Philosophische Fakultät Institut für Philosophie, Lehrstuhl für Theoretische Philosophie, Dr. Holm Bräuer 3. Erkenntnistheorie 591
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Wissen praktisches Wissen propositionales Wissen Wissen, wie etwas ist (knowing how) (knowing that) (knowing how it is) Fähigkeiten, Fertigkeiten theoretisch, Erkenntnisse Sinnesqualitäten, Eindrücke Erkenntnistheorie Philosophie des Geistes 593
Praktisches Wissen (Wissen, wie) Albert weiß, wie man Posaune spielt. Hans und Maria wissen, wie man Fahrrad fährt. Helena weiß, wie man Rührei macht. 594
Praktisches Wissen besteht in einer praktischen Fertigkeit oder einem Können. Es besitzt keinen Inhalt, d.h. es ist kein Wissen, dass sich etwas so-und-so verhält. Wer weiß, wie man Fahrrad fährt, kann dieses Wissen nicht sprachlich ausdrücken, sondern nur dadurch zeigen, dass er Fahrrad fährt. Dieser Typ von Wissen ist nicht Thema der Erkenntnistheorie. 595
Propositionales Wissen (Wissen, dass) Der Detektiv weiß, dass der Gärtner der Mörder ist. Maria wusste gestern nicht, dass heute schönes Wetter ist. Jetzt weiß sie es. Ich weiß, dass ich zwei Hände habe. 596
Zuschreibungen des (theoretischen) Wissens haben die folgende Form: S weiß, dass p. wobei S für eine bestimmte Person (oder irgendeinem Subjekt des Wissens) steht und p für einen propositionalen Gehalt (den Inhalt des Satzes Der Mörder ist der Gärtner. oder Ich habe zwei Hände. usw.) 597
Theoretisches Wissen ist immer ein Wissen, das einen Inhalt hat. Man weiß, dass sich etwas so-undso verhält. Der Gegenstand der Erkenntnistheorie ist das propositionale Wissen. 598
Wissen, wie etwas ist Albert weiß, wie eine Kiwi schmeckt. Johanna weiß, wie es ist, wenn man einen Sonnenbrand hat. 599
Gegen die Gleichsetzung des Wissens, wie etwas ist mit dem propositionalen Wissen sprechen zwei Argumente. (1) Auf die Frage Wie ist es denn, eine Kiwi i zu essen? gibt es keine befriedigende Antwort, die es Albert erübrigen würde, eine Kiwi zu kosten, um das zu wissen. (2) Auch wenn man propositional von Kiwis alles weiß, weiß man dennoch nicht, wie eine Kiwi schmeckt, wenn man nie eine probiert hat. 600
Bei dieser Art von Wissen handelt es sich weder um praktisches noch um propositionales Wissen. Das Wissen, wie etwas ist, ist Gegenstand der Philosophie des Geistes (Qualiadebatte). 601
Skeptizismus Was ist Wissen? Was ist Wahrheit? Worin besteht Rechtfertigung? 602
Skeptizismus 603
Philosophische Skepsis vs. Alltagsskepsis 604
Philosophische Skeptiker bestreiten oder bezweifeln, dass wir Wissen über die Welt haben oder haben können, aber: 605
Sie haben Gründe für den Zweifel. 606
Sie argumentieren für ihre Position und machen dabei bewusst bestimmte Voraussetzungen. 607
Sie erheben einen Allgemeinheitsanspruch. 608
Der philosophische Skeptiker stellt die Möglichkeit des Wissens über die Welt grundsätzlich in Frage. Er argumentiert für diesen Zweifel, begründet diesen und ist sich der Voraussetzungen, die er dabei eingeht, durchaus bewusst. 609
Irrtum und Zweifel 610
Irren ist menschlich! Folgt daraus, dass ich mich manchmal irre, die Möglichkeit, dass ich mich immer irre? Vielleicht habe ich gar kein Wissen über die Welt um mich herum? 611
Bei der Feststellung, dass wir uns manchmal irren, wird vorausgesetzt, dass man Irrtümer feststellen kann. Das aber setzt voraus, dass man sich nicht in jeder Hinsicht täuschen kann. Die Feststellung eines Irrtums kann selber kein Irrtum sein, sonst wäre sie gerade nicht die Feststellung eines Irrtums. Wenn ich feststelle, mich geirrt zu haben, dann habe ich einen besonderen Grund, der gegen meine frühere Überzeugung spricht. Gegen meine jetzige Überzeugung habe ich keinen spezifischen Grund. Ich habe keinen Grund, sie aufzugeben. 612
