Eine umfassende Einsicht in Erziehung_ein familylab.de - Artikel A comprehensive understandig of education and socialization

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Transkript:

Eine umfassende Einsicht in Erziehung_ein familylab.de - Artikel A comprehensive understandig of education and socialization Aus dem Englischen übersetzt von Christine Ordnung Eine umfassende Einsicht in Erziehung und Sozialisation Von Jesper Juul Jesper Juul (1948), Lehrer, Familientherapeut, Autor und von 1979 bis 2004 klinischer Direktor des Kempler-Instituts von Skandinavien, Zentrum für Familien und Weiterbildung in Dänemark. Jesper Juul schrieb mehrere Bücher für Eltern und professionelle Erzieher. Er ist ein anerkannter Sprecher und Supervisor in den Bereichen Familientherapie, Beratung und Pädagogik. 2002 veröffentlichten er und seine Mitarbeiterin Helle Jensen Phd. ihr Buch Vom Gehorsam zur Verantwortung. Es ist inzwischen in verschiedenen Ländern ein Klassiker in der Ausbildung von Erziehern und Lehrern. Seit 2004 ist Jesper Juul internationaler Direktor von Family-lab International SA eine private Organisation, die Elternbildung ins Zentrum stellt. Einleitung 1993 schrieb ich ein kleines Büchlein mit dem Titel: Ein Apfel für den Lehrer die nicht gesehene Dimension in öffentlichen Schulen. Ich hob zwei Faktoren hervor, die nach meiner Meinung zu beleuchten waren. Der erste war die Isolation von Lehrern die meisten von ihnen arbeiten allein. Der 2. Faktor betraf die Kultur in öffentlichen Schulen, die ihren menschlichen und professionellen Bedürfnissen nur wenig oder keine Aufmerksamkeit widmete. Es fehlte der Fokus auf den zwischenmenschlichen pädagogischen Prozess als Quelle für Energie, Inspiration und besserem Lernen. Dies war ein Versuch, das Schulsystem dahin zu bewegen ein gesünderes Gleichgewicht zwischen Inhalt und Prozess anzustreben. Es war die Zeit, als viele Schulen und einzelne Lehrer über das Verhalten der Schüler klagten. Zu dem Zeitpunkt begannen Schulen zu erkennen, dass die Einführung demokratischer Werte nicht ausreichte, um ein Lernumfeld zu schaffen, in dem beide - Kinder wie Lehrer - gedeihen. Eine ähnliche Verwirrung charakterisierte viele Familien, die neue Wege suchten, ihre Kinder gewaltfrei zu erziehen. Die nordischen Länder änderten ihr Schulgesetz. Sie fügten Paragraphen ein, die festlegten, dass Schulen auch für die persönliche und soziale Entwicklung der Kinder verantwortlich sind. Die Verordnung dieser Verantwortung beendete eine über zwei Generationen dauernde Debatte innerhalb des Schulsystems: Sollen Lehrer auch zu der allgemeinen Erziehung von Kindern beitragen oder sollen sie sich aufs Unterrichten beschränken ( Bildung oder Erziehung )? Natürlich hat es diese Diskussion schon immer zu allen Zeiten in allen Schulen gegeben. Jetzt aber fand die Auseinandersetzung auf offizieller Ebene statt. Sie wies auf eine professionelle Aufgabe hin, die in der Lehrerausbildung keine substantiell wirksame Beachtung fand. Überdies änderten sich die Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Eltern ganz erheblich, es wurde notwendig gemeinsame Grundlagen im Hinblick auf Werte und Zielvorstellung zu finden. 1995 schrieb ich ein Buch für Erwachsene, die mit Kindern zu tun haben: Das kompetente Kind. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller. Sehr bald tauchte es als Lehrbuch verschiedener pädagogischer Ausbildungen auf, obwohl es weit davon entfernt war den wissenschaftlichen Ansprüchen und Anforderungen solcher Bücher zu genügen. Das brachte uns dazu, Vom Gehorsam zur Verantwortung zu 1

