Angehörige in der Psychiatrie angehört? zugehört? ungehörig?

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Transkript:

Angehörige in der Psychiatrie angehört? zugehört? ungehörig? Dr. med. Julius Kurmann Chefarzt Luzerner Psychiatrie, Stationäre Dienste MAS Philosophie + Management unilu 9. Juni 2016

Agenda Geschichte der Angehörigenarbeit Rolle der Angehörigen Stand des heutigen Wissens Warum ist die Angehörigenarbeit auch heute noch kein selbstverständlicher Bestandteil in der psychiatrischen Behandlung? Heutiges Angebot der Luzerner Psychiatrie

Geschichte der Angehörigenarbeit Seit ca. 1950 sinkt die Bettenzahl den Psychiatrischen Kliniken 1966 erste Forschungen über den Zusammenhang psychischer Störung und Familie. Später entwickelte sich daraus «Expressed-Emotion- Forschung». Im Zentrum stand der Einfluss der Angehörigen auf den Patienten! 1971 Gründung der ersten Angehörigenorganisation «National Schizophrenia Fellowship» in London. Im Zentrum stand die Belastung der Angehörigen! 1998 Gründung VASK Schweiz

Geschichte der Angehörigenarbeit 2006 Gründung Verein Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie NAP Aufgaben: gesundheitspolitische Vernetzung Präsenz in Berufsverbänden Wissenschaftliche Datenerhebung Etablierung der Angehörigenarbeit als selbstverständlicher Bestandteil in der Behandlung

Geschichte der Angehörigenarbeit 2011 Dokument der NAP als Empfehlung publiziert: «Qualitätsstandard Angehörigenarbeit in der Psychiatrie» Etablierung von Angehörigenberatungsstellen Verschiedene Angebote im Internet: Selbsthilfeforen, Ratgeber, Broschüren etc.

Rolle der Angehörigen Früher: «Studienobjekte» für genetische Untersuchungen «Anamnese-Lieferanten» «Täter» Schuldtragende «Opfer» der Krankheit des Familienmitglieds

Rolle der Angehörigen Entwicklung der Angehörigenvereinigungen: Selbsthilfe im Zentrum durch Unterstützung in der Not oder im Alltag durch gegenseitige Informationen Interessensvertretung gesundheitspolitischer Aktivitäten

Neue Rolle der Angehörigen Von den «Ungehörigen» zu kompetenten und informierten Angehörigen, die mit den Fachpersonen partnerschaftlich zusammenarbeiten. Das Hineinwachsen in diese neue Rolle ist ein Prozess und setzt eine intensive Auseinandersetzung mit der psychiatrischen Erkrankung voraus

Erstes Fazit Die Angehörigenorganisationen existieren und sind etabliert. Sie sind aktiv und nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken.

Stand des heutigen Wissens Viele Studien zeigen die vielfältigen Belastungen und Beeinträchtigungen von Angehörigen auf Trotzdem bleiben viele Fragen offen

Stand des heutigen Wissens: offenen Fragen Wegen methodologischen Problemen sind Studien schlecht vergleichbar Mangelnde Untersuchungen zu Unterschieden zwischen - Objektiver Belastung Durcheinandergeraten familiärer Abläufe, finanzielle Belastung, etc. - Subjektiver Belastung Grundhaltung gegenüber Krankheit, Selbstwirksamkeit - Krankheitsbezogene Belastung Bedeuten verschiedene Krankheiten unterschiedliche Belastungen? - Allgemeine Stressbelastung

Stand des heutigen Wissens: offene Fragen Was bewirkt die Belastung direkt und was ist die Auswirkung der Belastung, z.b. psychosomatische Beschwerden? Wie werden auch positive Aspekte (z.b. Gewinn aus der Betreuungssituation) berücksichtigt? Kaum repräsentative Untersuchungen Kaum Verlaufsuntersuchungen

Stand des heutigen Wissens: offene Fragen Unterschiedliche Angehörige werden miteinander «verglichen», beispielsweise Eltern von Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung mit Partnern von Menschen mi einer depressiven Erkrankung Die notwendigen Vereinfachungen in der Forschung können die Komplexität von sozialen Interaktionen sowie die subjektiven Sinnzusammenhänge (Sinnfrage) ungenügend abbilden.

Zweites Fazit Es braucht mehr und vor allem spezifischere Forschung. Viele Fragen sind unbeantwortet. Dies öffnet Tür und Tor für Mythen.