Die Tatsache, dass wir uns hin und wieder irren, sollte uns nicht beunruhigen und erst recht nicht zum Skeptiker werden lassen! 613
Sekundäre Qualitäten 614
Haben Gegenstände Farben? John Locke Wenn wir von den Farben sprechen, dann geht es nur um die Wirkungen, die die Oberflächenstruktur eines Körpers unter bestimmten Umständen (Lichtverhältnisse) für den menschlichen Betrachter hat. 615
Primäre Qualitäten: Eigenschaften, die den Gegenständen als solchen zukommen. Sekundäre Qualitäten: Eigenschaften, die von unseren kognitiven und Wahrnehmungs-fähigkeiten abhängig sind. 616
Skeptische Schlussfolgerung Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie an sich beschaffen ist! 617
Descartes Traumargument 618
Rene Descartes Prämisse: Wenn ich weiß, dass ich jetzt eine Vorlesung halte, dann weiß ich auch, dass ich jetzt nicht im Bett liege und bloß träume, dass ich eine Vorlesung halte. Prämisse: Ich weiß jetzt nicht, ob ich jetzt träume oder nicht. modus tollens Konklusion: Also weiß ich nicht, dass ich jetzt eine Vorlesung halte. 619
Argument für die zweite Prämisse: Prämisse: Um zu wissen, ob ich jetzt träume, müsste ich ein Kriterium besitzen, das es mir erlaubt, Traum von Wachheit zu unterscheiden. Prämisse: Ich kann kein solches Kriterium besitzen, denn immer wenn ich meine, ein brauchbares Kriterium anzuwenden, könnte es sein, dass ich bloß träume, dass ich ein brauchbares Kriterium anwende! modus tollens Konklusion: Ich weiß jetzt nicht, ob ich träume oder wach bin! 620
Descartes` Außenweltskepsis 621
Halluzinationen Wir alle wissen, dass Menschen unter bestimmten Umständen halluzinieren. Nach langer Arbeit an dieser Vorlesung sehe ich aus dem Fenster und erblicke einen rosa Elefanten auf der Straße. In Wirklichkeit ist kein Elefant in der Nähe. Auf der Straße ist nichts los. In Fällen wie dem der Halluzination besteht die Täuschung darin, dass ich meine, dass meiner Vorstellung ein Gegenstand in der Welt (der rosa Elefant) entspricht. Ich täusche mich aber nicht darin, dass ich meine, einen Elefanten zu sehen. 622
Wie kann ich wissen, dass sich meine Vorstellungen auf etwas beziehen? 623
Ist es möglich, dass ich nur meine Vorstellungen besitze, denen in Wirklichkeit nichts entspricht? 624
Kann ich wirklich wissen, dass es überhaupt eine Welt jenseits oder außerhalb meiner Vorstellungen eine Außenwelt gibt? 625
I am plagued by doubts. What if everything is an illusion and nothing exists? In that case, I definitely overpaid for my carpet. Woody Allen: Selections from the Allen Notebooks 626
Prämisse: Wenn ich etwas über irgendeinen Gegenstand der Außenwelt weiß, dann weiß ich auch, dass es eine Außenwelt gibt. Prämisse: Ich kann nicht wissen, dass es eine Außenwelt gibt. modus tollens Konklusion: Ich kann über keinen Gegenstand der Außenwelt etwas wissen. 627
Wie das Traum-Argument endet auch das Außenwelt-Argument mit der Konklusion, dass ich kein empirisches Wissen über die Welt haben kann. Das Außenwelt-Argument bestreitet eine der Voraussetzungen, welche beim Traum-Argument gemacht werden muss; dass es nämlich eine Außenwelt gibt. Das Traum-Argument kann auch unter der Prämisse geführt werden, dass es eine Außenwelt gibt. Es handelt sich um zwei verschiedene Argumente. 628
