 Abs. 1 StGB Konkurrenz: Hat der Täter durch eine oder mehrere Handlungen die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen erfüllt, so verurteilt ihn das Gericht zu der Strafe der schwersten Straftat und erhöht sie angemessen. Es darf jedoch das Höchstmass der angedrohten Strafe nicht um mehr als die Hälfte erhöhen. Dabei ist es an das gesetzliche Höchstmass der Strafart gebunden. Ausgangslage:Der Täter hat «die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen erfüllt.» Konsequenzen: Der Regelstrafrahmen des schwersten Deliktsist um die Hälfte zu erhöhen, soweit dies unter Beachtung der gesetzlich angeordneten Obergrenze für die in Frage stehende Strafartmöglich ist. Bei der konkreten Strafzumessung muss die Strafbehörde das Mindestmass der Strafe um mindestens eine Strafeinheit erhöhen. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 187

Unechte/echte Konkurrenz unechte Konkurrenz Spezialität Subsidiarität Konsumtion Tatbestandsvoraussetzungen mehrerer Delikte erfüllt, aber nur ein Tatbestand wird angewendet= keine Konkurrenz (Art. 49) echte Konkurrenz Idealkonkurrenz Realkonkurrenz Täter erfüllt durch sein Verhalten verschiedene Tatbestände, die nicht im Ausschlussverhältnis stehen, oder einen Tatbestand mehrfach Art. 49 Abs. 1 StGB: Hat der Täter durch eine oder mehrere Handlungen die Voraussetzungenfür mehrere gleichartige Strafen erfüllto. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 188

Das Problem der «gleichartigen Strafen» Art. 49 Abs. 1 StGB: Hat der Täter Odie Voraussetzungenfür mehrere gleichartige Strafen erfüllto.? FRÜHER abstrakte Methode: Es genügt, wenn die anzuwendenden Strafbestimmungen abstrakt gleichartige Strafen androhen. HEUTE (grds.) konkrete Methode: Die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen sind erfüllt, wenn das Gericht im konkreten Fall für jeden einzelnen Normverstoss gleichartige Strafen ausfällen würde(vgl. BGE 138 IV 120, 122). Vgl. BSK-ACKERMANN, Art. 49 N 114 m.w.n.; MATHYS, Leitfaden Strafzumessung, Basel 2016, N 365 ff. Hinweis: Lehrbücher sind durch die bundesgerichtliche Praxis überholt! FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 189

Strafzumessungsmethoden bei der Verwirklichung mehrerer Tatbestände Asperationsprinzip (Verschärfungsgrundsatz) nach Art. 49 StGB Das Gericht ermittelt zunächst die Strafe für die schwerste Tat (sog. Einsatzstrafe) und erhöht deren Dauer unter Berücksichtigung der anderen Taten angemessen (Art. 49 Abs. 1 StGB). Es wird einegesamtstrafe (FS oder GS oder Busse) ausgesprochen. Sie darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen! Kumulationsprinzip Die Einzelstrafen werden addiert (z.b. Art. 3a OBG: «Erfüllt der Täter durch eine oder mehrere Widerhandlungen mehrere Ordnungsbussentatbestände, so werden die Bussen zusammengezählt, und es wird eine Gesamtbusse auferlegt.»; vgl. BGE 134 IV 231 f.) Absorptionsprinzip die Sanktion wird ausschliesslichnach dem Tatbestand bestimmt, für den das Gesetz die schwerste Sanktion vorsieht (anzuwenden bei lebenslänglicher Freiheitsstrafe) FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 190

