Katja Gaschler / Anna Buchheim (Hg.) Kinder brauchen Nähe Sichere Bindungen aufbauen und erhalten
DIE MACHT DER NÄHE kehrt nach weiteren drei Minuten zurück. Der Wechsel von Trennung und Wiedervereinigung wird insgesamt zweimal wiederholt. Der Weggang der Bindungsperson löst bei dem Kind Unbehagen aus. Alles, was es in dieser Zeit tut oder lässt, ob und wie es den Kontakt zur Mutter sucht, wird protokolliert. Aus den so gewonnenen Daten lassen sich zunächst drei klassische Bindungsmuster ableiten (s. Kasten, S. 1). Ein sicher gebundenes Kind äußert in der»fremden Situation«deutlich seinen Trennungsschmerz, lässt sich von der zurückkehrenden Mutter jedoch recht schnell beruhigen und wendet sich dann wieder erkundend der Umwelt zu. Ein unsicher vermeidend gebundenes Kind zeigt dagegen kaum Trennungsschmerz. Es neigt eher dazu, seinen Kummer zu unterdrücken, mustert scheinbar ungerührt das Umfeld oder senkt gar den Blick, wenn die Mutter wieder zur Tür hereinkommt. Ein Kind mit unsicher ambivalenter Bindung hat gelernt, dass es die Nähe zur Bindungsperson am besten aufrechterhält, wenn es weint oder sonstwie lautstark protestiert. Die Umgebung erkundet es kaum. Ein solches Kind lässt sich nur schwer besänftigen, es verhält sich einerseits klammernd, andererseits oft widerspenstig. Der»Fremde-Situation-Test«wurde mittlerweile hundertfach erprobt. Die Mehrzahl der untersuchten Kinder, in der Regel zwischen 50 und 80 Prozent, wird als sicher gebunden klassifiziert, 30 bis 40 Prozent als unsicher vermeidend und 3 bis 15 Prozent als unsicher ambivalent. Wie mehrere Studien belegen, sagt das frühe Bindungsmuster auch viel über das Sozialverhalten im späteren Kindes- und Jugendalter aus. Stellt man etwa Fünf- bis Zehnjährigen Aufgaben zur Konfliktlösung, so bleiben die sicher gebundenen Kinder meist länger bei der Sache. Sie initiieren seltener Streit und gehen offener mit Konflikten um als unsicher gebundene Kinder, denen es oft schwer fällt, Hilfe zu suchen und vertrauensvoll anzunehmen. Eine sichere Bindung wirkt somit als Schutz für die Entwicklung der Persönlichkeit. Umgekehrt stellt eine unsichere Bindung einen Risikofaktor dar, vor allem in Kombination mit Belastungen wie Scheidung der Eltern oder Verlust von Angehörigen. Neben den drei genannten Bindungstypen beobachteten Psychologen seinerzeit noch ein weiteres Verhaltensmuster, das sie nicht eindeutig zuordnen konnten. Manche Kinder wirken in der»fremden Situation«verwirrt oder sogar ängstlich in Anwesenheit ihrer Bindungsperson. Bei deren Rückkehr suchen sie manchmal 3
FRÜHE BINDUNG zunächst ihre Nähe, brechen dann aber den direkten Kontakt ab, indem sie sich etwa zu Boden fallen lassen oder sich abwenden und weinen. Die Psychologinnen Mary Main und Judith Solomon von der University of California in Berkeley benannten für diese Gruppe eine eigene Kategorie:»desorganisiert/desorientiert«gebunden. Solche Kinder reagieren widersprüchlich auf die Trennung und zeigen beispielsweise auch deutlich erkennbare Furcht vor der Bindungsperson, an die sie sich nicht wenden können. Derart paradoxe Gefühle können Einjährige nicht auflösen. Das äußert sich zum Beispiel in ihren gesteigerten physiologischen Stressreaktionen. Im Speichel von»desorientierten«kleinkindern finden sich erhöhte Werte von Cortisol, einem Stresshormon, das den Hypothalamus schädigen kann. Später verhalten sich diese Kinder eher aggressiv oder unsozial vermutlich auf Grund ihrer mangelnden Fähigkeit, negative Gefühle gegenüber anderen zu regulieren. Im Fokus: Die frühen Bindungserfahrungen der Eltern Mag auch das Bindungsbedürfnis angeboren sein, so gilt doch die Art des individuellen Bindungsverhaltens als erworbene Anpassungsleistung. Temperament oder andere konstitutionelle Faktoren allein können es jedenfalls nicht erklären. Vielmehr prägt anscheinend der elterliche Umgang mit dem Nähebedürfnis des Kindes, wie viel Sicherheit es in der Bindung erwirbt. So ist das widersprüchliche Verhalten von unsicher oder desorientiert gebundenen Kindern oft auf inkonsistente, schwer vorhersagbare oder ängstigende Reaktionen der Eltern zurückzuführen. Deren Verhalten hängt seinerseits stark von den eigenen Bindungserfahrungen ab. Mütter und Väter, die ihre Erlebnisse im Elternhaus in ein ausgewogenes Bild bringen können, zeigen sich gegenüber dem eigenen Nachwuchs feinfühliger als jene, die noch immer in ambivalente Erinnerungen verstrickt sind oder sich emotional stark distanziert haben. Die Psychologin Carol George vom Mills College in Oakland entwarf Ende der 1980er Jahre einen Befragungsleitfaden für Erwachsene, das so genannte»adult Attachment Interview«(AAI), mit dem die Qualität der frühen Bindungserfahrungen eingeschätzt wird. Das Gespräch dreht sich dabei überwiegend um die Kindheit 4
DIE MACHT DER NÄHE der Betroffenen so sollen sie zum Beispiel die Art der Beziehung zu den Eltern mit verschiedenen Adjektiven charakterisieren. Die Aufforderung, sich an Situationen von Kummer oder Krankheit zu erinnern sowie an frühe Trennungen von den Eltern, versetzt die Befragten in einen Zustand, der das Bindungsbedürfnis aktiviert. Diese Stimulierung wird dann durch konkretes Nachfragen nach Bedrohungen oder Misshandlungen, nach Tod und Verlust in der eigenen Familie noch verstärkt. Die Antworten prüfen Psychologen auf Geschlossenheit und Stimmigkeit im Fachjargon Kohärenz und Konsistenz genannt. Als kohärent gilt, wenn die befragte Person ihre Aussagen anschaulich belegt, sich auf den Inhalt der Fragen bezieht sowie informativ und klar berichtet. Konsistenz meint den Gehalt und logischen Aufbau des Berichts. Anhand eines solchen Interviews etwa mit Schwangeren können Psychologen das spätere Bindungsverhalten des Kindes im»fremde-situation-test«mit bis zu 85-prozentiger Sicherheit vorhersagen das belegen inzwischen mehrere Studien. Leidet die Mutter an einem unverarbeiteten Verlust oder spricht sie auffällig desorientiert über Themen von Missbrauch oder Misshandlung, so neigt auch das Kind eher zum desorientierten Bindungsmuster. Offenbar reaktivieren die Bedürfnisse des Kleinkindes bei der Mutter eigene traumatische Erfahrungen und ihre Angst überträgt sich auf das Kind. Die vierstufige Klassifikation der Bindungsmuster gilt somit analog auch für Erwachsene. Als Zeit sparende Alternative zu dem 60- bis 90-minütigen Adult Attachment Interview und seiner aufwändigen Auswertung entwickelten Carol George und ihre Mitarbeiter im Jahr 1999 das so genannte»adult Attachment Projective Picture System«(AAP). Dieser»Projektive Bindungstest für Erwachsene«besteht aus einem Set von acht Umrisszeichnungen, die verschiedene bindungsrelevante Szenen darstellen: zum Beispiel einen Abschied am Bahnhof, oder ein Kind, dass in abwehrender Haltung in der Ecke steht oder auf einer Bank kauert (s. Abb. 1, S. 6, Kasten S. 33). In festgelegter Reihenfolge konfrontieren die Bilder mit Themen wie Trennung, Bedrohung oder Verlust und aktivieren so das Bindungssystem des Betrachters. Dieser soll zu den dargestellten Szenen eine eigene Geschichte erzählen, wobei auch autobiografische Elemente einfließen können. Der Testleiter achtet darauf, ob der Befragte etwa bei einem Bild wie»kind in der Ecke«das Angst vor Misshandlung suggeriert, das Gefühl der Bedrohung integrieren 5
FRÜHE BINDUNG ABB. 1 SEELENBILDER Wie Patienten solche Zeichnungen mit bindungsrelevanten Szenen beschreiben, lässt Rückschlüsse auf die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen in ihrer Kindheit zu. C. George, M. West, O. Pettem (1999) kann. In diesem Fall kommt in der Erzählung jemand zur Hilfe, oder das Kind findet einen Weg sich selbst zu schützen. Je besser Eltern ihre eigenen Bindungserfahrungen verarbeitet haben, desto sensibler gehen sie mit ihrem Nachwuchs um und desto tragfähiger ist die Bindung zu ihnen. Nach Meinung klinischer Bindungsforscher hängt dies entscheidend vom Erwerb der so genannten Mentalisierungsfähigkeit ab (englisch: Theory Of