Seite 1 von 6 Eröffnung des Workshops zum Thema "Call-Center" am 25. März 1999 in Neuruppin Staatssekretär Clemens Appel Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, Sie heute als Vertreter der Landesregierung - anlässlich des Workshops "Call-Center" - begrüßen zu dürfen. Wenn ich das Wort "Call-Center" höre, denke ich an Telemarketing - an einen der neuen Wirtschaftszweige, die international und national sich in den letzten Jahren rasant entwickelt haben und deren Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist. Das Vordringen dieser Wirtschaftszweige, die durch moderne Informations-, Kommunikations- und Produktionstechnologien geprägt sind, führt zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in der Arbeitswelt. Es erfolgt ein Übergang von der Industriezur sogenannten Informationsgesellschaft. Auch in der Bundesrepublik Deutschland werden diese strukturellen Veränderungen zunehmend sichtbar. Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmen mehr denn je den Aufbau sowie Ablauf der administrativen und sozialen, technischen und individuellen Arbeitsprozesse. Der Faktor Dienstleistung übernimmt zunehmend steigenden Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung. Der Büroarbeitsplatz wird zur Schalt- und Denkzentrale. Aufgrund dieses Wandels entwickeln sich neue Betriebsstrukturen und Beschäftigungsformen. Zu den neuen Beschäftigungsformen zählen u. a. Zeit- und Leiharbeit, Franchising, Telearbeit und die Beschäftigung in Call-Centern. Mit den neuen Betriebs- und Beschäftigungsformen verändern sich natürlich auch die Bedingungen in der Arbeitswelt. Während früher physikalische und chemische Einwirkungen - häufig verbunden mit körperlich schwerer Arbeit - als Belastungsfaktoren für die Beschäftigten vordergründig
Seite 2 von 6 waren, sind die neuen Arbeitsformen nicht selten gekennzeichnet durch Einförmigkeit mit leichter, körperlicher Tätigkeit, aber leistungsbestimmender geistiger Belastung. Die daraus resultierenden Beanspruchungen können zu einem Krankheitsgeschehen führen, dessen Zuordnung zu einzelnen Faktoren aufgrund der komplexen Arbeitsbedingungen immer schwieriger werden. Die Entwicklungen bringen darüber hinaus auch arbeitsrechtliche und auch arbeitsschutzrechtliche Probleme mit sich, die sich in den nächsten Jahren noch verstärken werden. Für die Arbeitsschutzverwaltung heißt das, dass aufgrund der weiteren Zunahme neuer Betriebsstrukturen und Arbeitsformen der klassische Arbeitsschutz im Umfeld der Wirtschaft an Bedeutung verlieren wird. Die Basiskategorien der Arbeitsschutzpolitik, wie die Arbeitsstätte, der Betrieb, der Status des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers, werden sich weiter ändern bzw. erodiert bereits. Diese Änderungen und die Anwendung des neuen Arbeitsschutzrechts führen schon jetzt zu veränderten Handlungs- und Wirkungsvoraussetzungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Neue zukunftsgerichtete Arbeitsschutzstrategien sind zu entwickeln und an die veränderten Praxisbedingungen anzupassen. Das Ziel des Arbeits- und Gesundheitsschutzes bleibt jedoch das Gleiche: der gesunde Beschäftigte. Besondere Bedeutung zur Erlangung dieses Ziels kommt der Erschließung des Praxisfeldes Prävention zu. Zur Durchführung der Präventionsaufgaben ist die Zusammenarbeit mit betrieblichen Arbeitsschutzakteuren und anderen für den Gesundheitsschutz zuständigen Personen, Einrichtungen und Behörden erforderlich. Wird das bisher weitgehend brachliegende Potential für den ganzheitlichen Arbeitsschutz genutzt, kann dieser zu einer besseren Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Einrichtungen beitragen. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muss künftig zunehmend in eine das betriebliche Gesamtsystem mitgestaltende Rolle gelangen, mit der die Effizienz der Unternehmen gestärkt wird. In den neuen Unternehmens- und Managementkonzepten spielt der Arbeits- und Gesundheitsschutz dementsprechend bereits eine zunehmend bedeutsame Rolle. Der Faktor Mensch oder das Humankapital sind in den Fordergrund der Betrachtungen und Analysen z. B. über die Fehlzeitenentwicklungen der Unternehmen gerückt. Zur Erlangung hoher Produktivität und zur Erreichung der Unternehmensziele muss das hochqualifizierte Personal eines Unternehmens effizient zur Verfügung stehen, es muss Arbeitsbedingungen vorfinden, die seine Leistungsfähigkeit und Kreativität erhöhen. Optimal gestaltete Arbeitsplätze in Verbindung mit einer guten arbeitsorganisatorischen Lösung und dem Wohlbefinden der Mitarbeiter führen letztendlich zu wirtschaftlich positiven Effekten im Unternehmen.
