Allgemeinmedizin in einem modernen Gesundheitssystem Konsequenzen für Forschung, Lehre und Praxis 1 (Teil 2) 2



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ZaeFQ IM BLICKPUNKT Allgemeinmedizin in einem modernen Gesundheitssystem Konsequenzen für Forschung, Lehre und Praxis 1 (Teil 2) 2 Ferdinand M. Gerlach Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Kiel ZUSAMMENFASSUNG Im zweiten Teil dieses Beitrags wird am Beispiel einer standardisierten Angina pectoris- Anamnese die unterschiedliche Aussagekraft medizinischer Diagnostik in Abhängigkeit von der Versorgungsebene (allgemeinmedizinische Praxis, kardiologische Ambulanz, Universitätsklinik) beschrieben. Trotz exakt gleicher Beschwerden ist die Wahrscheinlichkeit für das tatsächliche Vorliegen einer koronaren Herzkrankheit infolge unterschiedlicher Prävalenzen (Vortestwahrscheinlichkeiten) jeweils höchst unterschiedlich. Die jeweilige Nachtestwahrscheinlichkeit lässt sich mit Hilfe des Bayes-Theorems erklären und errechnen. Dabei wird u.a. deutlich, warum Allgemeinärzte bei der Übernahme von Empfehlungen vorsichtig sein müssen, wenn die Empfehlungen auf Studien beruhen, die an Patienten in spezialisierten Versorgungseinrichtungen durchgeführt wurden. Als Konsequenz aus den dargestellten Überlegungen und empirischen Befunden wird schließlich besser verständlich, was Allgemeinmedizin nicht ist und welche Perspektiven sich daraus in Forschung und Lehre bzw. für die Praxis ergeben. Sachwörter: Allgemeinmedizin, hausärztliche Versorgung, rationale Diagnostik, Bayes- Theorem, Praxisepidemiologie, Angina pectoris, koronare Herzerkrankungen ANGINA PECTORIS: WIE WAHR- SCHEINLICH IST EINE KHK? Viele Kardiologen betonen, dass Angina pectoris zu den besten Prädiktoren der koronaren Herzkrankheit (KHK) gehört. Der Zusammen- 1 Gekürzte und überarbeitete Fassung der Antrittsvorlesung vor der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 20.06.2001 (weitere Informationen: www.allgemeinmedizin.uni-kiel.de). Eine Vielzahl wertvoller Hinweise und Anregungen wurde von Herrn Dipl.-Soz. Martin Beyer beigetragen. 2 Teil 1 dieses Beitrages ist in der vorangegangenen Ausgabe der ZaeFQ (96) 4: 245 251 erschienen. hang zwischen Angina pectoris und einer manifesten KHK ist auch in einer wegweisenden Studie von Sox et al. untersucht worden 3. Die Ergebnisse wurden 1990 im American Journal of Medicine veröffentlicht. Hier waren zunächst 211 Patienten mit intermittierendem Brustschmerz bzw. Angina pectoris untersucht worden, und zwar in der kardiologischen Klinik der Stanford University, wohin diese Patienten zur Durchführung einer koronarangiographischen Untersuchung eingewiesen 3 Anhand dieser Studie begründete der Kardiologe Praetorius die Notwendigkeit eines diagnoseführenden Arztes (5). worden waren. Die Patienten wurden standardisiert nach ihrer Angina pectoris-symptomatik gefragt. Auf der Basis der koronarangiographischen Befunde dieser Eichstichprobe und der angegebenen Angina pectoris-symptome wurde schließlich eine logistische Regression errechnet. Das Ergebnis ist in Tabelle 1 dargestellt. Alle hier aufgeführten klinischen Merkmale erwiesen sich als unabhängige Prädiktoren einer KHK. Die errechneten (exakten) Koeffizienten stellen die jeweiligen Faktoren dar, mit denen die Einzelmerkmale das tatsächliche Vorliegen einer koronaren Herzkrankheit wahrscheinlicher machen. Die Koeffizienten wurden zu einem Score gerundet, der von 0 keine Angina pectoris bis 25 Punkte alle Merkmale einer Angina pectoris reicht. Wendet man diesen Score beispielhaft auf eine fiktive Patientin an Frau Müller und unterstellt, diese klage über Belastungsangina (4 Punkte), berichtet über einen früher einmal geäußerten Infarktverdacht (4 Punkte), muss, wenn sie Angina pectoris hat, ihre Belastung abbrechen (3 Punkte), und beschreibt eine Besserung der Beschwerden nach Nitro-Spray (2 Punkte), dann würde diese Patientin 13 von 25 Punkten erreichen. Wie aufgrund der Methodik nicht anders zu erwarten, fanden Sox et al. in der Eichstichprobe aus ihrer Uni- 307

Tabelle 1. Angina pectoris-score (nach 7). Klinische Merkmale exakter gerundeter Koeffizient Koeffizient (n = 211) (score: 0 25) Alter über 60 +2,85 +3 Belastungsangina +4,26 +4 Infarktverdacht in der Anamnese +3,90 +4 Belastungsabbruch wegen AP +2,76 +3 Nitratpositiv +1,93 +2 Raucher (> 20 pack-years) +3,93 +4 männliches Geschlecht +5,37 +5 maximale Punktzahl 25 = kardiologische Universitätsklinik, n = 170 (Stannord University + Palo Alto VA Medical Center) = kardiologische Ambulanz, n = 404 (Palo Alto Veterans Administration Medical Center) = allgemeinmedizinische Ambulanz, n = 28n (Kaiser-Permanente Medical Center) * = p < 0,05 zwischen Eichstichprobe und Ambulanzen Abb. 1. Aussagekraft einer standardisierten Anamnese in verschiedenen Versorgungsbereichen (nach 7). 13 versitätsklinik eine lineare Beziehung zwischen der Höhe des Scores pectanginöser Beschwerden und der Wahrscheinlichkeit, tatsächlich an einer KHK zu leiden. AUSSAGEKRAFT EINES ANGINA PECTORIS-SCORES IM ALLTAG Sox und Mitarbeiter wollten nun wissen, wie aussagekräftig dieser Score im Alltag ist. Der Score wurde daher anhand eigener Patienten noch einmal kontrolliert, und diesmal zusätzlich auch in der eigenen kardiologischen Ambulanz und in allgemeinmedizinischen Praxen angewendet. Es ging dabei um die Frage, ob der Angina pectoris-score dort ebenfalls geeignet ist, zuverlässig auf das Vorliegen einer koronaren Herzkrankheit zu schließen. In Abbildung 1 ist oben der Score dargestellt, aufgeteilt in fünf Gruppen, ansteigend von 0 4, 5 9 usw. Unten (Abszisse) wird die KHK- Prävalenz in der Eichstichprobe wiedergegeben, die linear mit dem Score korrelierte. Links (Ordinate) findet sich der Maßstab für die tatsächliche KHK-Häufigkeit in verschiedenen Versorgungsbereichen. Man erwartet, dass Patienten mit einem niedrigen Score auch eine niedrige KHK-Prävalenz haben, und wenn jemand z.b. 25 Punkte erreicht, dann wäre eine sehr hohe KHK-Häufigkeit anzunehmen. Es müsste sich also in verschiedenen Versorgungseinrichtungen ein Zusammenhang finden lassen, der durch eine (gerade) Linie ausgedrückt wird. Diese Linie müsste, bezogen auf die Skala links (Ordinate), von links unten nach rechts oben ansteigen. In der eigenen kardiologischen Universitätsklinik (Stanford University, Palo Alto), wo 170 Patienten untersucht wurden, waren die Ergebnisse auch sehr nahe an der Erwartung. Alle Messpunkte (in Herzform dargestellt) liegen in der Nähe dieser erwarteten Linie. In der kardiologi- 308

schen Ambulanz wichen die ermittelten Werte (Dreiecke) bereits deutlich ab, in den beteiligten Allgemeinpraxen (Kreisform) sogar noch wesentlich stärker. HÖCHST UNTERSCHIEDLICHE WAHRSCHEINLICHKEIT EINER KHK JE NACH VERSORGUNGSEBENE Bei genauerer Betrachtung der Score-Gruppe, in welche die oben skizzierte Beispielpatientin (Frau Müller) mit ihren 13 Score-Punkten fallen würde, ergibt sich folgendes Bild: Bei Frau Müller bestünde, wenn sie in die kardiologische Universitätsklinik eingewiesen wurde, eine Wahrscheinlichkeit von 70%, dass sie tatsächlich eine koronare Herzkrankheit hat. Wenn eine andere