Gesamtstrafenbildung nach Art. 49 Abs. 1 StGB Hat der Täter [O] die Voraussetzungen für mehrere gleichartige Strafen erfüllt, so verurteilt ihn das Gericht zu der Strafe der schwersten Straftat und erhöht sie angemessen. Es darf jedoch das Höchstmass der angedrohten Strafe nicht um mehr als die Hälfte erhöhen. Dabei ist es an das gesetzliche Höchstmass der Strafart gebunden. 1. Bestimmung, welche Delikte im konkreten Fall mit einer gleichartigen Strafe zu ahnden sind. 2. Bestimmung des Strafrahmens für die schwerste Straftat innerhalb der Gruppe von Straftaten, die mit der gleichartigen Strafart sanktioniert werden sollen. 3. Festsetzung der konkreten Einsatzstrafefür diese schwerste Straftat innerhalb dieses Strafrahmens unter Einbezug aller straferhöhenden und strafmindernden Umstände. 4. Erhöhung der Einsatzstrafe unter Einbezug der anderen Straftaten zur Gesamtstrafe, ebenfalls unter Einbezug aller straferhöhenden und strafmindernden Umstände. 5. Im Rahmen von 3. und 4. evtl. Strafschärfunggrds. bis zum eineinhalbfachen des Strafrahmens der schwersten Tat (vgl. Art. 49 Abs. 1 StGB). Vgl. BSK-ACKERMANN, Art. 49 N 114 m.w.n. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 191

Bestimmung der «schwersten Tat» Art. 49 Abs. 1 StGB: Oso verurteilt ihn das Gericht zu der Strafe der schwersten Straftat und erhöht sie angemessen. «Als schwerste Tat gilt grundsätzlich jene, die mit dem schärfsten Strafrahmen bedroht ist, und nicht jene, die nach den konkreten Umständen verschuldensmässig am schwersten wiegt.» (OGerZH, Urteil vom 28. Juni 2016, SB1600144, E. 2.2) abstrakte Strafdrohung des Gesetzes massgeblich schwerer ist die Tat mit der höheren Höchststrafe sieht jedoch das Gesetz bei einer weniger schweren Straftat eine höhere Mindeststrafe vor, so bestimmt diese den unteren Strafrahmen FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 192

Anwendungsbeispiel: Kumulation von Strafen Der Angeklagte wird wegenvergewaltigung (Art. 190 StGB) und Beschimpfung (Art. 177 Abs. 1 StGB) schuldig gesprochen. Bestimmen Sie den Strafrahmen. Art. 190 Abs. 1 StGB: Vergewaltigung 1 Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. Art. 177 Abs. 1 StGB: Beschimpfung 1 Wer jemanden in anderer Weise durch Wort, Schrift, Bild, Gebärde oder Tätlichkeiten in seiner Ehre angreift, wird, auf Antrag, mit Geldstrafe bis zu 90 Tagessätzen bestraft. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 193

Erweiterter Strafrahmen Sperrwirkungen der milderen Tat Der Angeklagte ist schuldig der qualifizierten Veruntreuung (Art. 138 Ziff. 2 StGB) und der qualifizierten Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 Ziff. 2 Abs. 2 StGB). Bestimmen Sie den Strafrahmen. Art. 138 Ziff. 2 StGB: 2. Wer die Tat als Mitglied einer Behörde, als Beamter, Vormund, Beistand, berufsmässiger Vermögensverwalter oder bei Ausübung eines Berufes, Gewerbes oder Handelsgeschäftes, zu der er durch eine Behörde ermächtigt ist, begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft. Art. 285 Ziff. 2Abs. 2 StGB: 2. Wird die Tat von einem zusammengerotteten Haufen begangen, so wird jeder, der an der Zusammenrottung teilnimmt, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft. Der Teilnehmer, der Gewalt an Personen oder Sachen verübt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe nicht unter 30 Tagessätzen bestraft. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 194