Und heute? Betroffene Angehörige Fachpersonen Unterschiedliche Perspektiven und Bedürfnisse Der Austausch ist notwendig institutionalisiert mit «Psychoseseminar» und «Trialog» und im Alltag?

Warum ist die Angehörigenarbeit auch heute noch nicht selbstverständlich? Es wird immer «neue» Angehörige und immer «neue» Fachpersonen geben Stigmatisierung kann folgende Auswirkungen haben: Scham, Rückzug Angehörige können nicht erreicht und involviert werden. Öffentlich-Machen Angehörige werden anklagend und bleiben misstrauisch gegenüber Psychiatrie Gegenseitige Vor-Urteile

Warum ist die Angehörigenarbeit auch heute noch nicht selbstverständlich? Gegenüber der Somatik ist der Krankheitsverlauf in der Psychiatrie deutlich länger, Entwicklung von Emotionen und Verstrickungen Dilemma: «Was ist Krankheit, was ist Persönlichkeit?» «Angehörigenarbeit ist schwierig»

Warum ist die Angehörigenarbeit auch heute noch nicht selbstverständlich? Unklare Rollen Ist Angehörigenarbeit «patientenorientiert» oder «angehörigenorientiert»? Dilemma des Therapeuten Kontrolle versus Autonomie Berufsgeheimnis Gleiches Behandlungsziel aber unterschiedliche Wege Mangelnde Ressourcen

Drittes Fazit Es bleibt noch viel zu tun: Entstigmatisierung unterstützen Vorurteile abbauen Öffentlichkeitsarbeit fördern

Heutiges Angebot der Luzerner Psychiatrie Angehörigen-Nachmittag Angehörigen-Gruppen Runder Tisch Angehörigen-Abend: seit 2009 niederschwellig Angehörigentelefon Angehörigenhandbuch Interne Standards

Ziele der Angehörigenarbeit der Luzerner Psychiatrie Die emotionale, psychische, soziale und finanzielle Belastung, welche die psychische Erkrankung eines Familienmitgliedes zur Folge haben kann, verringern und dadurch die Lebensqualität der ganzen Familie verbessern. Entlastung der Angehörigen. Verminderung von Rückfällen durch Krankheitsaufklärung aller Beteiligten, Vermittlung von Strategien, mit der Krankheit umzugehen. Der Stigmatisierung der Menschen mit einer psychischen Erkrankung. entgegenwirken. Abbau von Vorurteilen.

Behandlungsplan in der Luzerner Psychiatrie Biografie Copingstrategien Copingstrategien Psychopathologie Krankheitsanamnese Gemeinsames Behandlungsverständnis mit Ziel- und Auftragsklärung Entwicklungs- aufgaben Persönlich Entwicklungs- aufgaben Familie Soziales Netz Ressourcen Resilienz

Besonderheit: Behandlungsvereinbarung (BV) Die BV ist ein gemeinsames Dokument, das zwischen einem urteilsfähigen Patienten und den Stationären Diensten der Luzerner Psychiatrie und/oder der Ambulanten Nachsorge auf freiwilliger Basis erarbeitet wird. Sie legt den Rahmen für eine Behandlung in einem urteilsunfähigen Zustand fest. Sie kann umfassend alle Aspekte oder sich nur auf wenige Punkte konzentrieren. Sie ist immer individuell auf den Patienten bezogen. Sie ist zeitlich nicht limitiert. Sie hat einen vorausschauenden Charakter.

Besonderheit: Behandlungsvereinbarung Erhaltung oder gar Stärkung der Selbstbestimmung und der Selbständigkeit des Patienten. Stärkung des gegenseitigen Vertrauens: Patienten und Institution. Erhöhung der Behandlungs- und Betreuungsqualität. Entlastung aller Beteiligten bei allfälligen Behandlungen ohne Zustimmung.

Angehörige in der Psychiatrie angehört? Ja, die Angehörigenvereinigungen sind etabliert. Es gibt jedoch Potentiale in der Forschung.

Angehörige in der Psychiatrie zugehört? Nein, nicht immer. Es braucht stete Weiter- und Fortbildung. Wir müssen uns für den Abbau von Vorurteilen und für weitere Entstigmatisierung einsetzen.

Angehörige in der Psychiatrie ungehörig? Ja und nein. Auch die Angehörigen müssen sich bewegen, aktiv werden und weniger vorurteilsbehafteter auf Psychiatrie zugehen. «Hilfe kommt nicht automatisch». Die Psychiatrie muss sich der Kritik stellen, um sich weiter zu entwickeln.

Angehörige in der Psychiatrie Nur gemeinsame Gespräche bringen uns näher.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit