Der Pflegeprozess - Eine Einführung aus pflegewissenschaftlicher Sicht Georg-Streiter-Institut für Pflegewissenschaft Projektauftaktveranstaltung Suhl/Heiligenstadt/Jena, 2006 Prof. Dr. Stephan Dorschner
Ziele dieser Einführung (1) 1. Eröffnung neuer Perspektiven auf den Pflegeprozess 2. Eine neue Perspektive schärft den Blick auf alte Zöpfe bzw. alte Vorurteile
Ziele dieser Einführung (2) 3. Klare Begriffe fördern eine exakte Fachsprache und damit optimale Verständigung 4. Der Pflegeprozess wird in Verbindung mit anderen Instrumenten/Ansätzen gesehen 5. Nicht zuletzt: Schaffung einer gemeinsamen Basis für unser gemeinsames Projekt
Anteil der Bundesbürger, die Ärzten und Pflegepersonal ein besonders hohes Maß an Verantwortung zu schreiben: 89,2% Anteil der Bundesbürger, für die eigene gesellschaftliche Verantwortung am wichtigsten ist: 1,5%
Anteil der Bundesbürger, die sich zutrauen, mit einer eigenen schweren Erkrankung umzugehen: 14,8% Anteil der Bundesbürger, die sich nicht zutrauen, einen nahen Verwandten zu pflegen: 64,8%
Ausgaben der Krankenhäuser pro Pflegetag und Patient: 331,49 davon Ausgaben für den ärztlichen Dienst: 14,9% davon Ausgaben für den Pflegedienst: 26% davon Ausgaben für den medizinischen Bedarf: 16,4% davon Ausgaben für Lebensmittel: 2,1%
1. Definition und Herkunft des Pflegeprozesses Mit zunehmender Professionalisierung der Pflege zeigt sich die Notwendigkeit, Pflege systematisch zu planen und durchzuführen. Der ursprünglich in den USA entwickelte Pflegeprozess ist dafür ein geeignetes Instrument Der Pflegeprozess ist dabei sowohl ein Problemlösungsprozess, als auch ein Beziehungsprozess. Erstmals in Deutschland bei Juchli ca. 1976: Problemerkennen-Problemlösen-Methode (S. 17)
1. Definition und Herkunft des Pflegeprozesses Ursprung in den USA: Pflegetheoretikerinnen: nursing process erscheint erstmals 1967 in einer Veröffentlichung der Katholischen Universität von Amerika Peplau, 1952 Hall, 1955 Johnson, 1959 Orlando, 1961 Wiedenbach, 1964 WHO-Studie (1987): ohne Deutschland
1. Definition und Herkunft des Pflegeprozesses Als Hilfe zu einer therapeutisch immer wirksameren Pflege wird die Problemerkennen- Problemlösen-Methode (problem solving method) empfohlen. Diese Methode besteht, je nach Autor, in fünf bis sieben Schritten. Hanni Spahn (1970), zit. n. Juchli (1976)
1. Definition und Herkunft des Pflegeprozesses Krankenpflege ist als ein Prozess zu betrachten, da die Bedingungen (Pflegenotwendigkeiten), die zur Pflege führen, ständigen Veränderungen unterzogen sind. Es ist notwendig, die Krankenpflege ebenso zu planen wie jede andere Betreuungs- und Behandlungsmaßnahme
Einschub: Begriffsklärungen Theorie als der «Gegensatz von Praxis» i.s. von nicht existent; als «Lehrbuchwissen» i.s. von Handlungsanweisung, Leitfaden; im wiss. Sinne als Erklärungs- bzw. Betrachtungsweise eines bestimmten Phänomens/ eines Ereignisses. = «die umfassende wissenschaftliche Lehre zur einheitlichen Erklärung eines Phänomenbereiches mit dem Ziel einer Systematisierung» Modell Allgemein: Muster, Entwurf, z.b. Architekturmodell; Wissenschaft: materielles oder Gedankenobjekt, das einem Untersuchungsgegenstand in bestimmten Eigenschaften entspricht und für sonst nicht mögliche oder zu aufwendige Untersuchungen/ Erklärungen verwendet wird.
