Hitlers Eliten nach 1945 Herausgegeben von Norbert Frei _
Berufes zu befähigen. Mitscherlich reiste mit dem Medizinstudenten Fred Mielke, der Ärztin Alice Gräfin von Platen-Hallermund und drei weiteren Kollegen nach Nürnberg, wo man tagsüber der Verhandlung beiwohnte und abends versuchte, Ordnung in die Flut der Prozeßdokumente zu bringen und eine Auswahl für die geplante Publikation zu treffen. Am 25. Oktober 1946 nahm der Militärgerichtshof in Nürnberg die Anklageschrift»gegen Karl Brandt und andere«entgegen, am 21. November wurde der Prozeß eröffnet. Knapp eineinhalb Jahre nach Kriegsende war das Material für ein zweisprachig zu führendes Verfahren gegen 23 Angeklagte beisammen, in das die Anklage nicht weniger als 32 Zeugen, 570 eidesstattliche Erklärungen, Berichte und Dokumente einbringen sollte. Die Verteidigung führte 30 Zeugen und 901 Beweisstücke ein.angesichts dieser Dimension und der kurzen Vorbereitungszeit kann es nicht verwundern, daß die Auswahl derangeklagten aus heutiger Sicht zum Teil als willkürlich erscheint: Viele andere hätten mit gleichem Recht auf die Anklagebank gehört, doch diejenigen, die dort saßen, waren deshalb nicht die falschen. Einige potentielle Angeklagte standen auch deshalb in Nürnberg nicht vor Gericht, weil die Besatzungsmächte Wissenschaftler abwarben, die ihnen für die Fortentwicklung ihrer Luftfahrttechnik und Luftfahrtmedizin interessant erschienen. Von den 23 Angeklagten waren 20 Ärzte, drei hohe Beamte. Der Schwerpunkt der Anklage lag auf den Menschenversuchen und der KZ-Medizin: 14 von 16 Anklagepunkten bezogen sich auf diesen Bereich. Daneben traten die Komplexe der Sterilisationen und der»euthanasie«in den Hintergrund. Wegen der»euthanasie«-morde angeklagt wurden nur Viktor Brack, stellvertretender Leiter der Kanzlei des Führers, sowie der Hauptangeklagte Karl Brandt, seit 1934 Begleitarzt Hitlers und später als Reichskommissar für das Sanitär- und Gesundheitswesen mächtigster Mediziner des NS-Staates mit unumschränkten Vollmachten. Die Verteidigung stützte sich vor allem auf zwei Argumente: Hinsichtlich der Menschenversuche machte sie die besonderen Umstände der Kriegssituation geltend, denen die Angeklagten hätten Rech- 19
nung tragen müssen. Die wehrmedizinischen Versuche hätten dem Wohl der im Felde stehenden Soldaten und der Verhütung von Infektionskrankheiten gedient; man sei stets davon ausgegangen, daß sich die Versuchspersonen freiwillig zur Verfügung gestellt hätten oder daß es sich um ohnehin zum Tode verurteilte Verbrecher gehandelt habe. Zudem wurde auf die lange Tradition von Humanexperimenten nicht nur in Deutschland verwiesen. Und auch die»euthanasie«rückte die Verteidigung in eine bis in die Antike reichende Tradition: Schon immer seien doch Patienten von unheilbarem Leid erlöst worden. Hitlers Ermächtigungsschreiben sei zudem als gesetzliche Grundlage zu verstehen, die wissenschaftliche Arbeit frei von NS-Ideologie gewesen. Daß mit Karl Brandt ein Arzt an der Spitze der Angeklagten stand, der nicht nur bei Hitler, sondern auch in seiner Zunft großes Ansehen genossen hatte, machte diese Differenzierung zwischen Ideologie und Wissenschaft allerdings nicht plausibler. Das Argument der langen Tradition von Experimenten an Menschen war tatsächlich nicht von der Hand zu weisen. Das Gericht konnte die angeklagten Mediziner deshalb nicht einfach als perverse Sadisten klassifizieren. Es handelte