Seite 3 von 6 Der Personalkostenanteil in diesen modernen Unternehmen liegt derzeit zwischen 60 % bis 80 %. Möchte ein Dienstleistungsunternehmen eine Effektivitätssteigerung erreichen, muss es folgerichtig beim "Kostenfaktor" der gleichzeitig Leistungsträger ist ansetzen, beim Menschen. Diese Zusammenhänge sind in großen und überregional tätigen Unternehmen bereits Gegenstand vielfältiger Aktivitäten geworden; begonnen vom sogenannten Fehlzeitenmanagement über beteiligungsorientierte arbeitsplatznahe Gesprächskreise zu Fragen des Gesundheitsschutzes bis zu Maßnahmen der umfassenden betrieblichen Gesundheitsförderung. In diesen Kontext gehören auch Bemühungen der Unternehmen, den Arbeitsschutz in bestehende Qualitäts- und Umweltmanagementsystemen zu integrieren und den betrieblichen Arbeitsschutz in Analogie zu den Unternehmenskonzepten zu entwickeln. Sie als Teilnehmer dieser Veranstaltung wissen, dass die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft des Menschen abhängig ist von der gesamten Arbeitssituation, wozu Gebäude, Einrichtungen, Gefahrstoffe, Ergonomie, psychische Einflüsse aber auch individuelle gesundheitliche Befindlichkeiten zählen. Eine unphysiologische Arbeitsgestaltung, zum Beispiel an Bildschirmarbeitsplätzen, dazu eine überfordernde Arbeitsorganisation und ein dauerhaft schlechtes Betriebsklima können das Befinden, die Leistung und die Gesundheit der Beschäftigten negativ beeinflussen. Die genannten Faktoren können sich einzeln oder simultan als Störeinflüsse zeigen, die in letzter Konsequenz zu Fehl- und Verlustzeiten für das Unternehmen führen. Die mangelnde Gesundheitsvorsorge kann nachhaltige Schädigungen bei einzelnen Mitarbeitern erzeugen, was wirtschaftlich gesehen einen negativen Wettbewerbsfaktor darstellt und gesundheitspolitisch für den einzelnen Menschen negativ zu Buche schlägt. In vielen Wirtschaftszweigen sind die krankheitsbedingten Ausfallzeiten bereits ein ernstes Thema geworden. Im Jahre 1997 gingen in Deutschland bei rund 30,4 Millionen abhängig Erwerbstätigen durchschnittlich 17 Kalendertage durch Arbeitsunfähigkeit verloren. Nach Schätzungen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung von 1997 summieren sich die resultierenden Produktionsausfallkosten der Betriebe aufgrund von Arbeitsunfähigkeit auf 89,5 Mrd. DM. Der damit einhergehende volkswirtschaftliche Wertschöpfungsausfall wegen krankheits- und unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit betrug nach diesen Schätzungen rund 150 Mrd. DM. Bei den Gesamtausfallkosten - 89,5 Mrd. DM - entfallen allein 26,13 Mrd. DM auf Krankheiten des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes. Die Ausfallkosten für Rückenleiden betrugen allein 16,72 Mrd. DM.
Seite 4 von 6 Im Bereich Handel, Banken und Versicherungen als Beispiel brachten es ostdeutsche Arbeitnehmer 1997 auf 14 Fehltage; bei westdeutschen Arbeitnehmern wurden 15 Ausfalltage registriert. Ermittelt wurde, dass im Bürobereich am häufigsten Erkrankungen des Bewegungsapparates auftreten. Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch einige Zahlen, die die "Leidensstatistik" eines modernen Büromenschens untermauern. Durchschnittlich 80.000 Stunden sitzt ein Büromensch im Laufe seines Berufslebens. (1) Ca. 80 % der Bevölkerung leiden unter Rückenschmerzen. (2) Ca. 1 /3 der 35-40jährigen hat bereits chronische Rückenschmerzen. (3) Ca. 1 /3 aller Fehlzeiten sind auf Muskelskeletterkrankungen zurückzuführen (4) und last but not least Rückenleiden sind Hauptgründe für die Bewilligung von Frührenten. (5). Rücken-Skelett-Erkrankungen stehen mit 22 Ausfalltagen pro Jahr an der Spitze der Statistik. Bedenkt man, dass pro Ausfalltag ca. 500,- bis 800,- DM für ein Unternehmen zu veranschlagen sind, so entstehen für einen Krankheitsfall Kosten pro Jahr zwischen 11.000,- und 17.600,- DM. Hier lohnt es sich, gesundheitsfördernde Maßnahmen einzuleiten und umzusetzen, die zur Reduzierung der Ausfallzeiten führen. Nach Schätzungen der AOK für das Land Brandenburg lassen sich durch eine Reduzierung krankheitsbedingter Ausfallzeiten um 10 % rund 9 Mrd (6). DM bei den Produktionsausfallkosten und den Aufwendungen für Entgeltfortzahlungen einsparen. Zurückkommen möchte ich auf meine vorangegangenen Worte über die Entwicklung der Kommunikations- und Dienstleistungsbranchen, auf den Bereich, der am meisten boomt, auf Telemarketing. Nach einer Umfrage der Gemini Consulting, Bad Homburg wird die Zahl der Telekommunikationsarbeitsplätze in Call-Centern von 30.000 im Jahre 1995 auf 140.000 im Jahre 2001 anwachsen. Nach meinen Informationen existieren in Deutschland derzeit über 1.500 Call-Center. Diese Call-Center sind entweder selbständig oder Betriebsabteilungen, also Unternehmen, die im Auftrag einer Fremdfirma oder der eigenen Firma telefonische Dienstleistungen erbringen. Der Betrieb in Call-Centern muss im 24-Stunden-Rhythmus auf die Bedürfnisse der Kunden abgestimmt werden. Dabei reicht es längst nicht mehr, dass die Mitarbeiter der Call-Center "gern" telefonieren.
