Der Produktentstehungsprozess (PEP)

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Transkript:

Der Produktentstehungsprozess (PEP) Jörg Feldhusen und Karl-Heinrich Grote 2 Die industrielle Herstellung von Produkten hat bereits sehr früh zu einer Arbeitsteilung im Rahmen der Produktentstehung geführt. Dieses als Taylorismus bezeichnete Phänomen beschreibt die...systematische Umgestaltung der Arbeit, vor allem in der Form der Spezialisierung (Arbeitsteilung) und Verdichtung (Luczak 1993). Hiervon ist auch die Entwicklung und Konstruktion betroffen. Ein Produkt entsteht also nicht in einem einzigen, großen Schritt, vielmehr in vielen kleinen Schritten, deren Inhalte genau festgelegt und deren Schnittstellen untereinander genau beschrieben sein müssen. Die so entstehende Abfolge von Arbeitsschritten wird als Prozess bezeichnet (EN ISO 9000 2005). Die Gesamtheit aller Prozessschritte wird als Produktentstehungsprozess (PEP) bezeichnet. Er fasst mehrere Arbeitsschritte zum Erreichen eines Teilergebnisses zusammen, von der Produktidee bis zum fertigen Produkt. Im Folgenden sollen einige Grundüberlegungen dargestellt werden. Zum einen warum es überhaupt möglich ist ein physikalisches Produkt gedanklich vorauszuplanen, und zum anderen welche grundsätzlichen Überlegungen es zum Aufbau des PEP bisher gegeben hat. 2.1 Der Prozess des Konstruierens (Jörg Feldhusen, Karl-Heinrich Grote) Der deutsche Begriff konstruieren stammt vom Lateinischen construere ab, was mit aufbauen oder errichten übersetzt werden kann. Zu Beginn der Industrialisierung wurden die Produkte von ein und derselben Person erdacht und hergestellt. Überlegun- J. Feldhusen ( ) Institut für Allgemeine Konstruktionstechnik des Maschinenbaus, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, Steinbachstraße 54 B, 52074 Aachen, Deutschland E-Mail: feldhusen@ikt.rwth-aachen.de K.-H. Grote Institut für Maschinenkonstruktion, Lehrstuhl Konstruktionstechnik Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Postfach 4120, 39016 Magdeburg, Deutschland E-Mail: karl.grote@ovgu.de J. Feldhusen, K.-H. Grote (Hrsg.), Pahl/Beitz Konstruktionslehre, 11 DOI 10.1007/978-3-642-29569-0_2, Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

12 J. Feldhusen und K.-H. Grote Abb. 2.1 Modellhafte Abbildung der Geometrie eines Bauteils (Schweißkonstruktion) durch eine Zeichnung Abb. 2.2 Ein Arbeitsschritt beim Konstruieren Modell (Arbeits-) Methode Produkteigenschaften Daten gen zur Gestaltung wurden also direkt in Bauteile umgesetzt. Die oben angesprochene Arbeitsteilung zwischen dem Erdenken eines Produkts und dessen Herstellung machte eine modellhafte Abbildung der Überlegungen zur Gestaltung des Produkts erforderlich. Zur modellhaften Abbildung der dreidimensionalen Geometrie eines Bauteils werden bis heute zweidimensionale Zeichnungen nach genauen Regeln erstellt, s. Abb. 2.1. Die verschiedenen Eigenschaften eines Produkts werden mit Hilfe sehr unterschiedlicher Modelle wiedergegeben: die Geometrie über Zeichnungen, die Festigkeit über entsprechende Werkstoffgesetze usw. Der Erfolg beim Konstruieren hängt demnach sehr stark von der Wahl des richtigen Modells ab. Um eine Produkteigenschaft spezifisch, also für den gerade betrachteten Fall voraussagen zu können, müssen die allgemeingültigen Modelle mit den für die Anwendung spezifischen Daten versehen werden. In einer Zeichnung beispielsweise sind dies die genauen Abmaße, bei einem Werkstoffgesetz die genauen Werte für die Zugfestigkeit des gewählten Werkstoffs. Ein Arbeitsschritt beim Konstruieren besteht dann darin, das betreffende Modell, welches die betrachtete Eigenschaft abbilden kann, mit den aufgabenspezifischen Werten zu versorgen und zu verarbeiten, um die gesuchte Produkteigenschaft ermitteln zu können. Sehr häufig bedeutet dies beispielsweise, eine Formel (Modell) mit Werten (Daten) zu füllen und auszurechnen, s. Abb. 2.2. In dieser Abbildung ist der Arbeitsschritt als (Arbeits-) Methode bezeichnet. Abbildung 2.3 zeigt eine mögliche Anwendung eines einfachen Modells zur Modellierung der Reibkräfte eines Bauteils. Damit ein Produkt entsteht, muss natürlich eine ganze Reihe solcher kleiner Arbeitsschritte vollzogen werden. Letztlich ist es notwendig, jede Eigenschaft des Produkts durch

2 Der Produktentstehungsprozess (PEP) 13 Abb. 2.3 Ein Arbeitsschritt beim Konstruieren am Beispiel Reibkraft bestimmen F Modell g F R =µf N F N =mg Einsetzen Produkteigenschaften Daten m = 1 kg g = 9,81 m/s 2 μ = 0,2 F R = 0,2 * 1kg * 9,81m/s 2 = 1,962 N F = F R ein entsprechendes Modell mit den zugehörigen Daten in einem Arbeitsschritt nach Abb. 2.2 zu ermitteln. Durch die Summe all dieser Arbeitsschritte wird ein Produkt in all seinen Eigenschaften modellhaft abgebildet. Die Summe aller Arbeitsschritte von der Produktidee bis zur Erzeugung der Fertigungsunterlagen wird als Entwicklungs- und Konstruktionsprozess (EKP), bezeichnet. In Abb. 2.4 ist der Entwicklungs- und Konstruktionsprozess basierend auf den angeführten Überlegungen ausschnittsweise dargestellt. Dabei ist ein Konstruktionsarbeitsschritt n, wie er in der Abb. 2.2 dargestellt ist, gekennzeichnet. Die produktbeschreibenden Daten, die bei der Bearbeitung eines Modells verwendet werden, können, wie z. B. Werkstoffdaten, von außerhalb des Prozesses stammen und werden dann im Rahmen der Bearbeitung der EK-Aufgabe festgelegt. Solche Daten werden als prozessexterne Daten bezeichnet (Feldhusen 1989). Typischerweise entstehen produktbeschreibende Daten aber auch im Prozess selbst als Ergebnis der Verarbeitung eines Modells. Diese Daten werden dann als prozessinterne Daten bezeichnet (Feldhusen 1989). Der EKP kann demnach in seiner abstraktesten Form folgendermaßen beschrieben werden: Hauptaussagen Beim Entwickeln und Konstruieren werden die Produkteigenschaften mit Hilfe von Modellen und Daten abgebildet. Konstruktionsarbeitsschritt n Modellebene Produktmodell n Produktmodell n+1 Methodenebene Methode/ Arbeitsschritt n Methode/ Arbeitsschritt n+1 Datenebene Produktdaten n Produktdaten n+1 Abb. 2.4 Ausschnitt aus dem Entwicklungs- und Konstruktionsprozess, wie er durch die entsprechende Abfolge von produktbeschreibenden Modellen und definierenden Daten entsteht

14 J. Feldhusen und K.-H. Grote Für jede Produkteigenschaft, jeden Prozessschritt gibt es spezifische Modelle (M n ). Zur Erzeugung und Bearbeitung der Modelle (M n ) werden Methoden (AS n ) benötigt. Ziel des Konstruktionsprozesses ist der Aufbau des Produktdatenmodells (PDM), das alle Eigenschaften, technische und wirtschaftliche, eines Produkts festlegt. Die allgemeingültigen Modelle (M n ) werden durch Anwendung von produktspezifischen Daten (P n ) zu Produktmodellen (PM n). Damit kann das Entwickeln und Konstruieren folgendermaßen beschrieben werden: Entwickeln und Konstruieren ist die Überführung des Modells (M n ) der Phase n in das Modell (M n + 1 ) der Phase n + 1 unter Anwendung der Methoden (AS n ) und der Produktdaten (P n ). Dabei werden die Produktdaten (P n + 1 ) erzeugt, s. Abb. 2.4. Zusammen mit den einzelnen Arbeitsschritten zur Herstellung der Komponenten wie Bauteile und Baugruppen und deren Montage zum Gesamtprodukt wird so in der Summe aller Arbeitsschritte der PEP gebildet. Der PEP erfordert also, wie jeder Prozess, Mittel und Tätigkeiten in einer ausreichenden Menge (Lindemann 2005). Zu den Mitteln können z. B. die ausführenden Mitarbeiter gehören, Einrichtungen wie CAD- oder Fertigungsanlagen usw. Erforderlich sind außerdem Methoden zur Nutzung der Mittel. Der Entwicklungs- und Konstruktionsprozess ist in Abhängigkeit von der Komplexität des Produkts, auf den er sich bezieht, häufig selbst sehr komplex. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurden deshalb Anstrengungen unternommen, diesen Prozess zu systematisieren und mit Hilfe von unterstützenden Arbeitstechniken, den Methoden, zielgerichtet ausführen zu können. So wurde im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eine Konstruktionsmethodik entwickelt, die dies leisten soll und kann. Die folgende Darstellung der Entwicklung der Konstruktionsmethodik stellt eine Zusammenfassung von Bender (2004, Kapitel 2) dar. Eine sehr gute und ausführliche Darstellung findet sich auch in Heymann (2005). Bereits sehr früh wurde versucht, einen allgemein gültigen EKP modellhaft abzubilden. Die ersten Überlegungen hierzu machte Reuleaux (1875) zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Er stellte ein modellhaftes Verfahren zur kinematischen Synthese vor. Erste Ansätze zu einem systematisch strukturierten EKP hat Wögerbauer geliefert (Wögerbauer 1943). Er betont bereits die Bedeutung einer geklärten Aufgabenstellung und geht von mehreren Lösungsalternativen sowie einer Lösungsauswahl auf Basis einer Bewertung aus, s. Abb. 2.5. Mit den Hauptschritten seines Modells des Entwickelns und Konstruierens nennt er im Wesentlichen bereits die Hauptschritte des späteren Modells des EKP. Zusammenfassend kommen dabei folgende Hauptarbeitsschritte vor: Aufgabeklären, Lösungsidee entwickeln, Bewerten der Lösung, Verbessern der Lösung und Erstellen der Herstellungsunterlagen.

2 Der Produktentstehungsprozess (PEP) 15 Abb. 2.5 Konstruktionsprozess nach Wögerbauer (1943) Wögerbauer beschreibt mit seinem Prozessmodell die wesentlichen Arbeitsschritte der Konstruktionstechnik, die sich zusammenfassen lassen als: Vom WAS zum WIE Wesentliche Erkenntnisse der Konstruktionsmethodik finden sich jedoch noch nicht in seinem Prozessmodell. Insbesondere fehlen noch folgende Arbeitsschritte: Dielösungsneutrale Beschreibung der Aufgabenstellung, Diesystematische Lösungsentwicklung, z. B. auf Basis physikalischer Zusammenhänge, Diesystematische Erzeugung von Lösungsalternativen und die systematische Bewertung der Lösungsalternativen. Einen ähnlichen Ansatz wie Wögerbauer hat Kesselring (1954). Er fokussiert in seinem Prozessmodell auf drei Aspekte: Die Erfindungslehre: In diesem Prozessabschnitt wird die Lösung für ein technisches Problem generiert. Hierfür werden Wege zur gezielten Gewinnung von Erfindungen beschrieben.

16 J. Feldhusen und K.-H. Grote 4 3 Optimales Arbeitsprinzip Wertigkeitsvergleich Verbessertes Arbeitsprinzip Fehlerkritik 2 Arbeitsprinzip Kombination von Lösungselementen Aufgabe 1 Grundprinzip Vorüberlegungen Abb. 2.6 Hauptprozessschritte nach Hansen (1965) Die Gestaltungslehre: Dies ist der Prozessabschnitt, innerhalb dessen das Konzept auf Basis von Gestaltungsprinzipien konstruktiv ausgeführt wird. Die Formungslehre: Dieser Prozessabschnitt dient der wirtschaftlichen Betrachtung der Konstruktion. Kesselring schlägt also, insbesondere durch die Formungslehre, Prozessabschnitte des EKP vor, wie sie auch heute einen Schwerpunkt bei der Konstruktion bilden. Hansen (1965) schließlich sieht die systematische Lösungsentwicklung und -erweiterung als Prozessschritte vor, s. Abb. 2.6. Damit legt er die wichtigen Grundlagen der Konstruktionsmethodik. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen haben dann ab ca. 1970 Rodenacker (1991), Roth et al. (1971), Hubka (1976), Koller (1976) und Pahl und Beitz (1977) die einzelnen Arbeitsschritte des EKP in sehr ähnlicher Weise definiert. Beispielhaft für diese entwickelten Prozessmodelle soll hier das Modell von Pahl und Beitz (1977) wiedergegeben werden (s. Abb. 2.7), das sich in verschiedene Hauptarbeitsschritte gliedert. Diese verschiedenen Prozessmodelle fanden dann Eingang in der VDI 2221 (1986). In ihr wurden erstmalig die bisherigen Erkenntnisse zum EKP in einem allgemeingültigen Prozessmodell des Entwickelns und Konstruierens zusammengefasst, s. Abb. 2.8. Sowohl Abb. 2.7, insbesondere aber der Prozess nach der VDI 2221 (1993), s. Abb. 2.8, machen deutlich, dass der EKP normalerweise nicht innerhalb eines Durchlaufs zu befriedigenden Ergebnissen führt. Häufig müssen erste Ergebnisse verbessert und korrigiert werden. Dieses iterative Vor- und Rückspringen, wie es in Abb. 2.8 dargestellt ist, spiegelt indirekt den notwendigen Kontrollprozess als einen Teil des EKP wieder. Es ist also erforderlich, in möglichst kurzen Abständen (kurzer Regelkreis) die Ergebnisse daraufhin zu prüfen, ob sie den geforderten Vorgaben entsprechen.

2 Der Produktentstehungsprozess (PEP) 17 Abb. 2.7 Hauptprozessschritte des EKP nach Pahl und Beitz (1977)

18 J. Feldhusen und K.-H. Grote Abb. 2.8 Generelles Vorgehen beim Entwickeln und Konstruieren (VDI 2221 1993) Dieses Vorgehen wurde zu Beginn der 1990er Jahre insbesondere in der Softwareentwicklung zum Standard und hat auch im Maschinenbau Eingang gefunden. In Abb. 2.9 ist dieses sog. V-Modell des EKP für die Mechatronik nach VDI 2206 (VDI-Richtlinie 2206 2004) wiedergegeben. Die dort dargestellte Eigenschaftsabsicherung entspricht dabei dem oben beschriebenen Kontrollprozess und sorgt für einen kurzen Regelkreis. EsgibtabereinenweiterenAspektimRahmen der Produktentwicklung und Konstruktion, der nur sehr unzureichend bei den bisher dargestellten Prozessmodellen berücksichtigt ist. Es handelt sich dabei um die Abhängigkeit der Entwicklungs- und Konstruktionsergebnisse von den vorgefundenen Rahmen- und Randbedingungen. Beispielsweise muss häufig bereits eingekauftes und sonst nicht verwendbares Material wenn möglich bei einem aktuellen Projekt genutzt werden. Dies führt evtl. zu einer nicht optimalen Gestaltung, ist aber wirtschaftlich für das Unternehmen von Vorteil. Man kann also feststellen:

2 Der Produktentstehungsprozess (PEP) 19 Abb. 2.9 Modell des EKP (VDI-Richtlinie 2206 2004) Anforderungen Produkt Systementwurf Eigenschaftsabsicherung Systemintegration Domänenspezifischer Entwurf Maschinenbau Elektrotechnik Informationstechnik Modellbildung und -analyse Eine Konstruktion ist nur so gut, wie es die Rahmenbedingungen zulassen. Ehrlenspiel (2009) bezeichnet dieses Vorgehen beim Entwickeln und Konstruieren, bei dem die vorhandenen Rahmenbedingungen und die Bedürfnisse aller Unternehmensteile berücksichtigt werden, als integrierte Produktentwicklung. Alle bisher wiedergegebenen Modelle des EKP stellen einen sequenziellen Ablauf der einzelnen Prozessschritte dar. In der Praxis ist dies natürlich nicht der Fall. Dies hat verschiedene Gründe: 1. Wie bereits oben erläutert, ist im Sinne eines Regelkreises eine kontinuierliche Überprüfung der Arbeitsergebnisse mit den Vorgaben erforderlich. In der Praxis werden dabei meistens nicht optimale Ergebnisse durch eine weitere Iterationsschleife im Prozess verbessert. Es wird also zurückgesprungen zu einem früheren Prozessschritt. 2. Teilprozesse, insbesondere die Beschaffung von Material betreffend, werden ebenfalls in der Praxis häufig vorgezogen. Bauteile oder Material mit langen Lieferzeiten müssen bestellt werden, bevor die Konstruktion abgeschlossen ist, um einen gegebenen Terminplan einhalten zu können. 3. Im Sinne der Abb. 1.1 ist für viele Produkte die Time to Market für den Erfolg entscheidend. Deshalb wird heute versucht, möglichst alle Prozessteile des EKP parallel ablaufen zu lassen, s. Abb. 2.10. Abbildung 2.10 gibt ein Grobmodell eines überwiegend parallel ablaufenden EKP wieder. Da der konzeptionelle Aufbau des Gesamtsystems geklärt sein muss, ist die Erarbeitung des Systementwurfs zu Beginn erforderlich. Damit liegen die Subsysteme 1 bis n fest. Deren Konzepte können dann parallel zueinander erarbeitet werden, bevor jeweils die einzelnen Komponenten und Bauteile konstruiert werden. Letzteres kann dann ebenfalls wieder parallel zueinander erfolgen. Abbildung 2.10 verdeutlicht, dass es einen vollkommenen

20 J. Feldhusen und K.-H. Grote System- Entwurf Subsystem 1 Bauteil A Bauteil B Subsystem 2 Bauteil G Bauteil H Subsystem n Bauteil O Bauteil P Abb. 2.10 Modell eines EKP mit weitgehend parallel ablaufenden Arbeitsschritten parallelen Ablauf aller Arbeitsschritte nicht geben kann, abgesehen von Wiederholkonstruktionen. Bei allen anderen Entwicklungs- und Konstruktionsarten, wie sie später behandelt werden, müssen zuerst die Gesamt- und Subsystemkonzepte erarbeitet werden. In dem Kapitel zur Rationalisierung des EKP wird auf weitere einzuhaltende Randbedingungen und Anforderungen für einen weitgehend parallelen Prozessablauf eingegangen. Es soll darauf hingewiesen werden, dass aufgrund des parallelen Ablaufs von Prozessschritten nur die Projektdauer, also wie oben erwähnt die Time to Market, verkürzt werden kann. Die Projektkosten bleiben mindestens gleich. Meistens erhöhen sie sich sogar aufgrund der komplexeren Projektkoordinierungsanforderungen. Alle bisher vorgestellten Modelle des EKP bilden die Realität natürlich nur teilweise und ungenau ab und haben jeweils spezifische Schwächen. Das Modell nach Hansen z. B. berücksichtigt die Iteration nicht, s. Abb. 2.6. Das Modell nach VDI 2221 (1993), s. Abb. 2.8, geht von einem sequenziellen Vorgehen aus. Lindemann (2007) schlägt deshalb ein netzartiges Modell vor, s. Abb. 2.11. Es berücksichtigt, dass in der industriellen Praxis häufig von ersten Lösungen, meistens von Vorgängerprodukten, ausgegangen wird. Die so erarbeiteten Gesamtlösungen werden dann im Sinne des V-Modells nach Abb. 2.9 mit den gesetzten Zielen verglichen und, wenn notwendig, optimiert. Es wird also demnach nicht rein sequenziell oder parallel gearbeitet. Vielmehr wird zwischen den einzelnen Schritten des EKP hin und her gesprungen. Der Startpunkt des Prozesses muss dabei nicht zwangsläufig die Zielanalyse nach Abb. 2.11 sein. Dieses Prozessmodell ist nicht auf die maximale Effizienz des Vorgehens ausgerichtet. Insbesondere wenn mit vorhandenen Lösungen gestartet wird, besteht die Gefahr unnötiger Iterationsschritte, wenn die Eigenschaften der vorhandenen Lösung nicht mit eindeutigen Zielen abgeglichen werden können, da das Ziel noch nicht oder nur teilweise festgelegt wurde. Dieses Problem taucht in der Praxis häufig auf und führt in vielen Fällen zu Fehl-

http://www.springer.com/978-3-642-29568-3