Masterarbeit im Lehramt Musik. Thema: Szenische Interpretation von Instrumentalmusik- Ansätze für eine erfahrungserschließende Musikvermittlung

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Transkript:

Universität Potsdam Humanwissenschaftliche Fakultät Department Lehrerbildung/ Bereich Musik Abteilung: Musikpädagogik und Musikdidaktik Themenstellerin: Dr. E.-M. Ganschinietz Masterarbeit im Lehramt Musik Thema: Szenische Interpretation von Instrumentalmusik- Ansätze für eine erfahrungserschließende Musikvermittlung Pfütz, Katharina Matrikelnummer: 730 466 Master Lehramt Gymnasium Musik/ Lebensgestaltung-Ethik- Religionskunde Flämingstraße 37, 16227 Eberswalde k.pfuetz@telta.de Eingereicht am 05.08.2010 1. Gutachterin: Dr. E.-M. Ganschinietz 2. Gutachter: Dr. A. Brunner

Inhaltsverzeichnis 1. Zieldefinition und Aufgabenstellung... 1 2. Szenische Interpretation von Musiktheater- Theoretische Hintergründe... 4 2.1. Erfahrungserschließende Musikerziehung nach Rudolf Nykrin... 5 2.2. Szenisches Spiel als Vermittlungsmethode im erfahrungsorientierten Unterricht nach Ingo Scheller... 6 2.3. Tätigkeitspsychologisch fundiertes Handlungskonzept nach Wolfgang Martin Stroh... 8 3. Szenische Interpretation von Musiktheater nach Wolfgang Martin Stroh, Rainer Brinkmann, Markus Kosuch und Ralf Nebhuth... 10 3.1. Begriffsbestimmung... 10 3.2. Anliegen... 11 3.3. Struktur und grundlegende Verfahren... 11 3.4. Schaffung eines Erfahrungsraumes... 18 3.5. Zusammenfassung... 19 4. Szenische Interpretation von Instrumentalmusik... 19 4.1. Instrumentalmusik als Szene... 19 4.2. Soziale Situationen eines Instrumentalmusikwerkes und ihre Übertragung in Spielszenen... 20 4.2.1. Die Musik als Szene... 20 4.2.2. Der Kontext als Szene... 23 4.2.3. Schlussfolgerungen für die Entwicklung eines Spielkonzepts... 25 4.3. Szenische Interpretation von Instrumentalmusik im erfahrungserschließenden Musikunterricht... 30 4.4. Zusammenfassung... 35 5. Spielkonzept zum 3. Satz des Klarinettenquintetts op. 115 h-moll von Johannes Brahms... 36 5.1. Eignung für eine Szenische Interpretation... 36 5.2. Schülerrelevante Kernidee und Musikalisches Hauptziel... 37 5.3. Voraussetzungen der Lerngruppe... 40 5.4. Verfahren... 41 5.4.1. Unterrichtseinheit: Die Musik als Szene... 41 5.4.2. Unterrichtseinheit: Der Kontext als Szene... 53 5.5. Fazit... 64 6. Zusammenfassung... 65 7. Literaturverzeichnis... 68

Anhang... 72 Material 1: Offene Fantasiereise... 72 Material 2: Arbeitsauftrag zur Entwicklung einer Spielszene... 73 Material 3: Arbeitsblatt Klarinettenquintett op. 115 h-moll von Johannes Brahms... 74 Material 4: Rollenkarten Szene 1... 75 Material 5 : Rollenkarten Szene 2... 76 Material 6 : Rollenkarten Szene 3... 78 Material 7: Arbeitsauftrag Szene 1... 79 Material 8: Arbeitsauftrag Szene 2... 80 Material 9: Partiturausschnitte Szene 2... 81 Material 10: Arbeitsauftrag Szene 3... 83 Material 11: Übersicht zu Phasen, Verfahren und Materialien... 85 Partitur... 87 Eidesstattliche Erklärung... 93 Begleit-CD (Audio) zur Szenischen Interpretation des 3. Satzes des Klarinettenquintetts op. 115 h-moll von Johannes Brahms - Die Musik als Szene: Track 1-4 - Der Kontext als Szene: Track 5 und 6 Begleit-Präsentation (DVD+R) zur Szenischen Interpretation des 3. Satzes des Klarinettenquintetts op. 115 h-moll von Johannes Brahms - Verfahren im Unterrichtsversuch

1. Zieldefinition und Aufgabenstellung Es geht im Umgang mit musikalischen Gegenständen nicht mehr darum, herauszubekommen, was der Meister uns sagen will [ ] oder wie ein Werk richtig verstanden werden soll [ ]. Es geht vielmehr darum, dass die Beteiligten sich - in einem pädagogisch definierten Erfahrungsraum eine Bedeutung selbst erarbeiten. (Kosuch 2007, S. 14; Hervorhebung im Original) Die erfahrungserschließende Musikvermittlung geht davon aus, dass nur durch Erfahrungen gelernt wird. So forderte Rudolf Nykrin bereits in seiner 1978 vorgelegten Erfahrungserschließende[n] Musikerziehung: Konzept-Argumente-Bilder einen Musikunterricht, der an Erfahrungen der SchülerInnen anknüpft und ihnen im Umgang mit musikalischen Gegenständen neue musikalische Erfahrungen ermöglicht. Nur so könne eine Kompensation und Aufklärung von Erfahrungseinschränkungen (Nykrin 1978, S. 181) möglich und die Musik den Schüler- Innen durch Erarbeitung eigener Deutungen zugänglich gemacht werden. Zu diesem Schluss kommt auch die Musikpädagogin und -wissenschaftlerin Sigrid Gaiser, die in ihrer Studie Einstellungen zum Begriff klassische Musik von 2008 die Vermittlung klassischer Musik 1 im Unterricht betrachtet. Während die SchülerInnen Rock- und Popmusik in ihrem Alltag durch eigenen Umgang erleben und so Erfahrungen damit sammeln können, ist nach Gaiser der vermutlich einzige Ort der Begegnung mit klassischer Musik der schulische Musikunterricht. Nach Gaiser sollte dieser deshalb einen wirkliche[n] Umgang mit Musik (Gaiser 2008, S. 48) ermöglichen, in dem er das praktische Erleben und Erfahren in den Vordergrund rückt. Nur wo eigene Erfahrungen mit Musik gemacht würden, wäre die Entwicklung einer differenzierten Einstellung zu ihr möglich (vgl. Gaiser 2008, S. 48). Doch wie sieht Musikvermittlung klassischer Musik heute aus? Schaut man sich aktuelle Lehrbücher für den Sekundarstufenbereich an, fällt auf, dass das Vorgehen, vor allem im Bereich der Instrumentalmusik, meist musikanalytischer Natur ist. Dabei werden die Werke auf ihre musikalischen Themen und Motive hin untersucht und musikalische Strukturen und Formen analysiert. Ergänzend finden biografische Daten des Komponisten Erwähnung. Eigene musikalische Tätigkeit der SchülerInnen erschöpft sich im Nachspielen der Motive und 1 Der Begriff der klassischen Musik wird hier in Anlehnung an Gaiser in ihrer am häufigsten gebräuchlichen Deutung: Ernste Musik in Abgrenzung zur Unterhaltungsmusik (Gaiser 2008, S. 45) gebraucht. 1

Musizieren von Mitspielsätzen (vgl. Behrend/ Streerath 2008, S. 118, S. 132 u.a.). Dieser musikanalytische Schwerpunkt zeigt sich auch bei anderen methodischen Zugängen, wie dem Visualisieren von Klängen, Verläufen oder Formen (vgl. Heukäufer 2007, S. 249 f.), Musik malen zur Verbildlichung musikalischer Strukturen und Verläufe (vgl. Heukäufer 2007, S. 182 f.), oder der personalen Interpretation von Musik. Dort werden einzelne Motive als Personen verstanden und die Musik als ihre Geschichte (vgl. Schmidt 1995) aufgefasst. Bewegung zur Musik als Interpretationshilfe (vgl. Heukäufer, S. 92, 118 f.) und die Darstellung als Verkleidungs- und Rollenspiel (vgl. Richter 1993) knüpfen zwar schon an Erfahrungen der SchülerInnen an, haben aber auch eher Musikanalyse unterstützende Funktion. Die Szenische Interpretation von Musiktheater hat einen anderen Ansatz. Ursprünglich auf Musiktheater und Oper angewendet, inzwischen aber auch erfolgreich auf Lieder, Umgangsweisen mit Musik und interkulturelle Musik übertragen (vgl. ISIM 2 2006), werden die behandelten Werke durch szenisches Spielen und musikalische Tätigkeit für die SchülerInnen erleb- und erfahrbar. Musikanalyse wird in Vorbereitung auf den Spielprozess durch den Spielleiter durchgeführt, der anhand musikalisch und sozial relevanter Ideen des Werkes Lernsituationen auswählt und gestaltet. 3 Der Weg des musikalischen Lernens führt dabei über die körperlich-sinnliche Begegnung mit Musik zum Machen musikalischer Erfahrungen (vgl. Schönebeck 1995, S. 24), die innerhalb des Prozesses reflektiert werden. Es handelt sich hierbei um Körperlernen (Stroh 1994, S. 9). Die Szenische Interpretation von Musiktheater lernte ich im Rahmen meiner schulpraktischen Übungen an der Universität Potsdam kennen. Dort unterrichtete ich eine kurze Einheit zum Musical West Side Story, das als ausgearbeitetes Spielkonzept 4 vorliegt (Kosuch/ Stroh 1997). Im Praxissemester konnte ich dieses Spielkonzept in einer längeren Unterrichtsphase ausprobieren und stellte fest, dass die SchülerInnen in diesen Stunden mit viel Freude und Spaß am Musikunterricht 2 ISIM: Das Institut für Szenische Interpretation von Musik und Theater ist ein Zusammenschluss von Personen und Institutionen, die Szenische Interpretation einsetzen und konzeptionell weiterentwickeln, sowie ein Forum für Interessierte, die mit dieser Methode arbeiten wollen. 3 So können in einer Lernsituation durchaus musikanalytische Elemente vorhanden sein, diese dienen aber immer der Verdeutlichung der Kernidee eines Spielkonzepts. 4 Unter dem Begriff Spielkonzept wird eine Spielanleitung mit Verfahren zur Szenischen Interpretation eines konkreten Musikwerks verstanden. 2

teilnahmen. Daraufhin besuchte ich Kurse in Szenischer Interpretation, welche mich in ihrem Lerngehalt so überzeugten, dass ich mich zu einer Spielleiterausbildung an der Staatsoper Berlin entschloss, um die Methode effektiver im Unterricht einsetzen zu können. Dabei interessierten mich insbesondere die Einsatzmöglichkeiten bei Instrumentalmusik, da ich im Praxissemester die Erfahrung machte, dass die SchülerInnen bei der Beschäftigung mit Instrumentalmusik auf herkömmliche Art gelangweilt und desinteressiert waren, während sie bei der Szenischen Interpretation von Musiktheater mit viel Freude agierten. So kam ich auf die Idee Instrumentalmusik mithilfe der Szenischen Interpretation zu unterrichten, um den SchülerInnen durch praktisches Erleben und Erfahren einen Zugang zu dieser Musik zu ermöglichen und darüber hinaus einen Musikunterricht zu gestalten, an dem sie mit Spaß und Spielfreude teilnehmen. Bei der Suche nach geeigneten Spielkonzepten fand ich lediglich drei, die sich überhaupt mit Instrumentalmusik beschäftigten (vgl. ISIM 2006). Zwei von ihnen waren für den Einsatz in den Sekundarstufen vorgesehen, griffen aber nur Teilaspekte der Szenischen Interpretation auf. 5 Zudem stieß ich auf einen Aufsatz Wolfgang Martin Strohs zur Szenischen Interpretation absoluter Musik (Stroh 2007b), der wichtige Überlegungen für die Entwicklung eines Spielkonzepts gibt, aber keine konkreten Vorschläge macht. An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an, in dem sie ausgehend von theoretischen Überlegungen eine Anwendung von Szenischer Interpretation auf Instrumentalmusik ermöglicht und konkrete Vorschläge zu deren Umsetzung im Musikunterricht der Sekundarstufen gibt. Die Arbeit gliedert sich dafür in einen fachwissenschaftlichen und einen empirischen Teil. Im fachwissenschaftlichen Teil der Arbeit (Kapitel 2-4) wird die Szenische Interpretation von Musiktheater zunächst durch Darlegung von Ursprung und Entwicklung als Methode im erfahrungserschließenden Musikunterricht vorgestellt und in ihren zentralen Aspekten beschrieben. In Kapitel 4 wird die Anwendung Szenischer Interpretation auf Instrumentalmusik theoretisch begründet und daraus abgeleitet Schlussfolgerungen für den Aufbau eines Spielkonzepts, Stückauswahl und Anwendbarkeit musikalischer Verfahren gezogen. Da die 5 Bedeutungskonstruktion anhand des zweiten Satzes des Klavierkonzerts Nr. 4 von Beethoven; sozialgeschichtlicher Kontext eines Werkes anhand des zweiten Streichquartett Schönbergs (vgl. Stroh 2007a) 3

Szenische Interpretation von Instrumentalmusik als Vermittlungsmethode im erfahrungserschließenden Musikunterricht eingesetzt werden soll, wird anschließend gefragt, welche musikalischen Erfahrungen durch sie ermöglicht werden. Im empirischen Teil der Arbeit (Kapitel 5) wird exemplarisch ein Spielkonzept Szenischer Interpretation von Instrumentalmusik zum dritten Satz des Klarinettenquintetts von Johannes Brahms sowie seine Erprobung im Grundkurs Musik der 11. Klasse am Gymnasium Finow in Eberswalde vorgestellt. Zu diesem Werk kam ich zufällig durch einen Artikel von Christoph Richter (2007, S. 3), in dem er den zweiten Satz des Klarinettenquintetts als Beispiel für das Betrachten von klassischer Musik im Unterricht anführt. Die Annahmen, dass durch Anwendung der Verfahren der Szenischen Interpretation ein praktisches Erleben und Erfahren von Instrumentalmusik möglich wird und die SchülerInnen mit Spaß und Freude an einem so gestalteten Musikunterricht teilnehmen, sollen in der Auswertung der Unterrichtserprobung überprüft werden. Für die Bearbeitung des Themas wurde auf Literatur zur Szenischen Interpretation von Ingo Scheller sowie auf Szenische Interpretation von Musik und Theater zurückgegriffen. Dort wurde mit dem Methodenkatalog zur Szenischen Interpretation von Musiktheater von Brinkmann, Kosuch, Stroh und Nebhuth von 2001, diversen Spielkonzepten zu Musiktheaterwerken und Zeitschriftenaufsätzen, in welchen neuere Unterrichtsversuche, Forschungsansätze und theoretische Konzepte vorgelegt wurden, gearbeitet. Für die Entwicklung des Spielkonzepts habe ich auf musikwissenschaftliche Literatur zu den relevanten Themen zurückgegriffen. Wesentliche Quellen waren dabei die Veröffentlichungen der Johannes- Brahms-Gesellschaft. 2. Szenische Interpretation von Musiktheater- Theoretische Hintergründe In der reformpädagogischen Bewegung der 1970er Jahre entwickelten sich durch die Orientierung am Erfahrungshorizont der SchülerInnen neue Formen des Lernens. Entscheidender Impuls für den Bereich der Musikpädagogik war die Erfahrungserschließende Musikerziehung von Rudolf Nykrin. Parallel dazu entwickelte Ingo Scheller im Bereich der Literaturpädagogik ein Konzept des erfahrungsorientierten Unterrichts, der die Methode der Szenischen Interpretation zunächst für die Vermittlung von Dramen im Deutschunterricht einsetzte. 4

Im Folgenden sollen beide Linien in ihren für die Szenische Interpretation von Musiktheater grundlegenden Zügen dargestellt werden. Dabei soll der Schwerpunkt auf das Verständnis des Begriffs Erfahrung sowie seine Verknüpfung mit dem Handeln als konstitutive Bedingung gelegt werden. In Punkt 2.3. finden sich Ausführungen zum tätigkeitspsychologisch fundierten Handlungskonzept Wolfgang Martin Strohs, welches ausgehend von beiden Linien eine wissenschaftliche Grundlage für die Szenische Interpretation von Musiktheater liefert. 2.1. Erfahrungserschließende Musikerziehung nach Rudolf Nykrin In seiner Erfahrungserschließenden Musikerziehung von 1978 konzipiert Rudolf Nykrin einen Musikunterricht, der die SchülerInnen mit ihren subjektiven Erfahrungen in den Mittelpunkt des Unterrichts stellt. Dabei werden diese als Menschen mit der Einheit ihrer inneren und äußeren Tätigkeit; mit einem lebensgeschichtlich gewachsenen Hintergrund; mit je spezifischen und situationsspezifischen Auffassungen und Aktionsweisen; mit einer unverwechselbaren Identität (Nykrin 1978, S. 15 f.) angesehen. Der Musikunterricht gestaltet sich demnach als individuelle Auseinandersetzung der SchülerInnen mit einem Erfahrungsobjekt. Das Ziel ist es, Erfahrungsdefizite abzubauen: Allgemeine Aufgabe musikalischer Erziehung ist es, die Defizite musikalischer Erfahrung [ ] zu verringern oder zu korrigieren (Nykrin 1978, S. 129). Erfahrung im Allgemeinen versteht Nykrin als die von einer Person zum individuellen (personalen) Handlungs- und Deutungshintergrund verarbeiteten Wahrnehmungen von Reizen, Situationen und Geschehnissen, an denen sie beteiligt waren (Nykrin 1978, S. 23; Hervorhebung im Original). Diese Beteiligung setzt eine handelnde Tätigkeit voraus, bei der zum Einen Aspekte der Wirklichkeit von Musik (Nykrin 1978, S. 81) aufgegriffen werden und zum Anderen im Prozess der Tätigkeit eine reflexive Auseinandersetzung mit musikalischen Phänomenen (Nykrin 1978, S. 83) erfolgt. Die musikalische Erfahrung lässt sich nach Nykrin von zwei Seiten her betrachten. Einerseits trägt musikalische Erfahrung stets einen individuellen Charakter, da sie auf den einzelnen Menschen wirkt. Dazu gehören beispielsweise Erfahrungen, die aus dem Musikhören resultieren. Diese individuellen Erfahrungen sind personale, als solche unverwechselbare und nicht austauschbare Lebensdaten (Nykrin 1978, S. 40), die sich aufgrund ihrer Individualität schwer 5

kommunizieren lassen. Der Musikunterricht sollte deshalb Kommunikationschancen bieten, sich über individuelle musikalische Erfahrungen auszutauschen, in dem das entsprechende Vokabular für die Kommunikation angeboten und erarbeitet wird. 6 Andererseits trägt die musikalische Erfahrung gesellschaftlichen Charakter, da sie an Ausschnitten gesellschaftlicher Musikwirklichkeit (Nykrin 1978, S. 36) vollzogen wird. Dabei kann Musik als Teil einer sozialen Gesamtsituation erfahren werden, in der sie politischen, sozialen oder auch wirtschaftlichen Einflüssen ausgesetzt und in diese eingebettet ist. Erfahrungen mit Musik zu machen, heißt somit auch Erfahrungen mit der Gesellschaft zu machen: Musikalische Erfahrung ist Erfahrung mit Gesellschaft (Nykrin 1978, S. 36). 7 Die musikalischen Erfahrungen zu erschließen, das heißt im Unterricht zu rekonstruieren und zu deuten (vgl. Nykrin 1978, S. 130), bedarf es des Handelns der SchülerInnen: Im Handeln erfährt und bildet der Mensch sich selbst und seine Umwelt (Nykrin 1978, S. 134). Dazu sind im Rahmen der Musikerziehung geeignete Interventionen durch den Lehrer auszuwählen. Einige dieser von Nykrin vorgeschlagenen Interventionen sind jedoch in der Verknüpfung von Ziel und Durchführung problematisch. Für die Rekonstruktion und Deutung lebensgeschichtlich gemachter Erfahrungen schlägt Nykrin beispielsweise das Schreiben eines Aufsatzes zur eigenen musikalischen Erfahrung vor. Fraglich ist, ob die von ihm selbst als ungenügend eingestufte Fähigkeit der musikbezogenen Kommunikation der SchülerInnen für einen solchen Aufsatz ausreichend ist. 2.2. Szenisches Spiel als Vermittlungsmethode im erfahrungsorientierten Unterricht nach Ingo Scheller Das Szenische Spiel wurde in den achtziger Jahren mit dem Ziel entwickelt, SchülerInnen erfahrungs- und handlungsbezogene Zugänge zu literarischen Texten zu eröffnen. Dabei gab es unterschiedliche Ansätze bezüglich der pädagogischen Legitimierung ihres Einsatzes, von denen an dieser Stelle nur derjenige Ingo Schellers als Grundlage der Szenischen Interpretation von Musiktheater ausgeführt werden soll. 6 Nykrin fasst dies unter dem Begriff der musikbezogenen Kommunikationspraxis von Schülern (Nykrin 1978, S. 45) zusammen, welche durch musikalische Erziehung erweitert und verfeinert werden soll. 7 Die Inhalte musikalischer Erfahrungen bleiben bei Nykrin unbestimmt (vgl. Jank 2009, S. 53). 6

Ingo Scheller entwickelte das Szenische Spiel als Bestandteil eines erfahrungsorientierten Unterrichts, welchen er als Reaktion auf Erfahrungen als Deutschlehrer in unterschiedlichen Schulformen konzipierte. Der vorherrschende Unterricht war seiner Ansicht nach geprägt von Problemen, die sich aus der Verwissenschaftlichung, Individualisierung und der Entpersonalisierung des Unterrichts (Scheller 1987, S. 30) ergaben. Sie führten zur Vermittlung eines auf Informationen reduzierten Wissens und sorgten dafür, dass die Unterrichtsinhalte für die Schüler fremd blieben. Dieser unbefriedigende Umstand ließ Scheller nach Verfahren suchen, die den lustvollen Umgang mit Literatur fördern konnten und den Kommunikations- und Reflexionsformen der Schüler entsprachen. Er erprobte und überarbeitete verschiedene theater- und schauspielpädagogische Ansätze, beispielsweise von Brecht, Stanislawski, Boals und Morenos (vgl. Kosuch 2004, S. 7). Um den SchülerInnen den Zugang zu literarischen Texten zu ermöglichen, übernehmen sie im Szenischen Spiel Rollen und analysieren und interpretieren das Verhalten der Figuren vor ihrem eigenen Erlebenshorizont. So können die SchülerInnen Bezüge zwischen Inhalten des Textes und der eigenen Lebensbiografie herstellen. Die im Spiel gemachten Erlebnisse 8 werden dabei in unbewussten Haltungen, als Niederschläge real erlebter körperbestimmter Interaktionen (Scheller 1987, S. 59), beispielsweise Gestik, Mimik, Sprechweise und Tonfall, umgesetzt oder auch in bewussten Haltungen ausgedrückt. Die Erlebnisse werden nach Scheller zu Erfahrungen 9, wenn Entstehung und Wirkung dieser Erlebnisse in der jeweiligen Situation reflektiert werden. Diese Reflexion, die aus Vergleichen, Bewerten und bewusstem Erinnern (vgl. Scheller 1987, S. 61) besteht, umfasst somit eine Interpretation subjektiver Bedeutungen des Erlebten. Um die Verarbeitung von Erlebnissen zu Erfahrungen zu ermöglichen, muss der Unterricht zum Erfahrungsraum (Scheller 1987, S. 64) werden. Das Szenische Spiel bietet diesen Raum, in dem es durch seine Verfahren Erlebnisse ermöglicht 8 Scheller versteht unter Erlebnissen Reaktionen auf Situationen (Szenen) [ ] in die Schüler körperlich, emotional, denkend und handelnd eingebunden (Scheller 1987, S. 56) sind. Diese Reaktion wird durch vorangegangene Erlebnisse, Erwartungen und Erlebnisweisen beeinflusst. 9 Was Scheller unter Erfahrung versteht, wird im Gegensatz zu dem Begriff Erlebnis nicht explizit ausgeführt. Es lässt sich allerdings aus den weiteren Überlegungen Schellers ein für diese Arbeit ausreichendes Verständnis formulieren: Erfahrung ist ein (durch Reflexion) verarbeitetes Erlebnis. Dabei bleibt das konkrete Wesen der Erfahrung unklar, der methodische Ansatz Schellers wird davon jedoch nicht beeinträchtigt. 7

und Verarbeitungsstrategien anbietet. Dabei läuft die Verarbeitung von Erlebnissen zu Erfahrungen in den Schritten Aneignung, Verarbeitung und Veröffentlichung von Erfahrung ab. Als erster Schritt wird das Erlebnis reflektiert und in seiner subjektiven Bedeutsamkeit geprüft, Scheller spricht in diesem Zusammenhang von einer Aneignung von Erfahrung (Scheller 1987, S. 64). Dieser Schritt wird individuell durchgeführt, in dem sich der Einzelne fragt, was ihm an diesem Erlebnis besonders wichtig ist. Anschließend wird in einem zweiten Schritt die individuelle Ansicht durch Gespräche mit MitschülerInnen, in Konfrontation mit Anderen gebracht. So können sich neue Perspektiven eröffnen und eigene Ansichten überdacht werden. Dabei werden die Erfahrungen verarbeitet. Im dritten Schritt, der Veröffentlichung von Erfahrungen (Scheller 1987, S. 67) werden die Ansichten öffentlich dargestellt und diskutiert. Es erweitert sich der Kreis anderer Perspektiven durch Vorspielen von Szenen und der anschließenden Diskussion über das Gespielte. Bei der Beschreibung der drei Schritte in der Umwandlung von Erlebnissen zu Erfahrungen wird deutlich, wie individuell dieser Vorgang ist. Dem Lehrer kommt deshalb innerhalb des Szenischen Spiels eine zur herkömmlichen Musikvermittlung im schulischen Unterricht veränderte Rolle zu. Ist er sonst derjenige, der vorgibt, was gelernt wird, so wird er hier zu einem Moderator, der Lernsituationen und Verfahren anbietet und diese organisiert. Er steuert nicht auf ein vorgegebenes Lernergebnis für die SchülerInnen hin, sondern lässt Raum für deren eigene Erfahrungen und Deutungen. Scheller greift diesen Aspekt der subjektiven Deutung auf, in dem in späteren Veröffentlichungen statt von Szenischem Spiel von Interpretation die Rede ist. 2.3. Tätigkeitspsychologisch fundiertes Handlungskonzept nach Wolfgang Martin Stroh Mitte der 1980er Jahre begann die Übertragung der Szenischen Interpretation von Dramen auf Musiktheaterwerke, um diese im Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen zu vermitteln. Wolfgang Martin Stroh formulierte dafür ein Konzept, das den Erfahrungsbegriff Schellers aufgriff, diesen auf die Beschäftigung mit Musik im Unterricht bezog und dabei Ansätze der Tätigkeitspsychologen Rubinstein und Leontjew aufgriff. Grundlegend für dieses Konzept ist die Unterscheidung von Handlung und Tätigkeit. 8

Als Bezugsbegriff für die Musikpädagogik gilt für Stroh der musikalisch tätige Mensch (Stroh 1999, S. 9), weshalb sich diese mit einer Analyse musikalischer Tätigkeiten zu beschäftigen habe. Während Handlungen auf ein Ziel ausgerichtet sind, werden Tätigkeiten durch Motive initiiert, musikalische Tätigkeiten also durch musikalische Motive. Diese müssen weder bewusst noch sichtbar sein: Die Tätigkeitsebene gibt der Handlung ihren Sinn, stellt die Motive für das Handeln bereit und bildet den (meist nicht bewußten [!]) Rahmen für konkretes Handeln. (Oerter 1993, S. 262) Das Motiv einer Tätigkeit entwickelt sich aus den Bedürfnissen des Individuums (vgl. Leontjew 1987, S. 101), die sich im Rahmen ihrer Realisierung in Handlungen weiterentwickeln. So verändert der tätige Mensch durch seine Handlungen nicht nur seine Umwelt, sondern durch die Weiterentwicklung seiner Bedürfnisse auch sich selbst. Dies wird als Aneignung von Wirklichkeit bezeichnet. Auf musikalische Tätigkeit bezogen heißt das: Aneignung beinhaltet [ ] jedwede Form der Musikrezeption, die darin besteht, daß [!] Musikstrukturen an vorhandene Schemata assimiliert oder zu neuen internalen Ordnungen aufgebaut werden. (Oerter 1993, S. 255) Die musikalische Tätigkeit ist Aneignung von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln (Stroh 1999, S. 11) und somit ein aktiver Prozess. Sie geht über das Erlernen musikalischer Fertigkeiten hinaus und lässt eine umfassendere Aneignung von Wirklichkeit zu, in dem beispielsweise bei einem politischen Lied nicht nur das Lied selbst gesungen, sondern auch eine Singhaltung eingenommen wird, bei der die Aussage des Textes ausgedrückt, kommentiert und so reflektiert wird. Erfahrungen sind für Stroh Ergebnisse von Handlungen und somit auf Tätigkeiten angewiesen. Ein Musikunterricht, der Erfahrungen ermöglichen will, kann deshalb nicht bei der Planung von Handlungen stehenbleiben, sondern muss die Analyse von Tätigkeitsmotiven einbeziehen, um ihre Wichtigkeit für die Aneignung von Wirklichkeit zu verdeutlichen. Nach Stroh geschieht genau das bei der Szenischen Interpretation, in dem den SchülerInnen aus einer Rollenperspektive heraus Motive für das Handeln anderer Menschen bewusst werden: Sie übernehmen im Sinne des Probehandelns solche Motive aus einer Rollendistanz heraus und erfahren, was es für die Aneignung von Wirklichkeit bedeutet, derart motiviert tätig zu sein. (Stroh 1999, S. 13) Durch die Verschränkung der Lebenswirklichkeit der SchülerInnen und der Wirklichkeit des Werkes, kann Musik verstanden werden (vgl. Stroh 1999, S. 11). 9

3. Szenische Interpretation von Musiktheater nach Wolfgang Martin Stroh, Rainer Brinkmann, Markus Kosuch und Ralf Nebhuth Im Folgenden wird die Szenische Interpretation von Musiktheater vorgestellt. Dabei sollen zentrale Aspekte der Interpretationsmethode, die bei einer Anwendung auf Instrumentalmusik aufgegriffen werden müssen, deutlich gemacht werden. 3.1. Begriffsbestimmung Die Szenische Interpretation von Musiktheater ist eine musikbezogene Weiterentwicklung des Szenischen Spiels nach Ingo Scheller. Ihre Besonderheit liegt in ihrem konstruktivistischen Ansatz. Szenische Interpretation geht davon aus, dass das Individuum die Bedeutung des betrachteten Gegenstands, ob Musiktheater oder Lied, aufgrund seiner persönlichen Lebenserfahrungen konstruiert. So werden die während des szenischen Spielens entstandenen Situationen sowie Äußerungen, Verhaltensweisen und Motive der darin handelnden Figuren durch die SchülerInnen gedeutet. Dabei ist die Szenische Interpretation keinesfalls willkürlich oder subjektivistisch, weil sie unter Anleitung eines Spielleiters stattfindet, der darauf achtet, dass die individuellen Bedeutungskonstruktionen veröffentlicht, zur Diskussion gestellt und in einer Gruppe reflektiert werden. (ISIM 2006). Die einzelnen Verfahren der Methode sind auf eine pädagogisch inszenierte Darstellung von Inhalten durch Gruppen unter wesentlicher Zuhilfenahme der Elemente des Körper- und Bewegungsausdruckes sowie der Körpersprache (ISIM 2006) ausgerichtet. Zum szenischen Spielen kommt die musikalische Tätigkeit hinzu, die eine weitere Interpretationsebene öffnet. Zugunsten des szenischen Spielens werden herkömmliche musikalische Tätigkeiten wie Singen oder Instrumentalspiel zurückgenommen und durch Haltungen zur Musik oder gestisches Singen ersetzt (vgl. Stroh 2007a). Die musikalische Tätigkeit ist dabei an eine sozialhistorische, politische oder gesellschaftliche Situation gebunden, die ihren Ausgangspunkt in der sozialen Gesamtsituation des Werkes hat. Jene wird zunächst spielerisch erfahren, um dann einzelne Teile musikalisch zu erarbeiten (vgl. Jank 2009, S. 181). 10

3.2. Anliegen Ziel der Szenischen Interpretation ist es, dass sich die Spielenden Musik auf eine aktive, selbstbestimmte, bewusste und soziale Art und Weise aneignen (Stroh 2007b, S. 7). Dabei wird das Musikwerk selbst als eine Form der Wirklichkeitsaneignung betrachtet, da in ihm Erlebnisse und Erfahrungen von Menschen verarbeitet sind. Die SchülerInnen werden bei der Szenischen Interpretation selbst tätig, eigene Fantasien und Ideen werden aufgegriffen, umgesetzt und durch Einsatz reflexiver Verfahren bewusst gemacht. All dies geschieht in einer sozialen Gruppe, in der die SchülerInnen miteinander agieren und aufeinander eingehen müssen. Durch diese Art der Auseinandersetzung mit Musik findet die Auflösung eines spezifischen Kunstwerkcharakters (Stroh 1994, S. 17) statt und macht das musikalische Werk für die SchülerInnen und ihre Erfahrungswelt durch subjektive Deutung zugänglich. Lernen, als das angeleitete Machen von Erfahrungen (Nebhuth/ Stroh 1990, S. 10), beschränkt sich dabei nicht auf musikalische Erfahrungen. 10 In einem Werk sind durch die dort enthaltene Wirklichkeit Themen erkennbar, die auch den Erfahrungsalltag der SchülerInnen bestimmen. 11 Durch Reflexionsverfahren werden die SchülerInnen angestoßen eigene Ansichten zum Thema zu hinterfragen und so immer auch etwas über sich selbst zu erfahren. 3.3. Struktur und grundlegende Verfahren Strukturiert wird der Prozess der Szenischen Interpretation von Musiktheater durch den Ablauf in Phasen. So wird eine intensive Auseinandersetzung mit dem Musikwerk gewährleistet. Phase 1: Vorbereitung Phase 2: Einfühlung Phase 3: Szenisch-musikalische Arbeit Phase 4: Ausfühlung Phase 5: Reflexion 10 Zur Schwierigkeit des Begriffs der musikalischen Erfahrung siehe Punkt 4.3., S. 32 f. 11 So wird beispielsweise in der Oper Carmen die Geschlechterrolle jener Zeit thematisiert (vgl. Nebhuht/ Stroh 1990). 11

Während in kurzen Unterrichtseinheiten oder Verwendung einzelner Bausteine im Unterricht die Phasen der Vorbereitung und Ausfühlung weggelassen werden können, ist das Vorhandensein der Phasen Einfühlung, Szenisch-musikalische Arbeit und Reflexion für die Szenische Interpretation konstitutiv (vgl. Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 4). Dabei erfolgt Reflexion als Phase am Ende des Spielprozesses, um durch Aufarbeiten des Gesamtprozesses die Umwandlung von Erlebnissen zu Erfahrungen zu ermöglichen. Darüber hinaus steht sie in Wechselbeziehung zur szenisch-musikalischen Arbeit, in dem dort reflexive Verfahren integriert werden, um Erlebnisse an Ort und Stelle zu Erfahrungen zu verarbeiten: Die Integration eines Reflexionsprozesses in den Spiel- und Arbeitsprozess selbst ist einer der wichtigsten Aspekte szenischer Interpretation. (Kosuch 2007, S. 11) Auch Verfahren der Einfühlung können in die Szenisch-musikalische Arbeit mit einfließen, etwa wenn dort Figuren in oder nach Szenen nach ihren Erlebnissen und Gedanken befragt werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass sich die Phasen nicht klar gegeneinander abgrenzen lassen, sondern für das jeweilige Spielkonzept sinnvoll ineinandergreifen. Für das Verständnis der Szenischen Interpretation von Musiktheater und ihre spätere Übertragung auf Instrumentalmusik sollen die Phasen mit ihrem Anliegen und grundlegenden Verfahren kurz vorgestellt werden. 12 Phase 1: Vorbereitung Vorbereitung des Spielraumes der Einfühlung szenisch- musikalischer Arbeit durch Warm-Ups In der Phase der Vorbereitung wird der Spielraum für die Szenische Interpretation strukturiert. Dazu gehört das Herrichten einer Spielfläche zu Beginn des Spielprozesses, die durch Kreidestriche auf dem Boden oder symbolische Barrieren wie Stühle in den Ecken begrenzt wird und für alle einsehbar ist. Für einzelne Szenen positionieren die darin agierenden SpielerInnen Requisiten auf der Spielfläche und erklären diese. Für Brinkmann, Kosuch und Stroh (2001, S. 9) ist das 12 Die Ausführungen stützen sich im Wesentlichen auf den Methodenkatalog von Brinkmann, Kosuch und Stroh (2001). 12