Patientin mit den exakt gleichen Beschwerden, d.h. mit der gleichen Angina pectoris-symptomatik, in die kardiologische Ambulanz kommt und dort durch eine standardisierte Anamnese folglich auch der gleiche Score (13 Punkte) ermittelt wird, besteht bei dieser Patientin trotzdem nur noch eine Wahrscheinlichkeit von 21% für das Vorliegen einer KHK. Erscheint eine Patientin mit den exakt gleichen Beschwerden in einer Allgemeinpraxis, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit sogar nur noch 10%! Das bedeutet konkret, wenn ein Allgemeinarzt eine Patientin mit dieser Symptomatik hat und diese zur Koronarangiographie schicken würde, dann schickt er 9 Patientinnen umsonst. Sein Verdacht auf Vorliegen einer KHK infolge einer standardisierten Anamnese wäre mit 90%iger Wahrscheinlichkeit falsch. Nur eine seiner Patientinnen hat tatsächlich eine koronare Herzkrankheit. Der Kardiologe in der Universitätsklinik hat bei Patienten mit den exakt gleichen, standardisiert erhobenen Angina pectoris-beschwerden eine siebenfach höhere Wahrscheinlichkeit, dass sein Patient oder seine Patientin eine koronare Herzkrankheit hat. DAS BAYES-THEOREM ERKLÄRT DIE UNTERSCHIEDE Interessant ist natürlich die Frage, wie sich diese Unterschiede überhaupt erklären lassen? Sie erscheinen zwar sensationell, aber sie lassen sich mit Hilfe des Bayes-Theorems 4 ganz klar und eindeutig erklären. Die hier festgestellten Unterschiede ergeben sich nämlich aus der unterschiedlichen Prävalenz der koronaren Herzkrankheit vor der Anamnese, der Prätestwahrscheinlichkeit. Diese betrug in der kardiologischen Universitätsklinik ca. 75%. Dort waren die Patienten durch gezielte Einweisung von Hausärzten und niedergelassenen Kardiologen schon so selektiert und verdichtet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient tatsächlich eine koronare Herzkrankheit hat, von vornherein viel höher war. Wie hier erkennbar, sogar sehr viel höher als in der eigenen für Patienten leichter zugänglichen kardiologischen Ambulanz. Dort betrug die Prävalenz nur noch 33%. In der Allgemeinpraxis, wo Patienten mit Brustschmerzen unterschiedlichster Genese weitgehend unselektiert gesehen werden, lag die Prävalenz noch einmal vierfach niedriger: bei lediglich 8%. Hausärzte wissen, dass pectanginöse Beschwerden die unterschiedlichsten (z.b. psychogenen oder vertebragenen) Ursachen haben können und würden sich nicht allein auf einen solchen Score verlassen. Sie würden vielmehr zahlreiche weitere Umstände in ihre klinische Beurteilung und Beratung einbeziehen und ggf. eine weitere Stufendiagnostik zwischenschalten, bevor sie einer Patientin wie Frau Müller zur invasiven Diagnostik raten würden. Um so mehr sind die Ergebnisse dieser Studie für sie jedoch wichtig. Sie verdeutlichen das Zusammenspiel zwischen (typischerweise niedriger) Hintergrundprävalenz vieler Erkrankungen in der Hausarztpraxis und 4 Vgl. Erläuterung in Teil 1 dieses Beitrags. der Bedeutung eigener Abklärungsschritte für das Gelingen der hausärztlichen Siebfunktion sowie ggf. gezielter Veranlassung spezialisierter Diagnostik. ERSTE FOLGERUNGEN Aus den bisherigen Überlegungen und Ergebnissen lassen sich einige erste Folgerungen ableiten. 