Putnam s Gehirne im Tank 629
Hilary Putnam Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Jemandem ist von einem übelwollenden Neurowissenschaftler das Gehirn entnommen worden. 630
Um es am Leben zu erhalten, hat dieser es in eine Nährlösung gegeben. Die Nervenenden sind mit einem leistungsfähigen Computer verbunden worden, der dem Gehirn den Eindruck erzeugt, dass alles wie immer und ganz normal sei. 631
Das Gehirn hat also den Eindruck, dass es von den vertrauten Gegenständen umgeben ist, während in Wirklichkeit dieser Eindruck nur von elektronischen Impulsen ausgeht, die der Computer dem Gehirn sendet. Es gibt kein Erlebnis, das der Computer dem Gehirn nicht vorspielen kann. 632
Prämisse: Wenn ich irgendetwas über die Welt weiß, dann weiß ich auch, dass ich kein Gehirn im Tank bin. Prämisse: Ich kann nicht wissen, ob ich ein Gehirn im Tank bin. modus tollens Konklusion: Ich kann nichts über die Welt wissen. 633
Unsere epistemische Situation 634
Die skeptischen Fragen sind Ausdruck des Versuchs herauszufinden, ob wir uns überhaupt in einer epistemischen Situation befinden, die Wissen möglich macht. 635
Der Skeptiker zeigt uns, dass durchaus die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen ist, dass uns einige oder die meisten Aspekte unserer epistemischen Umgebung intransparent sind. 636
Ein Träumer hat, während er träumt, nicht die Möglichkeit festzustellen, ob er träumt oder wach ist. 637
Wir haben keine (direkte) Möglichkeit festzustellen, ob unseren Vorstellungen tatsächlich Gegenstände entsprechen oder nicht, d.h. wir können die Existenz der Außenwelt nur annehmen, nicht beweisen. 638
Wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass die Welt um uns herum so beschaffen ist, wie wir sie wahrnehmen, denn viele der Eigenschaften, die wir erkennen können, sind keine Eigenschaften der Dinge, sondern Eigenschaften, die von unserer sinnlichen und kognitiven Ausstattung abhängig sind. 639
Was ist Wissen? 640
Gestern wusste ich nicht, wie heute das Wetter sein wird. Heute weiß ich es. 641
Wir sind in der Lage, Fälle des Wissens von Fällen des Nicht-Wissens zu unterscheiden. 642
Wir können den Begriff des Wissens korrekt verwenden. 643
Wozu also diese Frage? Was ist das eigentlich für eine Frage? 644
Begriffsanalyse Notwendige und hinreichende Bedingungen 645
x ist ein Junggeselle, gdw. (1) x unverheiratet ist (2) x männlich ist und (3) x die meisten Abende allein verbringt. bi Eine Bedingung ist nicht notwendig. 646
Notwendige Bedingungen sind diejenigen Bedingungen, die für den fraglichen Begriff immer erfüllt sein müssen. (Von links nach rechts lesen!) Die dritte Bedingung ist nicht notwendig, da es Junggesellen gibt, die die meisten Abende nicht allein verbringen (Partylöwen, die Single sind). 647
x ist ein Junggeselle, gdw. (1) x unverheiratet ist und (2) x männlich ist. Bedingungen sind zusammen nicht hinreichend. 648
Hinreichend ist eine Menge von Bedingungen dann, wenn sie immer Fälle des fraglichen Begriffs sind. (Von rechts nach links lesen!) Die beiden angeführten Merkmale sind zusammen nicht hinreichend, da es unverheiratete, männliche Wesen gibt, die keine Junggesellen sind (Knaben). 649
x ist ein Junggeselle, gdw. (1) x unverheiratet ist (2) x männlich ist und (3) x im heiratsfähigem Alter ist. Sind die Bedingungen im einzelnen notwendig und zusammen hinreichend, um den fraglichen Begriff zu bestimmen? Falls ja, dann liegt eine korrekte Begriffsanalyse vor. 650
Die traditionelle Konzeption des Wissens 651
Die für viele Jahrhunderte unbestrittene Definition des Wissens stammt aus der Antike, nämlich von Platon, und lautet: 652
Wissen = wahre, gerechtfertigte Meinung Irrtum Zufall Ignoranz 653
S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; (3) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p. 654
Die erste Bedingung für Wissen verlangt das Haben einer Überzeugung. Wir lesen von links nach rechts: Wenn S weiß, dass p, dann hat S die Überzeugung, dass p. 655
Hans weiß, dass Dresden südlich von Berlin liegt, aber er glaubt es nicht. Wenn es möglich ist, dass dies wahr ist, dann wäre die erste Bedingung nicht notwendig. Dies scheint nicht der Fall zu sein. Wissen ohne Überzeugung ist offenbar nicht möglich. 656
Das Haben einer Überzeugung entsprechenden Inhalts ist eine notwendige Bedingung für Wissen! 657
Überzeugungen allein sind nicht hinreichend für Wissen, denn Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Und falsche Überzeugungen sind keine Fälle von Wissen! 658
Die zweite Bedingung für Wissen verlangt daher die Wahrheit der Überzeugung. Wir lesen wieder von links nach rechts: Wenn S weiß, dass p, dann ist es wahr, dass p. 659
Hans weiß, dass Berlin südlich von Dresden liegt. Offenbar sind Falschheit und Wissen auch nicht miteinander vereinbar. Wenn etwas falsch ist, dann liegt kein Wissen vor. 660
Auch die Wahrheit des Gewussten ist eine notwendige Bedingung für Wissen! Wissen ist faktiv. 661
Ist das Haben einer wahren Überzeugung eine hinreichende Bedingung für Wissen? 662
Hans bekommt ein Säckchen mit Murmeln vorgesetzt. Er soll nun raten, wie viele Murmeln sich in dem Säckchen befinden. Nach einer Weile sagt er 16. Jetzt wird das Säckchen geöffnet, wobei sich herausstellt, dass es zufällig wirklich 16 Murmeln sind! Hans hatte also eine wahre Überzeugung g über die Anzahl der Murmeln. 663
Wusste Hans, wie viele Murmeln im Säckchen sind? 664
Zufällig wahre Überzeugungen stellen kein Wissen dar. Der Besitz einer wahren Überzeugung ist nicht hinreichend, um Wissen zu definieren. 665
Wir brauchen eine weitere notwendige Bedingung für Wissen. Diese Bedingung muss es uns erlauben, zufällig wahre Überzeugungen von Wissen zu unterscheiden. 666
Sokrates:... die richtigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, solange sie bleiben, und bewirken alles Gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu bleiben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass sie doch nicht viel wert sind, bis man sie bindet durch Aufweisen ihrer Begründung.... Nachdem sie aber gebunden werden, werden sie zuerst Erkenntnisse und dann auch bleibend. Und deshalb nun ist Erkenntnis höher zu schätzen als die richtige Vorstellung, und es unterscheidet sich eben durch das Gebundensein die Erkenntnis von der richtigen Vorstellung. Platon: Menon 97e-98a98a 667
S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; (3) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p. 668
Handelt es sich bei der Rechtfertigung um eine notwendige Bedingung für Wissen? Wir lesen wieder von links nach rechts: Wenn S weiß, dass p, dann ist S s süberzeugung, dass p, gerechtfertigt. 669
Die dritte Bedingung wäre nicht notwendig, wenn der folgende Fall vorkommen könnte: S weiß, dass p, besitzt aber keinerlei Rechtfertigung dafür zu glauben, dass p. 670
Was auch immer im Einzelnen unter Rechtfertigung zu verstehen ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Dennoch: Die traditionelle Konzeption des Wissens als wahrer, gerechtfertigter ti t Meinung lässt sich an vielen Beispielen belegen. 671