Erweiterter Strafrahmen Sperrwirkungen der milderen Tat Der Angeklagte ist schuldig der qualifizierten Veruntreuung (Art. 138 Ziff. 2 StGB) und der qualifizierten Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 Ziff. 2 Abs. 2 StGB). Bestimmen Sie den Strafrahmen. 1. Sind beide Delikte im konkreten Fall mit einer gleichartigen Strafe zu ahnden? Wenn ja: Anwendung von Art. 49 Abs. 1 StGB eröffnet 2. Bestimmung des Strafrahmens für die schwerste Straftat schwerste Straftat Art. 138 Ziff. 2: Freiheitsstrafe bis 10 Jahren oder Geldstrafe Art. 285 Ziff. 2 Abs. 2: Freiheitsstrafe bis 3 Jahren oder Geldstrafe nicht unter 30 TS Art. 138 Ziff. 2 ist aufgrund der höheren abstrakten Strafdrohung das schwerere Delikt FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 195

Erweiterter Strafrahmen Sperrwirkungen der milderen Tat obere Strafrahmengrenze Freiheitsstrafe: 13 Jahre (Addition der Höchststrafmasse als oberste Grenze) Geldstrafe (Art. 34 nstgb): max. 180 Tagessätze untere Strafrahmengrenze: Art. 285 Ziff. 2 Abs. 2 StGB gibt mind. 30 TS GS vor! Freiheitsstrafe (vgl. Art. 285 Ziff. 2 Abs. 2 StGB): 30 Tage; bei der konkreten Strafzumessung um mind. 1 Strafeinheit zu erhöhen 31 Tage Geldstrafe (Art. 285 Ziff. 2 Abs. 2 StGB): 30 TS à CHF 30.-(ausn. CHF 10.-); bei der konkreten Strafzumessung um mind. 1 Strafeinheit zu erhöhen 31 TS Beachte: Das mildere Delikt kann stets eine Sperrwirkung bei der Mindest-und/oder Höchststrafe entfalten! FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 196

Erweiterter Strafrahmen Sperrwirkungen der milderen Tat erhöhte Mindeststrafe 30 Tagessätze Geldstrafe 30 Tage 180 Tagessätze Freiheitsstrafe 1 Jahr Freiheitsstrafe 10 Jahre Sperrwirkung bei der Höchststrafe 13 Jahre (10 + 3) 20 Jahre FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 197

Zusammentreffen von Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründen gesetzlich nicht gesondert geregelt Lehre: Strafrahmen wird sowohl nach oben als auch nach unten erweitert, mithin sowohl Herabsetzung als auch Erhöhungdes ordentlichen Strafrahmens nach den üblichen Regeln der Art. 48a, 49 StGB. Beachte aber: Bei echter Konkurrenz muss die Strafbehörde grds. nach der konkreten Methode vorgehen und für jede einzelne Tat vorab die adäquate Strafartermitteln wobei eine Strafmilderung beim jeweiligen Delikt eine freie Wahl der Strafarteröffnet (Art. 48a Abs. 2 StGB). Art. 49 Abs. 1 StGB kommt nur zum Zuge, wenn sich nach diesem Schritt ergibt, dass für die einzelnen Taten jeweils eine Strafe von gleicher Art gewählt würde. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 198

Anwendungsbeispiel: Zusammentreffen von Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründen Der Angeklagte ist des mehrfachen Totschlags (Art. 113 StGB) schuldig. Er ist zugleich vermindert schuldfähig (Art. 19 Abs. 2 StGB). Bestimmen Sie den Strafrahmen. Art. 113 StGB: Totschlag Handelt der Täter in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung, so ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Art. 48a StGB: Wirkung der Strafmilderung 1 Mildert das Gericht die Strafe, so ist es nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden. 2 Das Gericht kann auf eine andere als die angedrohte Strafarterkennen, ist aber an das gesetzliche Höchst- und Mindestmass der Strafart gebunden. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 199

Zusammentreffen von Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründen 1. ordentlicher Strafrahmen von Art. 113 StGB 3Tage 6 Monate 1 Jahr 2Jahre 10 Jahre 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 200

Zusammentreffen von Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründen 2. erweiterter Strafrahmen: Wegfall Mindeststrafe (Art. 48a Abs. 1 StGB) 3Tage 6 Monate 1 Jahr 2Jahre 10 Jahre 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 201