schreiben. Wir hofften, das Buch kann den Dialog mit Lehrern stärken und die sehr notwendige Veränderung der Perspektive und der Haltung innerhalb des (öffentlichen) Schulsystems und auch in vielen privaten und alternativen Schulen anregen. Vorgeschichte Seit 1980 waren wir als Supervisoren und Berater in zahlreichen sehr unterschiedlichen Schulen und Kindergärten tätig. Wir wurden in die Schulen gerufen, wenn sie schwierige oder unmögliche Klassen hatten. Wir nahmen an Gesprächen zwischen Eltern und Lehrern teil, wenn die Verständigung nicht gelang. Wir halfen Lehrern, Teams zu bilden, die sie inspirieren und unterstützen. Wir berieten und befähigten die Kollegen und Mitarbeiter bei Krisen mit der Leitung und in der Zusammenarbeit der Erwachsenen. Wir ermutigten die Schulpsychologen und leiteten sie an, direkter mit Lehrern und Kindern zu arbeiten. Wir halfen den Psychologen, ihren Fokus weg vom einzelnen Kind hin auf eine familiäre Betrachtungsweise zu richten. Aus dem Bereich der Familientherapie kommend begründeten sich unsere Interventionen und Blickrichtungen auf systemische Theorien, allerdings sind unsere Wege mehr Erlebnis aktivierend. In den 90er Jahren eskalierte vor allem in öffentlichen Schulen die Krise der Disziplin. In der Zeit hatten wir die Möglichkeit mit vielen einzelnen Lehrern zu arbeiten. Diese Lehrer waren ausgebrannt (Burn-Out) oder erlebten Zusammenbrüche (Break-down). Es kam auch eine wachsende Zahl junger Lehrer zu uns, die bereits nach 1 oder 2 Jahren Berufsalltag dazu neigten, aufzugeben. Die meisten dieser Lehrer erholten sich und kehrten ins Klassenzimmer zurück. Sie hatten Einsichten und Fähigkeiten gewonnen, die sie vorher nicht gekannt hatten oder in ihrem Beruf für nicht von Bedeutung erachteten. In diesen Jahren stellte sich für uns heraus, dass die Qualität des Unterrichtens fast nie die Ursache der Probleme war. Einzelne Lehrer und Schulen hatten sehr unterschiedliche pädagogische Herangehensweisen. Es gab eine generelle Offenheit und den Willen, sich auf den neuesten Stand zu bringen. Wir erkannten außerdem, dass die Krise weit davon entfernt war, eine Krise der Disziplin zu sein, die von Kindern mit krankhaft schlechten Manieren und deren faulen Eltern verursacht worden war. Falls es überhaupt eine Krise gab, dann handelte es sich um eine soziale Krise innerhalb jeder einzelnen Schule. Zur Bewältigung dieser Krise brauchte die Schulleitung und das Kollegium Hilfe, um sich neue Einsichten und Blickrichtungen anzueignen und um neue Fähigkeiten im zwischenmenschlichen Verhalten zu lernen. Ein neues Paradigma Für Lehrer wie für Kinder stützen sich Leben und Arbeit in Schulen auf moralische Werte und psychologisches Wissen, die nicht nur altmodisch, sondern auch beschränkt und häufig überholt waren. Kinder wurden gleichermaßen wie Lehrer auf ihre Rollen als Schüler bzw. Lehrer reduziert betrachtet. Die Autorität, die der Lehrer nur durch seine Funktion inne hatte und die ihn über Generationen unterstützte, war jedoch so gut wie verschwunden. Sie musste durch eine viel persönlichere Autorität ersetzt werden. Ebenso durften Kinder nicht mehr nur in ihrer begrenzten Rolle 2