Maria weiß nur dann, dass die Bibliothek sonntags geöffnet ist, wenn sie Gründe hat, das anzunehmen. 672
Eine Frau weiß, dass sie schwanger ist nicht schon, wenn sie es ahnt (und es zufällig stimmt), sondern erst dann, wenn sie gewisse Evidenzen dafür hat. 673
Ein Mathematiker weiß erst dann, dass ein mathematischer Satz wahr ist, wenn er ihn beweisen kann und nicht schon, wenn er das nur vermutet oder glaubt. 674
Hans weiß nicht, wie viele Murmeln im Säckchen sind, wenn er es nur rät. Er weiß es erst dann, wenn er seine Vermutung stützen und begründen kann; wenn er entsprechende Anhaltspunkte hat. 675
Edmund Gettiers Problem 676
Edmund Gettier Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen? (1963) Schmidt und Müller bewerben sich auf dieselbe Stelle. Schmidt hat aus glaubhafter Quelle erfahren, dass sich die Firma für Müller entscheiden wird. Außerdem hat er zufällig gesehen, dass Müller zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Diese Daten rechtfertigen seine Annahme: 677
Müller wird die Stelle bekommen. Rechtfertigung: vertrauenswürdiger Informant Müller hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. Rechtfertigung: eigene Wahrnehmung 678
Aus diesen beiden gerechtfertigten Überzeugungen folgt 679
Derjenige, der die Stelle bekommen wird, hat zehn Münzen in der Hosentasche. 680
Nun ereignen sich für Schmidt zwei unerwartete Zufälle. Er selbst hat auch genau zehn Münzen in seiner Hosentasche und er selbst, nicht Müller, bekommt trotz gegenteiliger Vorinformation die Stelle. 681
Schmidt hat eine wahre Überzeugung. Derjenige, der die Stelle bekommen wird, hat zehn Münzen in seiner Hosentasche. 682
Seine Überzeugung ist zudem gerechtfertigt. Glaubhafte Quelle, eigene Wahrnehmung, logisches Schließen 683
Schmidt hat eine wahre und gerechtfertigte Überzeugung. 684
Wusste Schmidt wirklich, was er glaubte? 685
Zusatzbedingungen 686
Schmidts Rechtfertigung beruhte auf der falschen Prämisse, dass Müller die Stelle bekommt. Vielleicht sollten wir einfach falsche Überzeugungen als Rechtfertigungsgründe ausschließen? 687
S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; (3) S ist gerechtfertigt zu glauben, dass p. (4) die rechtfertigenden Überzeugungen wahr sind. 688
Problem: Scheunen-Attrappen Angenommen Henry sehe bei einem Ausflug eine Scheune. Er hat gute Augen und keinen Grund seiner Wahrnehmung zu misstrauen. Weiterhin ist seine Wahrnehmung korrekt: es handelt sich tatsächlich um eine Scheune. Aufgrund dessen kommt er zu der Überzeugung, dass vor ihm eine Scheune steht. 689
Henry hat eine wahre Überzeugung und kann diese durch eine Wahrnehmung rechtfertigen, die selbst korrekt ist. Alle vier Bedingungen sind erfüllt. Weiss Henry, dass vor ihm eine Scheune steht? 690
Angenommen, in der Gegend, in der sich Henry gerade auhält, wird ohne dass er das wüßte ein Film gedreht. Daher stehen sehr viele Scheunen- Attrappen herum, die den echten Scheunen zum Verwechseln ähnlich sehen. Die von Henry gesehene Scheune ist zufällig eine der wenigen echten Scheunen. 691
Intuitiv würden wir diesen Fall nicht als ein Fall von wirklichem Wissen betrachten, denn Henrys Wahrnehmung ist nur zufälligerweise korrekt. Hätte er eine Scheunenattrape gesehen, hätte er auch diese für eine Scheune gehalten. 692
Der eben konstruierte Fall beruhte darauf, dass die rechtfertigenden Gründe zwar wahr, aber nur zufällig wahr sind. Dies weist darauf hin, dass die vierte Bedingung noch zu schwach war. 693