1. Wenn ein Arzt bei seinem Patienten eine typische Symptomatik feststellt, dann weisen die klinischen Befunde auf das Vorliegen einer definitiven Erkrankung mit einer quantifizierbaren Wahrscheinlichkeit hin, die von der Prävalenz dieser Erkrankung unter allen Patienten dieses Arztes abhängt, welche die gleiche Symptomatik haben. In allgemeinärztlichen Praxen herrschen damit völlig andere Verhältnisse als in spezialisierten Bereichen. Dieser Zusammenhang ist sehr wichtig für das Verständnis der unterschiedlichen Fälleverteilung und hat zwangsläufig gravierende Konsequenzen für eine rationale Diagnostik und Therapie. Es wäre fahrlässig, ja gefährlich und teuer zugleich, alle Patienten, egal, wo sie versorgt werden, auf die gleiche Weise zu diagnostizieren und zu therapieren. Entsprechende Forderungen, die in Unkenntnis dieser Zusammenhänge immer wieder erhoben werden, müssen daher strikt zurückgewiesen werden. 2. Die Nachtestwahrscheinlichkeit lässt sich mit Hilfe des Bayes-Theorems erklären und errechnen. Dafür muss neben der Sensitivität und der Spezifität eines Tests zwingend auch die Vortestwahrscheinlichkeit (Prävalenz) der gesuchten Erkrankung bekannt sein. Das ganze Ausmaß der resultierenden Unterschiede wird deutlich, wenn man bedenkt, dass nur etwa 0,5 bis 1% aller Patienten in Universitätskliniken versorgt werden. Diese stark selektierte Gruppe ist derzeit das bevorzugte Objekt wissen- 309

schaftlicher Untersuchungen. Gleichzeitig suchen weit über 50% der Bevölkerung(!) im Laufe eines Jahres eine allgemeinmedizinische Praxis auf. Um Patienten in Allgemeinpraxen vor Überdiagnostik und falschpositiven Befunden sowie einer daraus resultierenden unnötigen, teuren und unter Umständen komplikationsträchtigen Ausschlussdiagnostik schützen zu können, sind dringend praxisepidemiologische Studien erforderlich. Wenn nicht bekannt ist, wie häufig die Erkrankung in einer allgemeinmedizinischen Praxis tatsächlich vorkommt, wenn diese Zusammenhänge also überhaupt nicht berücksichtigt werden können, kann keine fundierte Beratung betroffener Patienten stattfinden. 3. Allgemeinärzte müssen deshalb bei der Übernahme von Empfehlungen vorsichtig sein, wenn die Empfehlungen auf Studien beruhen, die an Patienten in spezialisierten Versorgungseinrichtungen durchgeführt wurden. Um im individuellen Einzelfall überhaupt angemessene Entscheidungen treffen zu können, muss ein Allgemeinarzt das Nutzen-Risiko- Verhältnis wichtiger diagnostischer und therapeutischer Interventionen in seiner Praxis abschätzen können und mit seinen Patienten darüber kommunizieren. Autonome und kritische Patienten erwarten, und zwar zu Recht, dass sie über diese Zusammenhänge aufgeklärt werden. Eine besondere Schwierigkeit besteht natürlich darin, dass es dabei immer auch darum gehen muss, abwendbar gefährliche Verläufe zu erkennen und abzuwenden. Insbesondere bestimmte Warnzeichen ( red flags ), die auf eine erhöhte Patientengefährdung schließen lassen, müssen daher beachtet werden. Es gehört zu den Basisanforderungen an jeden Allgemeinarzt, hier eine reflektierte Abwägung von Nutzen und Risiken vorzunehmen und letztlich unvermeidbare Unsicherheit gemeinsam mit seinen Patienten auch aushalten zu können. Dabei ist es übrigens oftmals genau so wichtig, den individuellen Menschen zu kennen, der eine bestimmte Erkrankung haben kann, wie die individuelle Erkrankung, die ein bestimmter Mensch haben kann. BESSER VERSTÄNDLICH: WAS ALLGEMEINMEDIZIN NICHT IST Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls besser nachvollziehbar, was Allgemeinmedizin nicht ist. Allgemeinmedizin ist nicht von allem etwas also eine Art Allroundmedizin, womöglich noch verbunden mit dem Omnipotenzanspruch umfassender Zuständigkeit und Kompetenz. Allgemeinmedizin ist auch nicht die Summe aller Spezialfächer, welche lediglich die bloße Anwendung medizinischen Wissens unter den niedrigen Bedingungen der Praxis zur Aufgabe