des Schülers gesehen werden. Sie mussten in ihrer gesamten Existenz wahr- und ernst genommen werden. In Schulen wie in Familien suchten die Erwachsenen verzweifelt nach Lösungen. Doch sehr oft blieben sie in einer beschränkten und überholten intellektuellen Polarisierung stecken: Strenge Regeln und Konsequenzen das eine und Freie Erziehung das andere Extrem. An dieser Stelle griff unsere 40jährige Forschung und praktische Erfahrung mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir zeigten die Chance, einen dritten Weg zu finden. Diese Erfahrung aus der Praxis der Psychotherapie galt es nun in die pädagogische Wirklichkeit wie Unterricht und Sozialisation in pädagogischen Einrichtungen zu übertragen. Die professionelle und pädagogische Identität des Lehrers musste auf den neuesten Stand gebracht und gestärkt werden. Lehrer sollten jedoch weder zu Amateurpsychologen, noch zu Amateurpsychotherapeuten gemacht werden. Mit anderen Worten: Wir müssen uns gut um die Lehrer kümmern, bevor wir von ihnen erwarten können, dass sie sich besser um die Kinder kümmern. (Eine von vielen wertvollen Lehren aus der Familientherapie.) Gleichwürdigkeit Das erste Schlüsselwort ist Gleichwürdigkeit, nicht zu verwechseln mit Gleichheit. Gleichwürdigkeit als neuer Maßstab für zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern zieht ihre Bedeutung, ihre Kraft und ihr Potential aus zwei Quellen. Die eine ist die klinische Erfahrung aus der Arbeit mit gestörten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Die andere Quelle ist die wissenschaftliche Forschung der frühen Bindung zwischen Eltern und Säuglingen. Für diese Arbeit stehen bedeutende Namen wie Daniel N. Stern, Peter Fornagy und andere. Eine ihrer Schlussfolgerungen ist, dass die gesündeste Beziehung und auch das optimale Gedeihen von Eltern und Kindern sich dann einstellt, wenn die Beziehung eine Subjekt-Subjekt-Beziehung und keine Subjekt- Objekt-Beziehung ist, in der das Kind das Objekt ist. Diese Forschung begründete in sich selbst ein neues Paradigma, das die meisten bisherigen Wahrheiten der Entwicklungspsychologie auf den Kopf stellt. Was ich Gleichwürdigkeit nenne ist das, was eine Subjekt-Subjekt- Beziehung von Natur aus kennzeichnet eine Beziehung, in der die Gedanken, die Reaktionen, die Gefühle, das Selbstbild, die Träume und die innere Realität des Kindes genauso ernst genommen werden, wie die der Erwachsenen und vom Erwachsenen in der Beziehung berücksichtigt werden. Auf diesem Weg wird das Kind unter der Führung des Erwachsenen zum Mit-Gestalter seiner eigenen Welt. Das ist kein politisches Recht, aber es ist der Auftrag, die persönliche Integrität des Kindes sowie die des Erwachsenen zu schützen. Wir leben in einer Zeit des Übergangs. Die Herausforderung liegt darin, Lehrern, diese neue Einsicht und Perspektive nahe zu bringen, auch wenn sie selbst in ihr Erziehung und Ausbildung von Eltern und Lehrern als Objekt in der Beziehung behandelt worden waren. Auch wenn sie als Heranwachsende mit Erwachsenen zu tun hatten, die Macht ausübten anstatt fürsorglich zu sein. Viele Schulen und Lehrer sowie viele Eltern brauchten daher erst den Umweg über Verhaltenskontrolle und andere modernisierte Methoden, die die Macht der Erwachsenen exerzierten und die existenzielle Wirklichkeit von beiden - Erwachsenen und Kindern - missachteten. Selbst wenn diese Methoden kurzfristig funktionieren, erkennen sie oft, dass der Preis, den sie dafür zu bezahlen hatten, sehr hoch ist. Der Weg zur Gleichwürdigkeit ist schwierig - emotional wie intellektuell. Es ist einfach schwer aufzuhören, im Erwachsenen gegen Kind Modus zu 3