sich immerhin um einige der angesehensten deutschen Wissenschaftler, die darauf beharrten, bei ihren Experimenten habe es sich um seriöse, mit wissenschaftlicher Zielsetzung durchgeführte Versuche gehandelt. Das Gericht war also gezwungen, erst einmal die ethischen Grundlagen der zu fällenden Urteile zu formulieren. Die Richter kamen schließlich zu dem Ergebnis, daß Menschenversuche mit der ärztlichen Ethik vereinbar seien, sofern sie bestimmten Voraussetzungen genügen: Zentral sei, daß die Versuche dem Wohle der Menschheit dienten und die Erkenntnisse auf anderem Wege nicht erreichbar seien. Die Versuchspersonen müßten über die möglichen Folgen aufgeklärt und fähig sein, frei von Zwang ihre Zustimmung zu geben. Ergebnisse aus Tierversuchen müßten ebenso vorliegen wie grundlegende Kenntnisse über das Wesen der fraglichen Krankheit. Unnötige körperliche und psychische Schmerzen seien zu vermeiden, und schließlich dürfe kein Versuch durchge- 20
Vom»Gnadentod«zum Massenmord Die euphemistisch»euthanasie«genannte Tötung von behinderten Kindern und psychisch Kranken bildete den entscheidenden Schritt zur»vernichtung lebensunwerten Lebens«. Nachdem ein betroffenes Elternpaar ein entsprechendes Gesuch an Hitler gerichtet hatte, wurde 1939 mit dem Mord an behinderten Kindern begonnen (»Kindereuthanasie«). Federführend war die Kanzlei des Führers. Ärzte und Hebammen waren verpflichtet, jedes»mißgestaltete Neugeborene«dem»Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden«auf Meldebögen zu benennen, auf deren Grundlage drei Gutachter die Tötungsentscheidung trafen. Die Opfer wurden in sogenannten»kinderfachabteilungen«in Krankenhäusern und Heilanstalten medikamentös getötet, nachdem sie dort eine Weile verwahrt worden waren, um den Eindruck zu vermitteln, sie erführen eine medizinische Behandlung. Auf ähnlicher Täuschung beruhte der Mord an»unheilbar Kranken«, die»aktion T4«(so bezeichnet nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin, dem Sitz der»euthanasie«-zentrale). Mit einem auf den Tag des Kriegsbeginns rückdatierten Schreiben hatte Hitler seinen Kanzleichef Philipp Bouhler und seinen Begleitarzt Karl Brandt ermächtigt,»die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann«. T4-Gutachter entschieden fortan anhand der in den psychiatrischen Anstalten ausgefüllten Meldebögen über das Schicksal der Patienten. Die Opfer wurden in sogenannte Zwischenanstalten verbracht, um nach einiger Zeit in einer von sechs speziellen Tötungsanstalten zunächst durch Injektionen, später durch Gas ermordet zu werden. Anstaltsärzte erfanden leidlich plausible Todesursachen, die den Angehörigen mitgeteilt wurden. Das funktionierte nicht ohne Pannen: Zuweilen erhielten Hinterbliebene zwei Urnen statt einer, oder ein Patient, 21
dem der Blinddarm vor Jahren entfernt worden war, war angeblich an einer Blinddarmentzündung gestorben. Auch die angestrebte Geheimhaltung funktionierte nicht. In der Bevölkerung, besonders in der Umgebung der Tötungsanstalten, regte sich Protest, der vor allem von kirchlichen Stellen artikuliert wurde. Deshalb, aber auch, weil die anvisierte Gesamtzahl von 70 000 Opfern erreicht war, wurde die Aktion im August 1941 offiziell gestoppt. Doch das Morden ging weiter. Die Anstaltsärzte»arbeiteten«nun in eigener Regie und griffen dabei auf medizinisch anmutende Methoden zurück: Statt durch Gas wurden die Patienten durch Injektionen oder mittels