Können Spezialisten für Redeflussstörungen Poltern von Stottern unterscheiden? Susanne Rosenberger, Logopädin, MRes Prof. Peter Howell Definitionen von Stottern Verschiedene anerkannte Definitionen: Stottern bedeutet unfreiwillige Wiederholungen von Silben und Lauten, Dehnungen von Lauten und Blockierungen vor oder in einem Wort. Bloodstein (1995) 1
Definitionen von Stottern ICD-10 F98.5 Stottern [Stammeln] Hierbei ist das Sprechen durch häufige Wiederholung oder Dehnung von Lauten, Silben oder Wörtern, oder durch häufiges Zögern und Innehalten, das den rhythmischen Sprechfluss unterbricht, gekennzeichnet. Es soll als Störung nur klassifiziert werden, wenn die Sprechflüssigkeit deutlich beeinträchtigt ist. Exkl.: Poltern Definitionen von Poltern Keine allgemein akzeptierte Definition für Poltern Es gibt Arbeitsdefinitionen verschiedener Autoren 2
Arbeitsdefinition von Sick (1999) Poltern zeigt sich in einem gehäuften Auftreten von phonetischen Auffälligkeiten wie Auslassungen und Verschmelzungen von Lauten und Silbenfolgen, Lautersetzungen und Lautveränderungen, die häufig zur Unverständlichkeit von Äußerungen führen, bei einer hohen und/oder irregulären Artikulationsrate. Häufig treten zusätzlich Unflüssigkeiten in Form von Silben, Wort-, Lautoder Satzteilwiederholungen auf. Arbeitsdefinition von Sick (Fortsetzung) Die Diagnose wird gestützt durch Störungen aus den Bereichen Kommunikation/Pragmatik, der auditiven Wahrnehmung und Verarbeitung, Aufmerksamkeit, syntaktisch-morphologische und semantisch-lexikalische Störungen sowie Störungen der sprachlichen Strukturierung. 3
Definitionen von Poltern ICD-10 F98.6 Poltern Eine hohe Sprechgeschwindigkeit mit Störung der Sprechflüssigkeit, jedoch ohne Wiederholungen oder Zögern, von einem Schweregrad, der zu einer beeinträchtigten Sprechverständlichkeit führt. Das Sprechen ist unregelmäßig und unrhythmisch, mit schnellen, ruckartigen Anläufen, die gewöhnlich zu einem fehlerhaften Satzmuster führen. Definitionen von Poltern DSM IV: Poltern erscheint unter dem Code für Stottern 4
Die Studie Können Spezialisten für Redeflussstörungen Poltern von Stottern unterscheiden? Hypothese Spezialisten sind in der Lage, Poltern von Stottern zu unterscheiden. 5
Design Beispiele: Sechs Spontansprachaufnahmen von Kindern und Jugendlichen mit Redefluss- Störungen Beurteiler: 22 Therapeuten für Redefluss-Störungen, Mitglieder der Die Beispiele 6 Teilnehmer (2 weibl. 4 männl.) Teilnehmer der Stotterintensivtherapie Im Alter von 12;5 bis 15;1 Jahren Durchschnittsalter: 13;11 6
Die Spezialisten 22 Beurteiler Experten in Redefluss-Störungen Erfahrungen zwischen 2 und 36 Jahren Durchschnitt: 18;6 Jahre Erfahrung Erfahrung der Beurteiler 40 35 30 Erfahrung in Jahren 25 20 15 10 5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Beurteiler 7
Durchführung (1) 2-minütiger Videoausschnitt Entscheidung, ob ein reines Stottern, ein reines Poltern oder ein gemischtes Syndrom vorliegt. Wenn gemischt, dann Entscheidung ob mehr Stottern oder mehr Poltern vorliegt. Durchführung (2) Verwendete Codes: 1= Stottern 2= Poltern 3= gemischte Symptome, mehr Poltern 4= gemischte Symptome, mehr Stottern 8
Beispiele Bsp 2, männlich, 14;5 Jahre Bsp 4, männlich, 14;0 Jahre Bsp 5, männlich, 15;1 Jahre Bsp 2, männlich, 14;5 Jahre 9
Bsp 2, männlich, 14;5 Jahre Kommunikationsstörung in Form von Stottern mit tonischen Symptomen, Dehnungen und seltenen Wiederholungen mit Begleitsymptomatik (Kopf-, Fuß- und Gesichtsbewegungen, Schnappatmung und Starthilfen). Bsp 4, männlich, 14;0 Jahre 10
Beispiel 4 Kommunikationsstörung in Form von Stottern und Poltern mit klonischen Laut- Silben und Wortwiederholungen, tonischen Blockierungen, stark erhöhter Sprechgeschwindigkeit, Nuscheln und Begleitsymptomatik (Vermeideverhalten, Starthilfen, Abbruch des Blickkontaktes, nasaler Stimmklang). Beispiel 4 So Menschen u-und Re-Religion und glaub ich s-so zo menʃn u-unt re-religion unt glaub iç s-so s-so was in der Art da. Ham mer gemacht mit so mit s-so was in dea a:t da. ham məә gemaxt mit so mit 11