Seite 5 von 6 Die Kompetenz der Mitarbeiter ist hier entscheidend, die, wenn sie Kundenorientierung glaubhaft vermitteln wollen, mal Stoßdämpfer, mal lebender Anrufbeantworter sein müssen. Eine gute Ausbildung für Call-Center-Agenten ist eine Seite des unternehmerischen Erfolgs, die andere Seite ist, den Agenten die Arbeitssituation so angenehm wie möglich zu gestalten. Nach meinen Beobachtungen und Kenntnissen stand im Land Brandenburg zum ersten Mal ein Arbeitsschutzamt, das Amt Neuruppin, seit der Geburtsstunde eines Call-Centers Pate für alle Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Im Laufe der heutigen Veranstaltung wird auf die Ergebnisse der geleisteten Präventionsund Kooperationstätigkeit des Amtes mit dem Call-Center Bezug genommen. Neben der Aufsichtstätigkeit der Arbeitsschutzverwaltung wurde der Präventionsauftrag - Beratung der Arbeitgeber bei der Erfüllung ihrer Pflichten -, der mit der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes festgeschrieben wurde, mit Leben erfüllt. Die Anwendung der neuen Vorschriften zur Sicherheit und zum Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit stärken auch die betriebliche Verantwortung. Zu den umfassenden Arbeitgeberpflichten gehört u. a. die Verbesserung des Gesundheitsschutzes einschließlich einer menschengerechten Gestaltung des Arbeitsplatzes. In betrieblicher Eigeninitiative des Call-Centers Wittenberge wurden Lösungsvarianten gefunden, die in Kooperation mit dem Amt für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik Neuruppin und der Universität Potsdam, Institut für Psychologie, mit dem Ziel einer systematischen und konsequenten Prävention optimiert wurde. Allen hier Anwesenden, so denke ich, ist bewusst, dass bei den Veränderungen in der Arbeitsumwelt und der Arbeitsbedingungen das Wohlbefinden der Mitarbeiter im Fordergrund stehen muss. Ziel unserer gemeinsamen Bemühungen sollten gesunde Beschäftigte sein, denn nur gesunde Beschäftigte sind flexibel, innovativ und kreativ. Zur Erlangung unserer Zielstellung, ich habe bereits darauf hingewiesen, ist die Zusammenarbeit aller direkt oder indirekt mit Fragen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes befassten Entscheidungsträger und Experten erforderlich. Nutzen Sie deshalb die heutige Veranstaltung zur Verbesserung der Zusammenarbeit, zum Knüpfen von Kontakten zur besseren Lösung der Probleme bei der gesundheitserhaltenden und gesundheitsfördernden Gestaltung der Arbeitsumwelt. Ich hoffe, dass durch diese Veranstaltung mit den im Programm ausgewiesenen Informationsangeboten gute Beiträge geleistet und neue Impulse gegeben werden, in Call-
Seite 6 von 6 Centern humane Arbeitsbedingungen entstehen zu lassen. In diesem Sinne wünsche ich Ihrer Veranstaltung im Interesse aller einen erfolgreichen Verlauf, viele neue Anregungen und Erkenntnisse. 1. (Quelle: Innungskrankenkasse Symposium "Gesundes Sitzen 1991) 2. (Quelle: Umfrage Fraunhoher - Institut IAO) 3. (Quelle: Aktion gesunder Rücken) 4. (Quelle: Untersuchung der BKK) 5. (Quelle: Globus 1991) 6. (AOK Bericht 1998)