Elektroschock getötet; mancherorts ließ man die Kranken auch einfach verhungern. Dieser»wilden Euthanasie«fielen etwa 50 000 Menschen zum Opfer. Mit der»aktion 14 f 13«(benannt nach dem Aktenzeichen in den Unterlagen der Konzentrationslagerinspektion) begann der Mord an Konzentrationslagerinsassen, der 1943 etwa 10 000 bis 20 000 Opfer forderte. KZ-Lagerärzte erfaßten mit Hilfe verkürzter Meldebögen die Todeskandidaten, die von T4-Gutachtern vor Ort gleich gruppenweise»begutachtet«und in T4-Anstalten getötet wurden. Mit der»aktion 14 f 13«weitete sich das»euthanasie«-programm auf Juden, Zigeuner, Polen und andere Opfergruppen aus. Die medizinische Begründung war vollends zur Farce geworden, die Ärzte verzichteten jedoch meist nicht darauf, sich durch weiße Kittel als solche zu präsentieren. Ab Mitte 1943 wurden im Rahmen der bislang noch wenig erforschten»aktion Brandt«auch Bewohner anderer Anstalten, zum Beispiel von Altersheimen, in die Tötungen einbezogen. Die»Aktion Reinhardt«bedeutete den endgültigen Übergang zum organisierten Massenmord in den Vernichtungslagern: T4-Experten und T4-Technik wurden zur Errichtung der ersten Vernichtungslager Belzec, Sobibór und Treblinka bereitgestellt. Am Ende des Weges der Medizin im Dritten Reich standen Ärzte an der Selektionsrampe der Vernichtungslager. 22
führt werden, der den Tod oder irreparable Gesundheitsschäden der Betroffenen nach sich ziehe. Jeder Versuch müsse von wissenschaftlich geschultem Personal nach wissenschaftlichen Prinzipien durchgeführt werden, und die Versuchspersonen müßten jederzeit die Möglichkeit haben, den Versuch abzubrechen. Dieser Kriterienkatalog wird seither als»nürnberger Kodex«bezeichnet. Bei der deutschen Ärzteschaft hat er zunächst allerdings keine nennenswerte Resonanz gefunden, und im Ausland sind später immer wieder Fälle bekanntgeworden, in denen Ärzte Patienten zu zweifelhaften Experimenten herangezogen haben unter Mißachtung der in Nürnberg formulierten Grundsätze. Die Frage, ob die durch die Menschenversuche in Konzentrationslagern gewonnenen Erkenntnisse überhaupt in zukünftige Forschungen Eingang finden dürften, blieb lange Zeit undiskutiert. Faktisch wurden Präparate, die von Opfern der NS-Medizin gewonnen worden waren, an vielen Universitäten in Forschung und Lehre wie selbstverständlich weiter verwendet. Trotz der Probleme, die aus dem Präzedenzcharakter des Nürnberger Verfahrens resultierten, blieb die Prozeßführung objektiv und souverän. Mitscherlichs Kommission befand:»so mußten wir die Geduld und Unvoreingenommenheit des Gerichtshofes bewundern. Hier wurde jedenfalls blinder Haß nicht mit blinder Rache vergolten, vielmehr in einer ernsten Bemühung die Distanz für Reflexion geschaffen.«3 Und an anderer Stelle lobte Mitscherlich:»Die Prozeßführung ist außerordentlich sorgfältig. Geduld und unparteiliche Haltung der Richter, die der Verteidigung jede mögliche Freiheit gewähren, wird jedem Teilnehmer der Verhandlungen Bewunderung abnötigen.«4 Am 20. August 1947 endete der Nürnberger Ärzteprozeß. Sieben Angeklagte wurden zum Tode, sieben zu lebenslangen, zwei zu begrenzten Freiheitsstrafen verurteilt; weitere sieben wurden freigesprochen. Die zum Tode Verurteilten wurden am 2. Juni 1948 in Landsberg hingerichtet. Die zu Zeitstrafen Verurteilten wurden zwischen Februar 1951 und November 1952 begnadigt, schließlich kamen auch die Lebenslänglichen nach und nach frei. 23