Ein nichtzufälliger wahrer Grund für eine Überzeugung liegt offensichtlich dann vor, wenn dieser selbst gerechtfertigt ist: S weiß, dass p, gdw. (1), (2), (3) und (4) die Rechtfertiger wahr und gerechtfertigt g sind. 694
Das führt leider in einen infiniten Regress. Die vierte Bedingung hat dieselbe Struktur wie die ersten drei Bedingungen. Wir könnten nun fragen, wie es um die rechtfertigenden Überzeugungen der rechtfertigenden Überzeugungen steht usw. Das Problem verschiebt sich statt gelöst zu werden! 695
internalistische Konzepte externalistische Konzepte S weiß, dass p, gdw. S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (2) p ist wahr; und (3) S ist gerechtfertigt, p zu glauben. (3)??? (4)??? 696
Externalistische Konzepte halten Rechtfertigung nicht für eine notwendige Bedingung des Wissens. Sie suchen diese durch eine andere zu ersetzen. Sie versuchen also die Voraussetzung des nicht zufällig Wahrseins anders zu bestimmen. 697
Die kausale Konzeption des Wissens 698
Alvin I. Goldman S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) S s Überzeugung wurde durch die Tatsache, dass p, verursacht. 699
Wahrnehmungswissen Nehmen wir wieder Schmidt. Im ersten Fall hatte er die wahre Überzeugung, dass derjenige, der die Stelle bekommt, zehn Münzen in seiner Hosentasche hat. Diese jedoch wurde nicht von seinen Evidenzen verursacht, sondern beruhte auf einem logischen Schluss, den Schmidt aus seinen Evidenzen zog. Die dritte Bedingung der kausalen Konzeption ist demnach nicht erfüllt gewesen. 700
Probleme 701
Zukunft Ich kann wissen, dass das Wasser im Teekessel kochen wird, wenn ich diesen auf eine heiße Herdplatte stelle. Man kann Wissen über zukünftige Tatsachen haben. Zukünftige Tatsachen können aber keine Ursachen für gegenwärtige Überzeugungen sein. 702
Devianz Die Verursachung der Überzeugung muss von der richtigen Art sein. Luise ist an Masern erkrankt. Die Masern haben zu einer zusätzlichen allergischen Reaktion geführt, welche die Ursache für die kleinen roten Flecken ist, welche in Luise die Überzeugung verursachen, dass sie Masern hat. Zwar ist die Tatsache, dass Luise Masern hat, die Ursache für Luises Überzeugung, dass sie Masern hat, aber hier würden wir nicht von Wissen sprechen. Die allergische Reaktion und ihre Masernerkrankung sind zwei unterschiedliche Phänomene. 703
S weiß, dass p, gdw. (1), (2) und (3) S s Überzeugung mit der Tatsache, dass p, in angemessener Weise kausal verbunden ist. Was genau besagt die Bedingung, dass es sich um eine angemessene kausale Verbindung handelt? 704
Negative Tatsachen? Ich weiß, dass es in der Sahara keine Eisberge gibt. Gibt es auch negative Tatsachen (das Nichtvorhandensein von Eisbergen in der Sahara), die die Ursache für meine Überzeugung sein können, dass es keine Eisberge in der Sahara gibt? 705
Mathematisches Wissen? Ich weiß, dass 7+5=12 ist. Welche Tatsachen könnten Ursache für dieses Wissen sein? 706
Modales Wissen? Ich weiß, dass die Straßen nass wären, falls es geregnet hätte. Es gibt keine modalen Tatsachen. Es hat nicht geregnet. Dass es hätte regnen können, kann also nicht Ursache meiner Überzeugung sein. 707
Die reliabilistische Konzeption des Wissens 708
Frank P. Ramsey 1903-1930 1930 S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p wahr ist; und (3) S auf eine verlässliche Art und Weise zu seiner Überzeugung p gelangt ist. 709