Herrichten des Spielraumes [ ] selbst ein theatralischer Akt und sollte mit entsprechender Zeit und Sorgfalt durchgeführt werden. Die Einfühlung kann durch das Ausgeben von Rollenkarten und die Erstellung von Besetzungslisten vorbereitet werden. Die szenisch-musikalische Arbeit wird durch Warm-Ups vorbereitet. Diese weisen einen inhaltlichen Bezug zum Spielkonzept auf und gehen auf musikalische Basiserfahrungen zurück (vgl. Stroh 2007a, S. 91), die so elementar wie nur möglich sind. Dabei kann es sich um einen für das Werk typischen Klang, ein vorherrschendes Rhythmusmodell, einen grundlegenden Bewegungsablauf oder eine Geste handeln. Durch Ausprobieren unterschiedlicher Körperhaltungen kann auch schon in die szenische Arbeit eingeführt werden. Insgesamt können Warm-Ups die bei vielen SchülerInnen vorliegenden Hemmungen in Bezug auf eigenes Singen und Bewegen lockern. Phase 2: Einfühlung Ebenen der Einfühlung In Rollen, Gruppen oder soziale Milieus In komplexe Situationen, Konflikte oder Szenen In einzelne Handlungen Die Einfühlungsphase ist von enormer Wichtigkeit, da das gesamte Geschehen im Spielprozess zwischen Ein- und Ausfühlung aus der Rolle heraus erlebt wird (vgl. Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 10). Die Phase dient dem Aufbau eines Rollenschutzes, aus dem heraus ein Zugang zu den Motiven der gespielten Figur möglich wird, ohne eigene Ansichten offenbaren zu müssen. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich von ihrer eigenen Situation lösen und sich auf fremde Perspektiven und Haltungen einlassen, müssen sich in Figuren hineinversetzen und deren bewusste und unbewusste Handlungsmotive ergründen. Sie müssen erforschen, welche Wahrnehmungen und Empfindungen, welche Erwartungen, Intentionen und Wünsche die Figuren umtreiben und welche Aspekte ihr Verhalten beeinflusst haben könnte (Scheller 2004, S. 50) Hinzu kommt die Möglichkeit im Schutz der Rolle auch ungewöhnliches sogar von der Norm abweichendes Verhalten öffentlich darstellen zu können, ohne dafür sanktioniert zu werden. Dies kann nur durch eine systematische Anleitung der Einfühlung erreicht werden (vgl. Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 51). 13

Die Einfühlung in Rollen, Gruppen oder soziale Milieus geht aller szenischmusikalischen Arbeit voraus. Zur individuellen Einfühlung gehört neben dem Lesen von Rollenkarten und dem Schreiben einer Rollenbiografie auch die szenische Arbeit mit Haltungen, wie das Erproben individueller körperlicher Haltungen und Verhaltensweisen und das Entwickeln einer Sprechhaltung. Anschließend kann durch Informationsmaterial zur historischen Situation eine kollektive Einfühlung in Lebenssituation und Sozialisation der Figuren durchgeführt werden. Ebenfalls möglich ist eine musikbegleitete Fantasiereise, die zum historischen Ort der Handlung führt. Die Einfühlung in Situationen, Konflikte oder Szenen erfolgt während der szenisch-musikalischen Arbeit. Hierfür eignet sich insbesondere die Darstellung von Figurenkonstellationen, bei denen Beziehungen und mögliche Abhängigkeiten der Figuren untereinander deutlich werden. Darüber hinaus können die Figuren nach ihren Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten in Bezug auf die kommende Spielphase befragt werden. Die SchülerInnen werden sich so über die Beweggründe ihrer Rolle klar und können diese in das szenische Spiel einfließen lassen. Die dritte Ebene der Einfühlung betrifft die einzelne Handlung während des szenischen Spiels. Dabei werden in und nach der Szene Rollenbefragungen durchgeführt. Der Spielleiter fragt nach Geschehnissen, den Erlebnissen, den Konsequenzen und dem, was die Figuren gerade übereinander denken (Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 19). Es werden Erlebnisgespräche geführt, bei dem die SpielerInnen im Dialog mit dem Spielleiter das Erlebte noch einmal Revue passieren lassen und aus ihren Rollen heraus dazu Stellung nehmen (Scheller 2004, S. 55). Das Bewusstwerden der gemachten Erlebnisse fördert das Verarbeiten zu Erfahrungen im Rahmen der Reflexion. Phase 3: Szenisch-musikalische Arbeit Szenisch-musikalische Arbeit Präsentation Haltungen Bilder Szenisches Spielen Präsentation 14

Der Begriff der Haltung ist ein zentraler Begriff der Interpretationsmethode: Wenn ich hier von Haltungen spreche, dann meine ich damit nicht nur das, was jemand über seinen Körper, also über Körperhaltung (etwa Kopf-, Rumpf-, Arm- und Beinstellungen und bewegungen), Gebärden und Mimik ausdrückt, sondern das Gesamt von inneren Einstellungen, Gefühlen, Vorstellungen und sozialen Orientierungen und äußeren körperlichen und sprachlichen Ausdrucks- und Handlungsweisen, wie es sich in verschiedenen sozialen Situationen realisiert. (Scheller 1987, S. 59) Haltung meint hier sowohl einen äußeren körperbezogenen Ausdruck wie auch einen nach außen getragenen inneren Ausdruck. Beide sind oftmals der bewussten Kontrolle entzogen und können somit in der Selbst- und Fremdwahrnehmung verschieden sein (vgl. Scheller 1987, S. 59). Eine Arbeit mit Haltungen ist also gleichzeitig schon eine Reflexion äußerer und innerer Ausdrücke. Im Methodenkatalog von Brinkmann, Kosuch und Stroh wird der Begriff der Haltung von Scheller um Haltungen die musikalisch vermittelt sind (Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 21) erweitert. Dazu gehören Hör-, Sing- und (instrumental-musikalische) Spielhaltungen. So werden rein szenische Haltungen mit musikalischen Tätigkeiten in Verbindung gebracht und die szenischen Vorgänge, aus denen die Haltungen resultieren, gleichzeitig durch sie interpretiert. Dabei können Geh- und Körperhaltungen von Figuren zur Musik eingenommen und bei Veränderung der Musik angepasst werden. Auch können individuelle, zu Text und Charakter der Musik passende, Singhaltungen eingenommen werden. 13 Während die Haltung etwas Dynamisches ist, handelt es sich bei Bildern um Verfahren, in denen eine Handlung fixiert ist, also eine fotografische Momentaufnahme (Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 29). Dazu werden Standbilder, Soziogramme oder Denkmäler gebaut, modelliert und kommentiert. Die ersten beiden stellen die Figuren in bestimmten Situationen mit ihren Beziehungen zueinander dar. So können Erwartungen, Empfindungen, Zuneigung, Abneigung etc. öffentlich dargestellt werden. Denkmäler hingegen zeigen auf einer abstrakteren Ebene Begriffe, welche zentral für das Geschehen sind. Das szenische Spielen umfasst den Bereich des Spielens mit vorgegebenem Text und die szenische Improvisation. Beim Spielen mit Text erfolgt ein beabsichtigter Verfremdungseffekt, der dem Rollenschutz dient (vgl. Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 37). Dieses szenische Spielen kann auch zur Musik erfolgen, etwa wenn im Musiktheaterwerk ein Dialog von Musik untermalt wird. Bei der szenischen 13 Spezifisch musikalische Verfahren der Szenischen Interpretation von Musiktheater werden unter Punkt 4.2.3., S. 26 f. ausführlicher aufgegriffen. 15

Improvisation werden keine festen Szenenabläufe dargestellt, sondern ein bestimmtes Problem, eine Situation oder eine Beziehungsstruktur mit ihren verschiedenen Lösungsmöglichkeiten durchgespielt. Zur Verarbeitung von Erlebnissen zu Erfahrungen ist nach Scheller die Veröffentlichung nötig. Brinkmann, Kosuch und Stroh nennen diesen Vorgang Präsentation. Damit ist jedoch keine Präsentation im Sinne einer Aufführung vor Publikum gemeint. Vielmehr bezieht es sich auf die Veröffentlichung von Ergebnissen aus der Einfühlungsphase und in der szenisch-musikalischen Arbeit entstandenen Haltungen und Bildern. So können Rollenbiografien vorgelesen sowie Figuren mit ihren individuellen Haltungen präsentiert werden. Die beschriebene szenisch-musikalische Arbeit weist eine Körperorientierung auf, die den Schüler- Innen die ungewohnte musikalische Tätigkeit und ihre Veröffentlichung erleichtert. [Die] körperbezogenen Spielsituationen erleichtern es den SchülerInnen ganz erheblich musikalische Gesten frei zu äußern, musikalische Haltungen einzunehmen, sich zu Musik zu bewegen und auf Instrumenten zu spielen. Im szenischen Spiel ist die musikalische Tätigkeit ja eine Inszenierung und keine Konzertvorführung! (Stroh 1994, S. 13) Phase 4: Ausfühlung Ebenen der Ausfühlung Aus einzelnen Handlungen Aus komplexen Situationen, Konflikten oder Szenen Aus Rollen, Gruppen oder soziale Milieus Nach der szenisch-musikalischen Arbeit einer Szene erfolgt die Ausfühlung. Diese ist der zur Einfühlung komplementäre Prozeß [!]: die TeilnehmerInnen werden aus ihrer Rolle entlassen. Die Ausfühlung findet noch in der Szene statt, die TeilnehmerInnen befinden sich noch in ihrer Rolle (Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 50). Die SpielerInnen bleiben auf der Spielfläche und der Spielleiter führt mit ihnen ein Gespräch, bei welchem gefragt wird, was die Figur gerade denkt, fühlt, erwartet und weiterhin vorhat. Diese Ausfühlung ist individuell auf die jeweilige Figur ausgerichtet. Eine andere Möglichkeit der Ausfühlung ist die Ausrichtung auf das Geschehene, indem die Figuren befragt werden, was gerade 16

vorgefallen ist. Diese Formen der Ausfühlung werden als Ausfühlung aus Handlungen oder komplexen Situationen durchgeführt. Bei der Ausfühlung als eigenständiger Phase verabschieden sich die SchülerInnen gemeinsam von ihrer Rolle, etwa durch Abwerfen eines ihre Rolle symbolisierenden Kleidungsstücks in die Kreismitte (Vgl. Brinkmann/ Kosuch/ Stroh 2001, S. 51). Den SchülerInnen soll so bewusst werden, dass sie nun nicht mehr aus ihrer Rolle heraus agieren, sondern wieder als sie selbst. Phase 5: Reflexion Reflexion In der Rolle Außerhalb der Rolle Durch Reflexion in der Rolle werden durch Deutung und Verfremdung des Wahrgenommenen Voraussetzungen, Wirkungen und mögliche Alternativen zum Handlungsgeschehen sichtbar gemacht. Dazu werden die SchülerInnen nach einzelnen Szenen mit Perspektiven anderer SpielerInnen oder BeobachterInnen, welche nicht selbst in der Szene agieren, konfrontiert. So werden äußere Verhaltensweisen, durch Nachahmen von Haltungen oder das Modellieren von Standbildern zur Analyse von Beziehungskonstellationen, gedeutet. Die szenischen Verfahren werden hier zu reflexiven Verfahren. Die erfahrungs- und sachbezogene Reflexion außerhalb der Rolle stellt eine in sich geschlossene Phase dar. Es handelt sich um ein Feedback, welches Brinkmann, Kosuch und Stroh in ihrem Methodenkatalog als Rückkopplungsprozess (2001, S. 53) verstehen. Dabei werden zunächst erfahrungsbezogen Gefühle, Beobachtungen etc. im Rahmen eines Blitzlichts veröffentlicht. Sachbezogen können Stellungnahmen zu konkreten Spielszenen gemacht werden. Bei der Spielerreflexion schließlich bringen die Schüler selbst zum Ausdruck, wie sie sich selbst und andere im Spiel und in der Rolle wahrgenommen und erlebt haben, welche Emotionen und Erinnerungen dabei wachgerufen wurden und wie sie die Rolle und das Verhalten der Figur, die sie übernommen haben, einschätzen. Diese Form der Reflexion ist für die Spielerinnen und Spieler auch deshalb wichtig, weil sie ihnen Gelegenheit gibt, sich wieder von der Rolle zu lösen bzw. sich von ihr zu distanzieren und eigene Erlebnisse zu verarbeiten. (Scheller 2004, S. 57) Die Reflexion ist die wichtigste Phase der Szenischen Interpretation, da in ihr die Erlebnisse zu Erfahrungen verarbeitet werden. 17

3.4. Schaffung eines Erfahrungsraumes Die beschriebenen Phasen dienen, über ihr jeweiliges Anliegen hinaus, der Strukturierung eines Erfahrungsraumes zum Verstehen von Musik durch Bedeutungskonstruktion (vgl. Kosuch 2007, S. 11). Dieser Erfahrungsraum wird durch Warm-Ups geöffnet und mit dem Einfühlen in die Rollenperspektive betreten. Bei der szenisch-musikalischen Arbeit haben die SpielerInnen die Möglichkeit sich kreativ forschend und handelnd im Erfahrungsraum zu bewegen (Kosuch 2007, S. 11; Hervorhebung im Original). In der Phase der Ausfühlung wird der Erfahrungsraum wieder verlassen und in der Reflexionsphase noch einmal betrachtet und dem eigenen Verstehen zugänglich (Kosuch 2007, S. 11) gemacht. Am Ende der Szenischen Interpretation schließt sich dieser Erfahrungsraum wieder. Der Raum wird während des Vorgangs durch die Methode der Szenischen Interpretation, den Interpretierenden mit seinem sozialen und biografischen Hintergrund sowie den äußeren Gegenstand, dem Musikwerk, begrenzt. Der während der Szenischen Interpretation entstehende Erfahrungsraum wird durch den Spielleiter zur Verfügung gestellt. Er moderiert und inszeniert den Interpretationsprozess, den Prozess der Begegnung mit Musik, indem er Spielregeln definiert. Er ist nicht Musik-/ Kunstvermittler im Sinne des Belehrenden oder des über Musik Informierenden. [ ] Er öffnet den Spiel-Raum, der inhaltlich von den Beteiligten/ Spielern gefüllt wird und in dem diese ihre (gemeinsame) Interpretation von Musik entwickeln, Bedeutung von Musik konstruieren. (Kosuch 2007, S. 15) Dafür plant der Spielleiter inhaltlich, ziel- und situationsorientiert den Einsatz szenischer Verfahren und stellt Material für diese zur Verfügung. Zudem muss er die Methoden anschaulich erklären und vorführen können, denn nur durch eine korrekte Anwendung der Verfahren kann das Ziel des Erfahrungen-Machens erreicht werden. Man könnte den Spielleiter deshalb auch als Prozessorganisator (Kosuch 2007, S. 15) bezeichnen. Daneben ist er Impulsgeber und Beobachter. Er greift inhaltliche Entscheidungen der SchülerInnen auf und kann diese vertiefen lassen, außerdem ist er in Rollengesprächen Gesprächspartner und gibt Impulse für die Reflexion. Als Beobachter achtet der Spielleiter auf die Einhaltung des Rollenschutzes und gibt den SchülerInnen damit Sicherheit für das szenische Spielen und die Reflexion (vgl. Scheller 2004, S. 59). 18

3.5. Zusammenfassung Die Szenische Interpretation von Musiktheater wird strukturiert durch den Ablauf in fünf Phasen, der die Schaffung eines Erfahrungsraumes zur Aneignung von Wirklichkeit durch Bedeutungskonstruktion ermöglicht. Dazu bedarf es einer diesen Konstruktionsprozess unterstützenden Auswahl geeigneter Verfahren durch den Spielleiter. Dieser begreift sich als Prozessorganisator und begleitet die SchülerInnen auf dem Weg zu ihrer eigenen Interpretation des Musiktheaterwerks. Die Szenische Interpretation knüpft dabei an Erfahrungen der SchülerInnen an und ermöglicht ihnen neue Erfahrungen im Umgang mit dem Lerngegenstand. 4. Szenische Interpretation von Instrumentalmusik Die Szenische Interpretation von Musiktheaterwerken ist einleuchtend, schließlich besitzen sie eine in Text festgeschriebene Handlung. Sie enthalten Arien oder Lieder, in denen Gefühlszustände besungen und Handlungen vorangetrieben werden. In dieser Arbeit soll eine Anwendung der Szenischen Interpretation auf Instrumentalmusik erfolgen, eine Musikgattung, die weder einen zugrundeliegenden veröffentlichten Text hat wie das Musiktheater, die Oper, das Ballett oder Lieder, noch einen Titel wie die Programmmusik. So muss als Erstes gefragt werden, wie ein Werk der Instrumentalmusik mit dem Begriff der Szene in Zusammenhang gebracht werden kann, um Gegenstand einer Szenischen Interpretation zu sein. 4.1. Instrumentalmusik als Szene Für die Herstellung eines Zusammenhangs nützt die Bestimmung einer Szene als Schauplatz einer [Theater-] handlung. So könnte man, wenn man Instrumentalmusik als Szene begreift, das Werk selbst als Schauplatz von Handlungen auffassen. Es stellt sich jedoch die Frage, welche Handlungen dies sein könnten, also welche Szenen in einem Instrumentalmusikwerk zu finden sind. Um dies zu klären, soll der Begriff der Szene bei Ingo Scheller aufgegriffen werden: Eine Szene nenne ich eine räumlich und zeitlich begrenzte soziale Situation, in der Menschen mit bestimmten Intentionen und Erwartungen, Wahrnehmungen und Gefühlen körperlich und sprachlich (inter-)agieren und sich wechselseitig zueinander in Beziehung setzen. Was der Mensch wahrnimmt, gehört zur Szene: der Raum, die Gegenstände, Menschen mit ihren Bewegungen und Handlungen, Geräusche und Gerüche, Geschmack, Berührungen und die Temperatur, aber auch Vorstellungen und Emotionen, die mit diesen Eindrücken verbunden werden. (Scheller 2004, S. 22; Hervorhebung im Original) 19

Ergänzt man diese Auffassung durch den tätigkeitspsychologischen Ansatz Strohs, lassen sich neben Intentionen, Erwartungen und Gefühlen auch die Motive des tätigen Menschen zur Szene zählen. Unter Szene kann demzufolge eine soziale Situation verstanden werden, in welcher der Mensch aus Motiven heraus seine Umgebung in bestimmter Weise wahrnimmt und in ihr handelt. Mit dem Hintergrund der Szene als soziale Situation lässt sich ein Zusammenhang zum Instrumentalmusikwerk herstellen. Ein Musikwerk entsteht nicht im leeren Raum, sondern ist Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit, des Komponisten, mit seinen lebensgeschichtlichen wie musikalischen Erfahrungen sowie dem sozialen Kontext seiner Zeit. Darüber hinaus erfolgt die Rezeption des Werkes individuell durch die Wahrnehmungen des Hörers, welche durch dessen sozialen Kontext bestimmt sind. Soll ein Instrumentalmusikwerk szenisch interpretiert werden, müssten die sozialen Situationen in konkrete Spielszenen übertragen werden, um sie für die SchülerInnen erfahrbar zu machen. Im Folgenden sollen deshalb Überlegungen angestellt werden, welche sozialen Situationen im Zusammenhang mit einem Instrumentalmusikwerk stehen können, und wie diese in eine Spielszene zu übertragen sind. Zu diesem Zweck soll im Hinblick auf die Entwicklung eines Spielkonzepts zwischen der (akustisch hörbaren) Musik und ihrer Wahrnehmung durch den Hörer und den geschichtlichen und sozialen Hintergründen des Werks sowie individuellen Umgangsweisen mit der Musik durch Komponist oder Interpreten unterschieden werden. 4.2. Soziale Situationen eines Instrumentalmusikwerkes und ihre Übertragung in Spielszenen 4.2.1. Die Musik als Szene Zunächst befindet sich der Hörer selbst in einer sozialen Situation, wenn er ein Musikstück hört. Er nimmt das Musikstück vor dem Hintergrund seiner gegenwärtig erlebten sozialen Situation (Gegenwartsbezug) wahr. Diese ist wiederum bestimmt durch seine in der Vergangenheit erfahrenen sozialen Situationen (biografischer Hintergrund/ Vergangenheitsbezug). Somit wird ein klangliches Geschehen vom hörenden Subjekt auf individuelle Weise umgeformt, oder anders ausgedrückt: Das hörende Subjekt begegnet dem klanglichen Geschehen, in dem es sich mit seinem Bezugssystem einbringt und dies verändert (Günther 1991, S. 108; Hervorhebung im Original) 20