Buchvorstellung: NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung

Ähnliche Dokumente
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ZUR NEUAUSGABE VORWORT VON GORDON A. ZUR TASCHENBUCHAUSGABE VORWORT ZUR TASCHENBUCHAUSGABE

Helmut Schmidt und Amerika

Workshop: , Heidelberg Center for American Studies (HCA), Universität Heidelberg

Inhaltsverzeichnis. Danksagung... 11

Internationale Politik und Internationale Beziehungen: Einführung

DEMOKRATISCHE GRUNDWERTE

Verträge, Abkommen und Vereinbarungen mit den osteuropäischen

Die Weimarer Republik (16 Stunden)

7. Juni 2005: Außenpolitischer Wandel und innere Entwicklung unter Erhard

Dr. Reinhard C. Meier-Walser - Lehrveranstaltungen

Inhalt. 1 Demokratie Sozialismus Nationalsozialismus. So findet ihr euch im Buch zurecht... 10

Wirtschaftsschule: Geschichte/Sozialkunde 10 (dreistufige Wirtschaftsschule)

Themenüberblick 11.1: Wie modern wurde die Welt um 1800?... 10

Adenauers Außenpolitik

Europa von der Spaltung zur Einigung

Geschichte erinnert und gedeutet: Wie legitimieren die Bolschewiki ihre Herrschaft? S. 30. Wiederholen und Anwenden S. 32

Massenvernichtungswaffen und die NATO

Deutschlandpolitik, innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen

44 Der Weg inden Krieg 44 Nationalsozialistische Außenpolitik 46 Europa in den 1930er Jahren

(Modulbild: 1972 LMZ-BW / Ebling, Ausschnitt aus LMZ603727)

Wie Angela Merkel Wahl-Kampf macht

NATIONALISMUS, NATIONALSTAAT UND DEUTSCHE IDENTITÄT IM 19. JAHRHUNDERT 8

«Top-Spion» oder Opfer der deutsch-deutschen Wiedervereinigung?

HINWEISE ZUM AUSFÜLLEN DES FRAGEBOGENS

VI. Moderne wertorientierte Volkspartei

Interview der Botschafterin für A1 TV aus Anlass des 60. Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes

Rede zur Bewerbung um die Kandidatur zum 16. Deutschen Bundestag im Wahlkreis 292 (Ulm/Alb-Donau-Kreis) bei der Mitgliederversammlung am 18.

Was will der Souverän?

Das Jahr 1968 in der Tschechoslowakischen Geschichte

Anstiftung zum Unfrieden

Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945 bis 1993

DOWNLOAD VORSCHAU. Kleines Politiklexikon. zur Vollversion. Politik ganz einfach und klar. Sebastian Barsch. Downloadauszug aus dem Originaltitel:

Themenplan WZG. Klasse 9. Kapitel 1 China. Kapitel 2 Weimarer Republik Seite 1. Leitideen, Kompetenzen und Inhalte gemäß Bildungsplan

Inhaltsverzeichnis. Vom Imperialismus in den Ersten Weltkrieg 10. Nach dem Ersten Weltkrieg: Neue Entwürfe für Staat und Gesellschaft

nationalismus, nationalstaat und deutsche identität im 19. jahrhundert 8

Die Zeit von in der Tschechoslowakischen Geschichte

Ziele der russischen Europapolitik

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Geschichte Quiz: Deutschland nach 1945

Der Hitler-Stalin-Pakt

Geschichte und Geschehen für das Berufskolleg. 1 Lebensformen früher und heute. 1.1 Fit für die Zukunft? Jugend in einer Gesellschaft im Wandel

Militärstrategien von NATO und Warschauer Pakt

Selbstüberprüfung: Europa und die Welt im 19. Jahrhundert. 184

Allesamt Faschisten? Die 68er und die NS-Vergangenheit

Gustav Stresemann und die Problematik der deutschen Ostgrenzen

Bürger und Parteien. Ansichten und Analysen einer schwierigen Beziehung. Herausgegeben und eingeleitet von Joachim Raschke

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Die 16 Bundesländer. Das komplette Material finden Sie hier: School-Scout.

Das politische System der Bundesrepublik Deutschland

P R E S S E I N F O R M A T I O N Mainz, den

Deutschland Das Politische System. Die Bundesrepublik ist ein freiheitlichdemokratischer

Umsetzung des Lehrplans Sozialkunde im Schulbuch politik.21 Thüringen, Band 2. Jahrgangsstufe 9. Abweichungen beim realschulbezogenen Abschluss

Imperialismus und Erster Weltkrieg 10

Volker Matthies Kriege in der Dritten Welt

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus:

Grußwort des Herrn Landtagspräsidenten Dr. Matthias Rößler zum 25. Jahrestag der friedlichen Revolution am 09. Oktober 2014

Schulinternes Curriculum Sek. II Geschichte des Gymnasium der Stadt Frechen Q2

VORANSICHT. 99 Luftballons ein Längsschnitt zur Zeitgeschichte im Spiegel der Popmusik. Das Wichtigste auf einen Blick

Der Neorealismus von K.Waltz zur Erklärung der Geschehnisse des Kalten Krieges

Einbürgerungstest Nr. 1

Buchner informiert. Vorläufiger Rahmenlehrplan Gymnasiale Oberstufe Geschichte, Land Brandenburg

Stoffverteilungsplan Schleßwig Holstein

Verlauf Material Klausuren Glossar Literatur

- Archiv - Findmittel online

Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg

Büchel. dichtmachen. Schluss mit der atomaren Aufrüstung!

iniiwiiuiiiii Der deutsche Fingerabdruck Nomos Die Rolle der deutschen Bundesregierung bei der Europäisierung der Grenzpolitik A2007/ 337

Die Grünen und der Pazifismus

Rede anlässlich der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag der Ungarischen Revolution Budapest, 22. Oktober 2006

Tutorium für LehramtskandidatInnen Sommersemester 2008

Der deutsch-französische Vertrag

Geschichte Deutschlands

Wilhelm Bruns, Deutsch-deutsche Beziehungen

Vortrag von Konrad Adenauer, Notar aus Köln und Enkel des Altbundeskanzlers

2700 Wiener Neustadt, Österreich Tel. u. Fax: Homepage:

Rede von Staatspräsident Nicolas Sarkozy vor dem Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika -Auszüge- Washington, 7.

Konfliktforschung I Kriegsursachen im historischen Kontext

SICHERHEITSPOLITISCHES FORUM NIEDERSACHSEN Prävention und Stabilisierung in Krisenregionen in Hannover

Anstöße. Gesellschaftslehre mit Geschichte. Didaktische Jahresplanung Berufsfeld Erziehung und Soziales

Peter Borowsky Deutschland 1945 bis 1969

25 Jahre. deutsch-deutsche Währungsunion

Synopse zum Pflichtmodul Nationalstaatsbildung im Vergleich. Buchners Kolleg Geschichte Ausgabe Niedersachsen Abitur 2018 (ISBN )

Die Europäische Politische Gemeinschaft

Vierzehnter Kaufbeurer Dialog am Ministerpräsident a.d. Dr. Bernhard Vogel

Konfliktmanagement in den internationalen Beziehungen Die Karibik-Krise von 1962

Türkei und Europäische Gemeinschaft

Mit Originalprüfungen. und. Musterlösungen online auf

Konflikt oder Kooperation in Asien-Pazifik?

Paul. Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart. Verlag C.H.Beck

Konfliktmanagement in den internationalen Beziehungen Die Karibik-Krise von 1962

Geschichte und Geschehen

Schulinterner Lehrplan

FLÜCHTLINGE VERSTEHEN

Die moderne Industriegesellschaft zwischen Fortschritt und Krise

vitamin de DaF Arbeitsblatt - zum Geschichte

Die Landeshauptstadt Hannover ist zum Höhepunkt der Friedensbewegung im Jahr 1983 Mitglied von Mayors for Peace geworden.

Forum. Geschichte 3. Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen. Von den Folgen des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart

DAS MODERNE JAPAN VON GERHARD KREBS. Von der Meiji-Restauration bis zum Friedensvertrag von San Francisco

Schulinterne Curriculum Geschichte (G 8) Jahrgangsstufen 8/9 (Jgst. 8: Inhaltsfelder 7-9; Jgst. 9: Inhaltsfelder 10-12)

Russlands Westpolitik in der Krise

Deutsch-Französische Erklärung anlässlich der Vereinbarung einer strategischen Kooperation zwischen Krauss-Maffei Wegmann und Nexter Systems

Transkript:

Buchvorstellung: NATO-Doppelbeschluss und Friedensbewegung 17. Mai 2011, Auswärtiges Amt, Berlin Dr. Heiner Geißler ist einem breiten Publikum als der Vermittler im Streit um Stuttgart 21 erneut bekannt geworden. Am 17. Mai 2011 schlüpfte er im Auswärtigen Amt in Berlin in die Rolle des Zeitzeugen, um den neu erschienen Band Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung. Der NATO-Doppelbeschluss in deutschdeutscher und internationaler Perspektive (München: Oldenbourg, 2011) vorzustellen. Das Buch ist von den drei Historikern Philipp Gassert (Uni Augsburg), Tim Geiger und Hermann Wentker (beide Institut für Zeitgeschichte München-Berlin) herausgegeben und in Teilen verfasst worden. Es ist wie Hermann Wentker in seinen einführenden Worten erklärte der erste Versuch, die Geschichte des Nato- Doppelbeschlusses und der Nachrüstungsdebatte der 1980er Jahre historisch umfassend aufzuarbeiten. Das Buch behandelt neben der Innen- und Außenpolitik auch die gesellschaftlichen Reaktionen in Bundesrepublik wie DDR und bettet die Ereignisse in ihren europäischen und transatlantischen Kontext ein. Auf Seiten der CDU war Heiner Geißler einer der Hauptprotagonisten der Nachrüstungsdebatte. Parteipolitisch in den 1960er Jahren in Baden-Württemberg unter Kurt Georg Kiesinger sozialisiert, entwickelte er sich zusammen mit Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf und anderen zu einem der jungen Wilden der Union und verkörperte ein neues Politikverständnis, so Philipp Gassert in seiner Vorstellung des Festredners. Im Gegensatz zu Kiesinger habe Geißler den Konflikt bewusst gesucht und Kontroversen als Bestandteil einer modernen Mediendemokratie verstanden. Als CDU-Generalsekretär und zwischen 1982 und 1985 als Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit im Kabinett Kohl, avancierte er auf Seiten der CDU zu einem der Wortführer in der Diskussion um die nukleare Nachrüstung. Für großes öffentliches Aufsehen sorgte 1983 Geißlers Vorwurf an Joschka Fischer und Otto Schily, der Pazifismus der 1930er Jahre habe Auschwitz erst möglich gemacht. 1

Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums Philipp Gassert argumentierte, die Holocaust-Analogie mache deutlich, dass es in der Nachrüstungsfrage um mehr als nur einen sicherheits- oder außenpolitischen Konflikt gegangen sei. Für die Bonner Republik habe es sich um einen Testfall für die Demokratie gehandelt, der Ausdruck eines inner-westdeutschen Selbstverständigungsprozesses um eine post-faschistische Gesellschaftsordnung gewesen sei. In seinem Vortrag zeigte sich Geißler zunächst überrascht, dass die zeithistorische Forschung den Systemzwang zur Anpassung der Bundesrepublik an den Ost-WestKonflikt so stark betone und auch über deren internationalistische Einbettung das Verhalten der damaligen Bundesregierungen erkläre. Darüber, so der Zeitzeuge, habe die CDU damals nicht nachgedacht. Die in der Einleitung des Bandes entwickelten vier Forschungsansätze, heuristischen von denen Erklärungsmodelle er damals keine seien Ahnung retrospektive gehabt habe. Entscheidend sei damals für ihn und seine Parteifreunde von der CDU und der CSU das strategische Ungleichgewicht gewesen, das aufgrund der sowjetischen SS-20Raketen entstanden sei. Dass es auch im Westen technologische Zwänge zur Modernisierung der nuklearen Waffensysteme und eine gewisse Eigenlogik des militärisch-industriellen Komplexes gegeben habe, sei für ihn neu. Die CDU habe sich in erster Linie vom Gebot der Bündnistreue leiten lassen. Heiner Geißler im Auswärtigen Amt Photo: Alexander Holmig 2

Geißler hob hervor, dass entgegen aller anderslautender Vereinnahmungsversuche für ihn vor allem die CDU (und zwar diese allein, die bayerische Schwesterpartei habe in dieser Frage keine so bedeutsame Rolle gespielt) die Partei des NATO- Doppelbeschlusses gewesen sei. Ohne die politische Standfestigkeit der Kanzlerpartei hätte die Regierung Kohl den Nato-Doppelbeschluss, insbesondere seinen Stationierungsteil, nicht durchsetzen und implementieren können, was so Geißler dann zweifelsohne zu einer fundamentalen Krise der NATO geführt und sogar eine mögliche Abkehr der USA vom europäischen Schauplatz hätte auslösen können. Mit eigenem Informationsmaterial und Aktionstagen ( 10.000 Friedenstagen ) sei seine Partei die einzige innerhalb der Bundesrepublik gewesen, die sich offensiv mit den Argumenten der Friedensbewegung auseinandergesetzt habe. Mit Blick auf die damaligen massiven Proteste der Friedensbewegung gestand Geißler ein, dass die CDU der öffentlichen Debatte zunächst nicht gewachsen gewesen sei. Das Konzept von Frieden in Freiheit sei anfänglich dem Frieden um jeden Preis -Slogan der Friedensbewegung rhetorisch unterlegen gewesen. Insbesondere bei der Erklärung der ethisch-moralischen Dimension des Konfliktes sei die Regierungskoalition argumentativ ins Hintertreffen geraten. Geißler bezog sich dabei auf die damals von den Nachrüstungsgegnern gerne ins Feld geführte Bergpredigt und deren Gebot der Feindesliebe als Weiterführung der Nächstenliebe. Dieser plakativen Instrumentalisierung habe er mit seinem Pazifismus-Auschwitz- Diktum im Bundestag offensiv entgegengesteuert, denn so Geißler weiter zu seinem damaligen Ausspruch stehe er auch heute noch: Es sei schließlich kein Widerspruch zur Bergpredigt, wenn eine Demokratie sich und ihre Freiheit verteidige gegebenenfalls auch durch atomare Rüstung. Gleichzeitig gestand Geißler ein, dass traditionelle Konzepte eines gerechten Krieges (Augustinus, Thomas von Aquin) an sich durch Atomwaffen obsolet geworden seien, da diese auch das zerstören würde, was sie eigentlich schützen sollten. Daher sei der kriegsverhütende Abschreckungseffekt der Atomwaffen so entscheidend geblieben. Die CDU habe es zwar nicht geschafft, dieses Paradoxon gänzlich aufzulösen, doch sei es schließlich 3

Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums gelungen, die im Doppelbeschluß als Angebot bereits angelegte Abrüstung als das zentrale und existentielle Ziel in den Mittelpunkt zu rücken. Den INF-Vertrag von 1987 (Vernichtung aller atomar bestückten Mittelraketen) sah Geißler deshalb auch als eine Bestätigung der konsequenten Umsetzung der Nachrüstung durch die CDU mit langfristigen Folgen. Ohne die hierbei bewiesene Bündnistreue der Regierung Kohl sei eine deutsche Wiedervereinigung 1989/90 undenkbar gewesen, da sonst die internationale Unterstützung der westlichen Verbündeten für die deutsche Einheit noch schwieriger, wenn nicht unmöglich gewesen wäre. Der außenpolitische Konsens, der durch die Nachrüstungsdebatte in Frage gestellt worden war, sei letztlich durch die Beharrlichkeit der Regierung Kohl ebenfalls wieder hergestellt worden: Die NATO sei zu einem von allen politischen Parteien akzeptierten Teil unserer Wertegemeinschaft geworden. Auch alle nachfolgenden Bundesregierungen, so Geißler, hätten sich an diesen Grundsatz gehalten: Unter Berufung auf die von der NATO vertretenen Werte habe sich Deutschland etwa zum Schutz der Menschenrechte an den Militäraktionen im Kosovo und in Afghanistan beteiligt. Aus diesem Grund, so Geißler, sehe er die gegenwärtige deutsche Position in der Libyen-Frage kritisch. Philipp Baur Von l. nach r.: Philipp Gassert, Hermann Wentker, Heiner Geißler, Tim Geiger; Photo: Alexander Holmig 4

Zum Buch: Philipp Gassert, Tim Geiger, Hermann Wentker (Hrsg.), Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung, Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, Oldenbourg 2011. 412 Seiten, Broschur, 59,80 ISBN 978-3-486-70413-6 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer http://www.oldenbourg-verlag.de/wissenschaftsverlag/zweiter-kalter-krieg-undfriedensbewegung/9783486704136 Weitere Informationen zum Forschungsprojekt Die Nuklearkrise: Transatlantische Friedensbewegung, Nachrüstung & Zweiter Kalter Krieg, 1975-1990 unter www.nuclearcrisis.org 5