hätte. Allgemeinmedizin ist auch nicht das, was nach Abzug aller Spezialgebiete übrig bleibt, also nicht im Sinne einer Negativdefinition eine Medizin ohne spezielle Aufgaben, Methoden und Techniken. Allgemeinmedizin und ihre Aufgabe lässt sich vielmehr positiv definieren: In einem modernen Gesundheitssystem werden Generalisten gebraucht, die als Spezialisten für spezifische Aufgaben in der Basisversorgung der Bevölkerung aus-, weiter- und fortgebildet worden sind. Damit wird noch einmal sehr deutlich, was in der in Teil 1 dieses Beitrags vorgestellten neuen Definition des Faches (4) gemeint ist: The GP is a specialist trained to work in the frontline of a health care system ( ). SCHLUSSFOLGERUNGEN Die dargestellten Zusammenhänge müssen Konsequenzen für Lehre, Forschung und Praxis der Allgemeinmedizin haben. Bereits die universitäre Ausbildung zum Arzt und nicht erst die Weiterbildung muss der konkreten Vorbereitung auf den Beruf dienen. Viele Allgemeinärztinnen und -ärzte haben den sprichwörtlichen Praxisschock zweimal erlebt: einmal beim Übergang von der Universität in die Klinik, und dann, fast noch drastischer, von der Klinik in die Praxis. Das gilt auch für Fachspezialisten anderer Disziplinen. So haben Hochschullehrer an einer öffentlichen Universität einen gemeinsamen gesellschaftlichen Auftrag. Dieser besteht u.a. darin, zukünftige Ärztinnen und Ärzte optimal auf die Versorgungsprobleme vorzubereiten, die sie später lösen müssen. Die gesundheitliche Basisversorgung der Bevölkerung gehört hier unzweifelhaft dazu. Deshalb müssen typische Versorgungsprobleme und Handlungsstrategien, die in der Praxis häufig sind, in der Universitätsklinik jedoch fast nie gesehen werden, angesichts ihrer faktischen Bedeutung frühzeitig Eingang in die Ausbildung finden. Damit Studierende z.b. einen typischen, unkomplizierten Verlauf einer Otitis media sehen können, müssen sie in den Praxen von Allgemeinoder Kinderärzten hospitieren. Das Lehrangebot muss die Bedeutung und die Spezifika der Allgemeinmedizin angemessen berücksichtigen. Damit würde auch der Bedeutung der Allgemeinmedizin in der Approbationsordnung Rechnung getragen. Vielfach ist nicht bekannt oder akzeptiert, dass die Allgemeinmedizin seit 1979 Pflichtfach und Prüfungsfach im II. Abschnitt der Ärztlichen Prüfung ist. Der vorliegende Entwurf einer neuen Approbationsordnung sieht vor, dass die Allgemeinmedizin insgesamt einen höheren Anteil im Curriculum (u.a. als fakultatives PJ-Fach) bekommt und ein obligatorisches Blockpraktikum in allgemeinmedizinischen Praxen für alle Studierenden eingeführt wird. Die in diesem Beitrag vorgestellten Überlegungen weisen eindring- 310

lich auf die Notwendigkeit eigenständiger Forschungsvorhaben unter den Alltagsbedingungen allgemeinmedizinischer Praxen hin, die generell intensiviert werden müssen. Insbesondere die Bedeutung hierzulande weitgehend fehlender praxisepidemiologischer Studien wird durch die Beispiele unterstrichen. Genauere Untersuchungen der unterschiedlichen Bedingungen in Klinik und Praxis sowie der daraus resultierenden Barrieren zur Umsetzung von Forschungsergebnissen können dazu beitragen, dass primäre Forschungsergebnisse letztlich auch beim Patienten ankommen, d.h. in der täglichen Praxis zu Veränderungen des konkreten Handelns und klinischen Verbesserungen führen (1, 3, 6). Dabei können auf die Bedingungen allgemeinmedizinischer Praxen zielende Leitlinien, wie sie die wissenschaftliche Fachgesellschaft DEGAM entwickelt (2), bzw. daraus abgeleitete regional angepasste Versorgungspfade hilfreich sein. Als Konsequenz