Schmidt ging im ersten Gettier-Fall von der falschen Information aus, dass Müller die Stelle bekommt. Falschinformationen stellen keine verlässliche Weise des Erwerbs für eine Überzeugung dar. 710
Im Scheunen-Attrappen-Fall benutzte Henry zufällig wahren Wahrnehmungen als Basis des Überzeugungserwerbs. Wer sich auf nur zufällig wahre Wahrnehmungen verlässt, kommt nur selten auf wahre Meinungen. 711
Wenn mir eine Wahrsagerin prophezeien würde, dass ich den Hauptgewinn bei einer Tombola ziehe und dies tatsächlich geschieht, dann kann man nicht sagen, ich wusste, dass ich gewinnen werde. Wahrsagerei stellt keinen verlässlichen Prozess des Überzeugungserwerbs dar. 712
Die dritte Bedingung verlangt, dass die Überzeugung durch eine verlässliche Methode zustande gekommen ist. Doch welche Methode ist verlässlich? 713
Eine verlässliche Methode des Meinungserwerbs zeichnet sich dadurch aus, dass die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Methode zu einer wahren Überzeugung zu kommen, hoch (nahe 1) ist. Anzahl der mit einer Methode erworbenen wahren Meinungen Anzahl der Anwendungen der Methode 0 < < 1 714
Verlässlichkeit ist graduell und die Grenze zwischen verlässlichen Methoden und unverlässlichen Methoden ist vage. Es wird immer Fälle geben, bei denen nicht klar ist, ob man eine Methode verlässlich nennen sollte oder nicht. 715
Die Verlässlichkeit einer Methode des Meinungserwerbs ist relativ zu einem gegebenen Zweck. 716
Wahrnehmung ohne technische Hilfsmittel ist eine verlässliche Methode, wenn man an Informationen über mittelgroße Gegenstände in der näheren Umgebung interessiert ist (z.b. ob jetzt ein ein Stück Kreide vor mir liegt). ist keine verlässliche Methode, wenn wir etwas zur Mikrostruktur eines Metalls oder über die Oberfläche eines entfernten Planeten wissen möchten. 717
Wahrnehmung unter Zuhilfenahme komplizierter Instrumente ist eine verlässliche Methode, wenn es sich um Gegenstände handelt, die nur durch den Gebrauch eines technischen Instruments (Mikroskop, Teleskop) wahrnehmbar sind. ist unverlässlich, wenn wir etwas von den mittelgroßen Gegenständen in unserer Umgebung wissen wollen (das Stück Kreide z.b.) oder wenn das Instrument selbst unzuverlässig arbeitet. 718
Wahrnehmung Reliabel in Bezug auf Wissen von mittelgroßen Gegenständen in unserer unmittelbaren Handlungsumgebung 719
Wahrsagerei Im Allgemeinen nicht reliabel 720
Schlussfolgern aus wahren Prämissen Immer reliabel 721
Schlussfolgern aus falschen Prämissen Nicht reliabel 722
Raten/Münze werfen Nicht reliabel 723
Expertenwissen Reliabel in Bezug auf das entsprechende Fachgebiet 724
Alltagserfahrung Reliabel in Bezug auf die entsprechenden Alltagsthemen 725
Träumen Nicht reliabel 726
Zeugenbefragung Reliabilität abhängig von Umständen (Glaubwürdigkeit etc.) 727
Probleme 728
Unbestimmtheit der Methode 729
730
Anna sieht ein Flugzeug in weiter Ferne vorbei fliegen. Weiß sie, dass ein Flugzeug vorbei fliegt? 731
Visuelle Wahrnehmung mit bloßen Augen ist für diesen Fall normalerweise nicht zuverlässig, da das fragliche Objekt zu weit entfernt ist. 732
Aber In vorliegenden Fall bestanden besondere Umstände: die Sicht war außergewöhnlich klar; Anna hatte gerade Augentropfen genommen, die die Fernsicht verstärken; Anna war besonders aufmerksam usw. Alles in allem können wir daher von einem zuverlässigen Wissenserwerb sprechen. 733
Wie sollen wir die angewandte Methode korrekt beschreiben? 734