Beispiel 4 Stimmwahln so Stimmzetteln u-und Wahlen halt ʃtimmwa:ln so ʃtimmtsetln u-und wa:ln halt genau so was mmm. Afa nu e Kreuz mache un des genau so was m: afa nu e kroits machəә un dəәs war s. Schluss. Mea bam a nich zu wissn. wa:s ʃluß. mea bam a niç tsu wisn Beispiel 4 5 4 Beurteilungen 3 2 1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Experten 12
Beispiel 4 0% 14% 23% 36% 27% 1= Stottern 2= Poltern 3= gemischt, mehr Poltern 4= gemischt, mehr Stottern Bsp 5, männlich, 15;1 Jahre 13
Beispiel 5 Kommunikationsstörung in Form von Stottern mit Laut-, Silben und Wortwiederholungen, Dehnungen und Blocks mit Begleitsymptomatik (Satz- und Wortabbrüche, Satzteilwiederholung, Mitbewegungen von Kopf/Lippen, Augenzwinkern, Anstieg der Tonhöhe im Symptom, Füllwörter) Beispiel 5 5 4 Beurteilungen 3 2 1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 Experten 14
Beispiel 5 0% 23% 0% 0% 77% 1= Stottern 2= Poltern 3= gemischt, mehr Poltern 4= gemischt, mehr Stottern Ergebnisse (1) Zwei Beispiele wurden übereinstimmend als reine Stotterer gewertet. (Beispiele 2 und 3) Beurteilungen für die anderen Beispiele variierten. 15
Sprecher 1: Stottern Poltern Ergebnisse (2) 5% (1 mal) 5% (1 mal) gemischte Symptome, hauptsächlich Poltern gemischte Symptome, hauptsächlich Stottern 27 % (6 mal) 63% (14 mal) Sprecher 4: Ergebnisse (3) Stottern Poltern 14% (3 mal) 27% (6 mal) gemischte Symptome, hauptsächlich Poltern gemischte Symptome, hauptsächlich Stottern 36% (8 mal) 23% (5 mal) 16
Sprecher 5: Ergebnisse (4) Stottern 77% (17 mal) Poltern 0% gemischte Symptome, hauptsächlich Poltern gemischte Symptome, hauptsächlich Stottern 0% 23% (5 mal) Sprecher 6: Stottern Poltern Ergebnisse (5) 63% (14 mal) 27% (6 mal) gemischte Symptome, hauptsächlich Poltern gemischte Symptome, hauptsächlich Stottern Keine Symptome 5% (1 mal) 0% 5% (1 mal) 17
Diskussion (1) Beurteilungen stimmen überein in bestimmten Fällen. Sobald Poltern aufgetreten ist, gingen die Meinungen auseinander. Diskussion (2) Bsp 5: Ansteigen der Tonhöhe im Symptom. Dadurch dachten 5 Beurteiler, dass zusätzlich zum Stottern auch Poltern auftritt. Abgesehen davon jedoch Übereinstimmung, dass mehr Stottern vorliegt. 18
Diskussion (3) Bsp 1, 4, und 6: Es treten poltertypische Symptome auf: Hohe Sprechgeschwindigkeit Bestimmte Unflüssigkeiten (Teilwort-Wdh.) Artikulationsfehler (z.b. Auslassungen) Probleme in der Sprechplanung (z.b. übermäßiger Gebrauch von Füllwörtern, falsche grammatikalische Strukturen) Beispiel Probleme in der Sprechplanung: Der Sprecher benötigt 18 Wörter um einen 7-Wort-Satz zu bilden. In der Schule rede ich sehr wenig. 19
Beispiel Also also ich ma-ma-meist in der Schule h-halt also also iç ma-ma-maist in dea ʃu:ləә h-halt also ich red ja sehr wenig in der Schule eigentlich. also iç ret ja zea wenik in dea ʃu:ləә aigentliç. In der Schule rede ich sehr wenig. Diskussion (4) Beurteilungen wurden ausschließlich gemacht durch Anhören und Ansehen der Beispiele. Weitere Informationen wurden nicht gegeben. 20
Ergebnisse (1) Poltern ist wie ein unvollständiges Puzzle (St. Louis et.al., in press) Dringende Notwendigkeit einer allgemein akzeptierte Definition um Poltern von anderen Störungsbildern abgrenzen zu können. Ergebnisse (2) Die Studie zeigte, dass es besonders schwer ist, Poltern von Stottern zu unterscheiden. 21
Ergebnisse (3) Es wäre hilfreich, Unterschiede zum Stottern in die Definition von Poltern aufzunehmen. International Cluttering Association (ICA) http://associations.missouristate.edu/ica/ ******************************** Interdisziplinäre Vereinigung für Stottertherapie www.ivs-online.de 22
Herzlichen Dank an die Jugendlichen und die Spezialisten (Mitglieder der ) die an dieser Studie teilgenommen haben. 23