für die allgemeinmedizinische Praxis ist die Bereitstellung von Wissen und Praxishilfen notwendig, damit Allgemeinärzte als Spezialisten für die erste Linie des Versorgungssystems eine möglichst optimale Unterstützung erhalten. Allgemeinärzte sollen zukünftig noch besser einschätzen können, was sie tun und auf welcher Grundlage sie dies tun. Damit Allgemeinärzte ihre Patienten umfassend (bio-psycho-sozial) betreuen können, müssen sie optimal mit anderen Versorgungssektoren, also Fachspezialisten, Kliniken, usw. kooperieren. Allgemeinärzte brauchen gute Kooperation. Unter Berücksichtigung von Ergebnissen der Praxisforschung ist daher ein klar gegliedertes Versorgungssystem mit sauber definierten Funktionen und Zuständigkeiten sowie eine darauf basierende gute Kooperation wünschenswert. Auch ein langer Weg beginnt mit dem ersten Schritt (Lao-tse, ca. 6. Jh. v. Chr.) ABSTRACT General Practice in a Modern Health Care System The Consequences for Medical Research, Education and Practice (Part 2) Exemplified by studies on the predictive value of standardised history taking of angina pectoris, part 2 of this contribution describes the different significance of medical diagnostics in dependency from different levels of the health care system (general practice, cardiologic drop-in clinic, university hospital). Because of different prevalences (pre-test probability) and in spite of exactly the same symptoms the probability of actual coronary heart disease is highly different. The specific post-test probability can be explained and calculated by Bayes theorem. It becomes evident why general practitioners have to be cautious in adopting recommendations, if those recommendations are based on studies which were done with patients in specialised health care settings. As a consequence from the reflections and empirical findings presented, it becomes better comprehensible what general practice is not and which perspectives for research, education and practice are resulting. Key Words: general practice/family medicine, primary health care, rational diagnostics, Bayes theorem, epidemiology, angina pectoris, coronary heart disease in practice LITERATUR 1. Dickinson E, Deighan M (1999) Collaboration and communication the millenium agenda for clinical improvement? Int J Qual Health Care 11: 279 281 2. Gerlach FM, Beyer M, Berndt M, et al (1999) Das DEGAM-Konzept Entwicklung, Verbreitung, Implementierung und Evaluation von Leitlinien für die hausärztliche Praxis. Z ärztl Fortbild Qual sich 93:111 120 3. Institute of Medicine (Hrsg.) (2001) Crossing the Quality Chasm. Washington 4. Olesen F, Dickinson J, Hjortdahl P (2000) General practice time for a new definition. BMJ 320: 354 357 5. Praetorius F (1992) Bayes-Stadt: Zur Objektivität von Indikationen. Ein Plädoyer für den diagnoseführenden Arzt. Dt Ärztebl 89: B1298 B1305 6. Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2001) Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit; Band II Qualitätsentwicklung in Medizin und Pflege; Gutachten 2000/2001 7. Sox HC, Hickam DH, Marton KI, et al (1990) Using the patient s history to estimate the probability of coronary artery disease: a comparison of primary care and referral practices. Am J Med 89: 7 14 (correction: 89: 550) Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Ferdinand M. Gerlach, MPH, Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Kiel, Arnold-Heller-Straße 8, 24105 Kiel Tel.: 0431/597 2226; Fax: 0431/597 1183; e-mail: gerlach@allgemeinmedizin.uni-kiel.de; Internet: www.allgemeinmedizin.uni-kiel.de 311