Grußwort anlässlich des 8. Rosenburg-Symposiums am 16. März 2017 in Leipzig

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Transkript:

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Rennert Präsident des Bundesverwaltungsgerichts Grußwort anlässlich des 8. Rosenburg-Symposiums am 16. März 2017 in Leipzig Sehr geehrte Frau Staatssekretärin Wirtz, sehr geehrter Herr Bundesminister a.d. Dr. Schmude, sehr geehrte Herren Professoren Görtemaker und Safferling, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich heiße Sie herzlich willkommen zum Rosenburg-Symposium im Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts. Das Rosenburg-Symposium tagt nun schon zum achten Mal seit der Einsetzung der Unabhängigen Wissenschaftlichen Kommission beim Bundesministerium der Justiz - damals noch ohne Verbraucherschutz - zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Januar 2012. Geschaffen, um in erster Linie den Umgang des Bundesministeriums der Justiz und seines Zuständigkeitsbereichs mit den persönlichen und politischen Belastungen aus dem Dritten Reich zu untersuchen, suchte die Rosenburg-Kommission von Anfang an den Diskurs mit der Öffentlichkeit. Teil dieser Öffentlichkeitsarbeit sind die Symposien, in denen die Arbeit und die Erkenntnisse der Kommission vor- und zur Diskussion gestellt werden. Nicht nur die Diskussionen, auch die Orte der Symposien werfen dabei Schlag- 1

lichter auf Ereignisse der NS-Vergangenheit oder ihre Aufarbeitung. Als Richter interessieren mich naturgemäß die Gerichte, die in der Vergangenheit ein Symposium beherbergten. Das erste fand im Kammergericht in Berlin statt, in jenem Saal, in dem der Volksgerichtshof tagte und namentlich die Verfahren gegen die Beteiligten am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 verhandelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude Sitz des Alliierten Kontrollrates für Deutschland. Es folgte ein Symposium im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Nürnberg-Fürth, dem Sitzungssaal, in dem die Nürnberger Prozesse stattfanden. 2014 fand das Symposium schließlich seinen Weg in den Bundesgerichtshof in Karlsruhe, dessen Zuständigkeitsbereich mit dem des Reichsgerichts vergleichbar ist und der daher regelmäßig als dessen Nachfolger betrachtet wird. In gewisser Weise schließt sich also der Kreis, wenn wir heute für das achte Rosenburg-Symposium im Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig zusammenkommen. Ich nehme einmal an, dass man damals weniger an die Verwaltungsgerichtsbarkeit dachte, auch wenn das 1952 geschaffene Bundesverwaltungsgericht nicht über jeden Verdacht erhaben war. Man wird eher daran gedacht haben, dass der heutige Sitz des Bundesverwaltungsgerichts bis 1945 die Wirkungsstätte des Reichsgerichts gewesen war. In dem Saal, in dem Sie sich gerade befinden, fand der berühmte Reichstagsbrandprozess statt. Von den fünf damals Angeklagten sprach das Reichsgericht vier frei, einen, den Niederländer Marinus van der Lubbe, verurteilte es zum Tode - nach einer rückwirkenden 2

gesetzlichen Strafmaßverschärfung und damit unter Verstoß gegen den Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege. Heute betrachten wir das Urteil gegen van der Lubbe deshalb als Fehlurteil. Die Nationalsozialisten empfanden die Entscheidung des Reichsgerichts dagegen unter einem ganz anderen Gesichtspunkt als Fehlurteil, nämlich wegen der Freisprüche für die anderen Angeklagten. In der Folge kam es daher zur Errichtung des Volksgerichtshofs in Berlin. Auch insoweit schließt sich also ein Kreis. Nicht nur örtlich, auch thematisch spannt die heutige Veranstaltung einen Bogen zu den vergangenen Symposien. Dienten die zurückliegenden Symposien vor allem der Vorstellung des Projekts und einzelner Forschungserkenntnisse, geht es diesmal um eine Gesamtbetrachtung und -bewertung der Akte Rosenburg. Dazu Stellung zu nehmen, steht mir nicht an; hier stehen Berufenere bereit. Freilich bietet schon die Einladung zum diesjährigen Symposium Anlass zum Nachdenken, Nachfragen, Nachhaken. Dort heißt es, die Akte Rosenburg räume mit dem Missverständnis auf, dass es nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur in Staat und Gesellschaft eine Stunde Null gegeben habe. Kann es überhaupt eine Stunde Null in der Geschichte eines Landes geben, im Sinne eines totalen Neuanfangs, ohne irgendeinen personellen oder sachlichen Bezug zu der Zeit davor? Das Rosenburg-Projekt zeigt uns, dass eine so verstandene Stunde Null nicht existiert. Auch wenn Regime, Staat und System der Nazidiktatur 1945 zusammenbrachen, waren doch die Menschen, die im Dritten Reich lebten und wirkten, noch da. Völlig neue Menschen entwickeln sich nicht über Nacht und schon gar nicht von einer Stunde zur anderen. Das kann man auch als Problem formulieren: Jeder Neuan- 3

fang muss mit dem alten Personal auskommen. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Das wissen natürlich auch diejenigen, die einen Neustart ins Werk setzen. Kein Neustart kommt ohne Regelungen aus, die Antworten auf das Bisherige geben, Lehren ziehen und sich auch - verklausuliert oder ganz direkt - an das alte Personal richten. Jede neue Verfassung enthält Antworten auf die Fragen, die die alte Ordnung aufwarf. Gerade das Grundgesetz lässt sich als Antwort auf die Zeit der Nazi-Diktatur lesen - und auf die Konstruktionsfehler von Weimar, die auch dazu beigetragen haben, dass die Machtergreifung der Nationalsozialisten möglich wurde. Solche Antworten wollen vor einer Wiederholung schützen, auch vor einem Weiterwirken der alten Strukturen und Seilschaften. Das gelingt niemals vollkommen, wie nichts Menschliches vollkommen gelingt. Inwiefern es 1949 und in den Folgejahren im Geschäftsbereich des Bundesjustizministeriums misslungen ist, erfahren wir jetzt. Und wir können auch Lehren über den Neustart der alten Bundesrepublik hinaus ziehen. Gerade dieser Saal, in dem wir uns heute befinden, lädt dazu ein. Dieser Saal hat fünf Systeme und damit vier Systemwechsel gesehen. Das Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts wurde in der wilhelminischen Zeit als Sitz des Reichsgerichts errichtet. Noch heute zeugen hiervon die Kaisergemälde zu Ihrer Linken, der Reichsadler über den Türen zu diesem Saal und die Wappen der fünfundzwanzig deutschen Länder, die 1871 das Reich gründeten. Als aus dem Kaiserreich die Weimarer Republik wurde, behielten das Gebäude wie auch das Reichsgericht ihre Funktion. Auch das Personal blieb im Wesentli- 4

chen dasselbe - mit der Wirkung, dass monarchisch-preußisches Obrigkeitsdenken unter den neuen Verfassungsformen der liberalen Parteiendemokratie subkutan weiterlebte und weiterwirkte. Trotzdem sprach dieses Reichsgericht auch kluge und mutige Urteile, die noch heute als wegweisend empfunden werden. Beim nächsten Umbruch - von der Weimarer Republik zum Dritten Reich - nahmen die neuen Machthaber eine Teilerneuerung des Personals vor; das Gesetz zur angeblichen Wiederherstellung des Berufsbeamtentums trieb jüdische, sozialdemokratische und prononciert christlich gesinnte Richter aus dem Gericht. Ernst Fraenkel konstatierte zwar, dass diese Zäsur auf das unpolitische Zivilrecht - auf das Zivilrecht, soweit es unpolitisch war - keine nennenswerte Auswirkung zeitigte; politisch affizierte Sachen bekamen aber ihre nationalsozialistische Schlagseite, zum Nachteil und oft zum bitteren Leid der Betroffenen. Nach dem Ende des Dritten Reiches geriet Leipzig in die sowjetische besetzte Zone und alsdann in die DDR. Das Gebäude verlor seine Justizfunktion; das Oberste Gericht der DDR residierte in Berlin. Auch die DDR musste ihre Antwort auf die Nazivergangenheit finden. Sie nun versuchte den härtesten Personalaustausch in den hundert Jahren deutscher Geschichte, die ich hier in den Blick nehme. Die bürgerliche und vielfach nazibelastete Richterschaft wurde praktisch komplett ausgetauscht und durch Volksrichter ersetzt, die nun freilich durchweg keine Juristen waren und erst in Schnellkursen angelernt werden mussten. Die Resultate waren verheerend, selbst wenn man sie am sozialistischen Wunschergebnis misst. 5

Als die DDR schließlich scheiterte und sich die auf ihrem Gebiet wiedergebildeten Länder der Bundesrepublik anschlossen, stellte sich 1990 erneut die Frage, wie mit dem bisherigen Richterpersonal umzugehen sei - der vierte Systemwechsel binnen sechzig Jahren. Man entschied sich zu einer Einzelfallprüfung durch Richterwahlausschüsse, die bei positivem Ausgang allenfalls zu einer Übernahme auf Zeit und auf Probe führten. Dieser Filter ließ nur wenige durch - das Ergebnis war fast so rigide wie in der sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg. Glücklicherweise hatte man jetzt aber den Großen Bruder im Westen, der bereit war auszuhelfen, und so ließen sich mit diesem Aushilfspersonal recht zügig neue rechtsstaatliche Justizstrukturen aufbauen. Dieser Saal hier hat vieles von dem bewahrt, was ich hier nur anreißen konnte. Das ist paradoxerweise dem Umstand zu verdanken, dass er zu DDR-Zeiten gerade nicht der Justiz diente. Das alte Reichsgerichtsgebäude beherbergte nach dem Krieg in der Hauptsache das Bildermuseum der Stadt Leipzig und in diesem Saal hier eine Gedächtnisstätte für den Reichstagsbrandprozess und einen der fünf Angeklagten, den bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff. Nur dieser musealen Verwendung ist zu danken, dass uns der Saal in seinem ursprünglichen Zustand erhalten geblieben ist - und dass er Zeugnis gibt von hundertzwanzig Jahren so wechselvoller deutscher Geschichte. Hinter all diesen Umbrüchen stehen politische Entscheidungen, in denen sich Mut und Vorsicht mischen, die glücken oder missglücken. Hinter all diesen Systemfragen von personeller Kontinuität und Diskontinuität verbergen sich Schicksale mit je-eigenen Ratio- 6

nalitäten und Irrationalitäten. Hinter allen Rechtsfragen stehen moralische Fragen. Alles dies kulminiert in der Frage nach der Stunde Null. Dieser Frage nachzugehen, ist auch und vor allem die Aufgabe der historischen Wissenschaft. Dieser Frage nachzugehen, hat sich das Rosenburg-Projekt vorgenommen. Wir dürfen auf seine Ergebnisse gespannt sein. 7