denken. Es ist schwer, eine Haltung anzunehmen, die beiden Seiten gleich dient und nicht die Bedürfnisse des einen über die des anderen stellt. Der Fokus muss darauf gerichtet werden, was zwischen den beiden abläuft (Prozess). Das ist für Lehrer ein komplett neues Terrain. Sie wurden ausgebildet, ihr Augenmerk auf den Inhalt und die Präsentation zu richten. Darum treffen wir eine Menge Lehrer, die sehr großes Geschick im traditionellen Unterrichten besitzen. Sie haben aber nicht genug zwischenmenschliche Fähigkeiten. Es fehlt ihnen das Können, destruktivem Verhalten konstruktiv zu begegnen. Verantwortung Das zweite Schlüsselwort ist Verantwortung, genauer gesagt persönliche Verantwortung die Verantwortung, die zu übernehmen wir alle in der Lage sind, Verantwortung für unser eigenes Verhalten, unsere Gefühle, unsere Reaktionen, unsere Werte usw. Und für den Erwachsenen kommt noch hinzu, dass er es ist, der in jeder Beziehung/Begegnung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind der Verantwortliche für die Qualität ihrer Beziehung ist. Kinder sind schlicht nicht in der Lage, die Verantwortung zu übernehmen. Und da, wo sie dazu gezwungen sind, weil der Erwachsene es nicht will oder kann, leiden die Kinder (und die Beziehung). Das ist so, egal ob wir über die Familien oder das Klassenzimmer sprechen. Es ist unerlässlich, dass Erwachsene diese Zusammenhänge verstehen. Diese Verantwortung kann mit Kindern weder geteilt noch an sie delegiert werden. Sie bleibt alleinig beim erwachsenen Elternteil oder Lehrer. Diese psychologischen Fakten widersprechen dem seit Generationen üblichen Selbstverständnis der Erwachsenen, ihre Realität nach zweierlei Maß zu messen. Will sagen: wenn meine Beziehung zu einem Kind gut verläuft, dann ist es mein Verdienst (oder der Erfolg meiner Methode). Wenn die Beziehung zu einem Kind (oder zu einer Schulklasse) schwierig ist, dann ist es das Verschulden des Kindes (bzw. der Klasse). Von den vielen Phänomenen, die das schulische Leben negativ beeinflussen, ist dieses wahrscheinlich das am meisten zerstörende. Vor weniger als einer Generation waren sich alle Erwachsenen über dieses zweierlei Maß einig. Kinder, die sich nicht fügten, wurden entweder ausgeschlossen oder bestraft. Konsequenterweise entwickelten die meisten Kinder Angst vor den Lehrern (im Rückblick wurde diese Angst oft mit Respekt verwechselt). Die heutigen Kinder haben im Kindergarten nicht mehr auf dieselbe Weise gelernt, den Erwachsenen zu fürchten. Sie verlangen Respekt vom Lehrer, bevor sie ihn zurück respektieren können und wollen. Die Forderung nach persönlichem Respekt geht in beide Richtungen. Damit Kinder in einer gesunden Weise aufwachsen können, brauchen sie die Erfahrung beständiger Fürsorge für die Wahrung ihrer persönlichen Integrität (Bedürfnisse und Grenzen). Sie müssen eine gesunde Selbstachtung und einen starken Sinn für persönliche Verantwortung entwickeln. Das Verhalten von Erwachsenen, welches diese Entwicklung ermöglicht, unterscheidet sich fast in jeder Hinsicht von dem Verhalten, das auf Gehorsam pocht. Was ich bisher ausgeführt habe, ist nicht nur anders als bisheriges Denken, es ist vielmehr komplett neu. Es gibt nichts Geeignetes, aus der Vergangenheit, auf das wir zurückgreifen könnten. Eltern sind gezwungen, neue Wege zu finden, um ihre (sehr nötige) Führungsaufgabe als Erwachsene wahrzunehmen. Genauso müssen Lehrer neue Formen der professionellen Führung im Klassenzimmer und im eins-zu-eins Kontakt mit einzelnen Kindern entwickeln. Viele Schulen und Lehrer haben diesen Prozess bereits begonnen und genießen die Ergebnisse. 4

Aus dem Englischen übersetzt von Christine Ordnung. Jepser Juul & Helle Jensen, Vom Gehorsam zur Verantwortung Jesper Juul, www.familylab.de f a m i l y l a b.de die familienwerkstatt Mathias Voelchert GmbH Amalienstrasse 71 D-80799 München T 089-219 499 71 F 089-22 807 200 info@familylab.de www.familylab.de 5