Maximal: Einbeziehung aller besonderen Umstände. Das führt im Extremfall zu sehr detaillierten Beschreibungen von Einzelfällen. Einzelfälle aber haben keine probabilistischen Eigenschaften, d.h. es kann nicht gesagt werden, ob die angewandte Methode zuverlässig war. 735
Minimal: Weglassung aller Details Das führt allerdings zu einem unbrauchbaren Verhältnis zwischen Reliabilität und Wissen, und dann zu falschen Zuschreibungen von Wissen bzw. Nichtwissen. i 736
Kontextualismus 737
Bert ist Laien-Meteorologe. Am Freitag Nachmittag schließt er aus der Art der Wolken, dem Westwind und noch einigem Anderen mehr darauf, dass es am Samstag regnen wird. Und Bert hat Recht: Am Samstag fällt der erwartete Regen. Als Laien-Meteorologe hat Bert eine reliable Methode der Wetterprognose entwickelt. Er weiß, dass es am Samstag regnen e wird. 738
Erna ist professionelle Meteorologin. Erna stellt genau dieselben Überlegungen wie Bert an. Sie hat aber noch nicht die aktuellen Wetterdaten durchgesehen und antwortet am Freitag Nachmittag auf die Frage, ob sie schon sagen kann, ob es am Samstag regnen wird, korrekt, dass sie das noch nicht wüsste, da sie die entsprechenden Informationen o noch nicht hat. 739
Ein und dieselbe Methode liefert in Bezug auf Berts und Ernas Kontext unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Frage, ob Bert oder Erna wissen, dass es am Samstag regnen wird. Die Standards einer professionellen Wettervorhersage sind anspruchsvoller als die einer Laienvorhersage. 740
S weiß, dass p, gdw. (1) S glaubt, dass p; (2) p ist wahr; und (3) S die im gegebenen Kontext einschlägigen Standards erfüllt. 741
Wodurch wird bestimmt, was die einschlägigen Standards sind? 742
Konventionen Es gibt keine von uns unabhängige Tatsache, die den Standard für Wissen festlegt. Vielmehr legen wir ihn konventionell fest. Es gibt zum einen Konventionen, die die professionellen Meteorologen untereinander teilen, zum anderen Konventionen, die die meteorologischen Laien im Alltag miteinander teilen. 743
Zuschreibungen von Wissen hängen von den zugrundeliegenden Standards ab. Die Auswahl eines Standards hängt vom Kontext ab. Standards werden durch (implizite) Konventionen festgelegt. 744
Was legt den Kontext fest? 745
Erna sitzt am Freitag über ihren meteorologischen Daten und schaut aus dem Fenster. Sie kommt aufgrund ihrer Beobachtungen zu der (wahren) Überzeugung, dass es am Samstag regnen wird. Diese Überzeugung stellt Wissen dar, wenn wir Erna als Laien-Meteorologin betrachten; sie stellt kein Wissen dar, wenn wir Erna als professionelle Meteorologin betrachten. 746
In welchem Kontext befindet Erna sich gerade? 747
Wissen ist relativ zu einem Zuschreiber, dh d.h. derjenigen Person, die beurteilen muss, in welchem Kontext sich jemand befindet, wenn er eine Überzeugung erwirbt. 748
Was der entsprechende Kontext ist, hängt nicht von objektiven Merkmalen der Welt ab, sondern ist betrachterrelativ bzw. perspektivengebunden. 749
Die Relativität des Wissensbegriffs 750
Unter welchen Bedingungen gilt eine wahre Überzeugung als Wissen? 751
Verlässlichkeit Die Beurteilung der Verlässlichkeit des Meinungserwerbs hängt davon ab, wie detailliert wir die verwendeten Methoden beschreiben. 752
Standards Die Zuschreibung von Wissen ist abhängig von den zugrundegelegten Standards. Welchen Standard wir wählen, hängt davon ab, in welchem Kontext wir den Wissenserwerb betrachten. 753
Kontext Die Wahl des Kontexts ist nicht objektiv, sondern perspektivengebunden. 754
Sollten wir den Versuch einer reduktiven Definition des Wissensbegriffs ganz aufgeben? 755