Zusammentreffen von Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründen 3. erweiterter Strafrahmen: mehrfache Tatbegehung (Art. 49 Abs. 1 StGB) + Möglichkeit, auf eine andere Strafart zu erkennen (Art. 48a Abs. 2 StGB) 1 Fr. 10 000 Fr. Busse 3 Tagessätze 180 Tagessätze Geldstrafe 3Tage 6 Monate 1 Jahr 2Jahre 5 Jahre 10 Jahre 15 Jahre 20 Jahre Freiheitsstrafe FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi 202

Sonderfall der retrospektiven Konkurrenz Art. 49 Abs. 2 StGB Konkurrenz: Hat das Gericht eine Tat zu beurteilen, die der Täter begangen hat, bevor er wegen einer andern Tat verurteilt worden ist, so bestimmt es die Zusatzstrafe in der Weise, dass der Täter nicht schwerer bestraft wird, als wenn die strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären. Ausgangslage: Ein Täter wird wegen einer Straftat oder wegen mehreren Straftaten verurteilt. In einem späteren Strafverfahren wird er schuldig gesprochen wegen eines oder mehrerer Delikte, die er vor dem ersten Urteilbegangen hat (massgebenderzeitpunkt: Datum des Ersturteils). Diebstahl 11. Mai 2013 KV 15. Mai 2013 KV 19. Juni 2013 Ersturteil 22. Feb. 2015 Schuldspruch heute zu fällendes Urteil Strafe Ersturteil: 18 Mon FS Zusatzstrafe? FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 203

Sonderfall der retrospektiven Konkurrenz Wie muss die Strafbehörde vorgehen, die das zweite Urteil zu erlassen hat? 1. Am ersten Urteil ändert sich nichts! 2. Bestimmung des Zeitpunkts der früheren Verurteilung 3. Überprüfung der Rechtskraft dieses Urteils 4. Bestimmung der Straftaten, die vor der früheren Verurteilung verübt worden sind 5. Bildung einer hypothetischen Gesamtstrafe für alle Straftaten (auch für die bereits im ersten Urteil abgeurteilten!) 6. Die Differenz zwischen der hypothetischen Gesamtstrafe und der effektiv im ersten Urteil verhängten Strafe wird im zweiten Urteil als sogenannte Zusatzstrafe verhängt. Achtung: Ist die Differenz gleich null oder sogar negativ, ist auf eine Zusatzstrafe zu verzichten! Es bleibt dann beim Schuldspruch wegen der neu zu beurteilenden Straftaten. FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 204

Anwendungsbeispiel: retrospektive Konkurrenz X begeht am 1.5.2015 eine schwere Körperverletzung. Zwei Wochen später vergewaltigt er Y. Diese zeigt ihn an. Im September 2016 kommt es zu einer rechtskräftigen Verurteilung von 9 Jahren Freiheitsstrafe für die Vergewaltigung. Im Oktober 2016 ergeben die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, dass X der Täter der schweren Körperverletzung ist. Sie klagt den X an. Der Richter kommt nach der Beweislage zum Schluss, dass Awegen einer schweren Körperverletzung zu verurteilen ist. Er fragt sich allerdings, wie sich dieses Urteil auf das frühere Urteil vom September 2016 auswirkt? Schuldspruch schwere KV 1.5.2015 Vergewaltigungvon Y Mitte Mai 2015 Ersturteil Sept. 2016 heute zu fällendes Urteil Zusatzstrafe? Ersturteil: 9 J. FS FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 205

Anwendungsbeispiel: retrospektive Konkurrenz Art. 190 StGB: Vergewaltigung 1 Wer eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren bestraft. Art. 122 nstgb: schwere Körperverletzung Wer vorsätzlich [O], wird mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren bestraft FS 2017 Strafrecht AT II, Prof. Dr. iur. Gunhild Godenzi Folie 206