Mind). Dieser Begriff, geprägt von den Psychoanalytikern Peter Fonagy und Mary Target vom Anna Freud Center in London, bezeichnet das Vermögen, sich in das komplexe mentale Befinden anderer Menschen hineinzuversetzen. Die Borderline-Störung: Grenzgänger mit traumatischer Vergangenheit Damit Kinder ihre soziale Umwelt adäquat wahrnehmen und sich mit ihr auseinandersetzen können, müssen sie unterschiedliche Perspektiven einnehmen und die emotionalen Zustände anderer nachempfinden. Genau das scheint bei manchen Persönlichkeitsstörungen, vor allem bei Borderline-Patienten, gehemmt zu sein. Zu den typischen Merkmalen der Borderline-Störung gehören immer wieder auftretende innere Spannungen, Kontrollverluste mit impulsiven Ausbrüchen sowie die Neigung zu selbstverletzendem Verhalten bis hin zum Suizidversuch. Die Symptome fußen auf einer schweren Identitätsstörung mit instabiler Beziehung zu sich selbst und anderen. Viele Borderline-Patienten haben nie gelernt, 6
DIE MACHT DER NÄHE ihre Lebenserfahrungen und widerstreitenden Gefühle in ein Gesamtbild von sich und der Welt zu vereinen. Der Grund sind meist frühe traumatische Erlebnisse wie emotionale Vernachlässigung durch die Eltern, Misshandlung oder sexueller Missbrauch. Entsprechend lassen Borderline-Patienten im AAI häufig»ungelöste Traumata«erkennen. Die Betroffenen können ihre Erlebnisse kaum kohärent wiedergeben; oft bagatellisieren sie die erlittenen Verletzungen oder schreiben sich selbst die Schuld daran zu. Ihre Desorientierung äußert sich sprachlich etwa darin, dass sie die räumliche und zeitliche Perspektive wechseln oder zwischen Täterund Opfersicht schwanken. Sie legen ungewöhnlich lange Redepausen ein oder schildern unlogische Zusammenhänge. Solche Patienten haben vermutlich bereits im Kindesalter aufgehört, über sich und andere nachzudenken. Nur so konnten sie mit der misshandelnden Bindungsperson weiter zusammenleben, von der sie abhängig waren. Eine solche Flucht vor erschreckenden Gedanken und Gefühlen ist auch bei Folteropfern zu beobachten. Die Wirkung ihres impulsiven Handelns auf andere blenden Borderline- Patienten entweder aus oder interpretieren sie falsch. Dies zeigt deutlich, wie wichtig es für eine gesunde Persönlichkeit ist, die Bewusstseinszustände anderer erkennen und auf sie reagieren zu können. Neurobiologische Perspektiven Die Psychobiologie des Bindungsverhaltens wurde bislang hauptsächlich an Tieren erforscht (s.»wie Bindung das Gehirn verändert«, S. 25). Beim Menschen eröffnen funktionelle bildgebende Verfahren heute neue Perspektiven. Forscher können damit die Hirnaktivität von Patienten beim Lösen kognitiv-emotionaler Aufgaben messen. Sabine Herpertz von der Universität Rostock untersuchte bereits 2001 mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fmrt) Borderline-Patienten, während diese Fotografien mit Furcht einflößendem Inhalt betrachteten. Verglichen mit Gesunden zeigten die persönlichkeitsgestörten Testpersonen eine besonders starke und schnelle Aktivierung der Amygdala. Diese Hirnregion im limbischen System ist für die emotionale Bewertung von Reizen zuständig und dabei besonders für die Auslösung von angstgeleitetem Verhalten. QUELLEN Buchheim, A. et al.: Neural Correlates of Attachment Trauma in Borderline Personality Disorder: A Functional Magnetic Resonance Imaging Study. In: Psychiatry Research: Neuroimaging 163, S. 223 235, 2008 Herpertz, S.C. et al.: Evidence of Abnormal Amygdala Functioning in Borderline Personality Disorder: A Functional MRI Study. In: Biological Psychiatry 50, S. 292 298, 2001 Buchheim, A., George, C.: Attachment Disorganization in Borderline Personality Disorder and Anxiety Disorder. In: Solomon, J., George, V. (Hg.): Disorganization of Attachment and Caregiving, S. 343 383: Guilford Press: New York 2011 Buchheim, A. et al.: Changes in Prefrontal-limbic Function in Major Depression after 15 Months of Long-term Psychotherapy. PLoS One 7(3): e33745 doi: 10.1371/journal.pone. 0033745 7