Einschub: Begriffsklärungen Pflegekonzept Ein differenzierter Plan zur Umsetzung eines Pflegeleitbildes in der Praxis. Es beinhaltet Aussagen zum Leistungsangebot der Institution, zur Durchführung geplanter Pflege in der Praxis bzw. zur Gestaltung des Pflegeprozesses, zur Ablauforganisation, den verwendeten Standards, der Dokumentation, dem Anforderungsprofil der MitarbeiterInnen, etc. Pflegeplanung Einerseits: übergeordneter Begriff (geplante Pflege); andererseits: Phase im Pflegeprozess; Methode einer nachvollziehbaren Pflege Pflegerisches Steuerungsinstrument zur Gestaltung der Pflege als a) Problemlösungsprozess b) Beziehungsprozess c) Entwicklungsprozess (Gesundheit, Krankheit, Sterben etc.)
1. Definition und Herkunft des Pflegeprozesses Instrument, um pflegerische Qualität zu entwickeln und überprüfbar zu machen Der Pflegeprozess ist kein (Pflege-) Modell, sondern der systematische Ablauf von Schritten, der bei der Planung und Durchführung der Pflege berücksichtigt wird. Allgemein: problemlösender Ansatz für methodisches Pflegen Systematische und zielgerichtete Arbeitsweise: verschiedene Modelle variable Phasenzahl Die Pflegenden werden während des Pflegeprozesses konstruktiv eine sinnvolle Pflegebeziehung mit dem Patienten beginnen, fortsetzen und wieder beenden. (Arets et al., 1997:265)
1. Definition und Herkunft des Pflegeprozesses Der Krankenpflegeprozess besteht aus einer Reihe von logischen, voneinander abhängigen Überlegungs-, Entscheidungsund Handlungsschritten, die auf eine Problemlösung, also auf ein Ziel hin, ausgerichtet sind und im Sinne eines Regelkreises einen Rückkoppelungseffekt (Feedback) in Form von Beurteilung und Neuanpassung enthalten. (Fiechter & Meier, 1981, S. 30)
2. Rechtliche Grundlagen des Pflegeprozesses Berufsgesetze der Pflege (Krankenpflegegesetz, Altenpflegegesetz) SGB V und XI Qualitätsprüfungsrichtlinien (QPR)
2. Rechtliche Grundlagen des Pflegeprozesses... im 4 wird als ein zentrales Ausbildungsziel neben anderen die sach- und fachkundige, umfassende, geplante Pflege des Patienten festgeschrieben, wobei der Pflegeprozess die (schriftliche) Dokumentation in alle seinen Phasen einbezieht (vgl. dazu z.b. Kurtenbach/Golombek/ Siebers 1992, S. 115-119). (Krankenpflegegesetz, 1985)
2. Rechtliche Grundlagen des Pflegeprozesses 3, (1) Die Ausbildung... soll entsprechend dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher, medizinischer und weiterer bezugswissenschaftlicher Erkenntnisse fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenzen zur verantwortlichen Mitwirkung insbesondere bei der Heilung, Erkennung und Verhütung von Krankheiten vermitteln. (Krankenpflegegesetz, 2003)
2. Rechtliche Grundlagen des Pflegeprozesses 1. die folgenden Aufgaben eigenverantwortlich auszuführen: a) Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs, Planung, Organisation, Durchführung und Dokumentation der Pflege, b) Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege, c) Beratung, Anleitung und Unterstützung von Patientinnen und Patienten und ihrer Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit, d) Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder des Arztes,
2. Rechtliche Grundlagen des Pflegeprozesses... im 3: soll die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln, die zur selbständigen und eigenverantwortlichen Pflege einschließlich der Beratung, Begleitung und Betreuung alter Menschen erforderlich sind... insbesondere: 1. die sach- und fachkundige, den allgemein anerkannten pflegewissenschaftlichen, insbesondere den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen entsprechende, umfassende und geplante Pflege,... (Altenpflegegesetz AltPflG, 2003)
3. Verschiedene Pflegeprozessmodelle A) Pflegeprozessmodell nach Helen YURA & Mary B. WALSH (1967, 5. Auflage 1988) Untersuchung (Assessing) Planung (Planning) Durchführung (Implementing) Evaluation (Evaluating)
3. Verschiedene Pflegeprozessmodelle B) Pflegeprozessmodell der WHO-Studie (1987) Feststellung des Pflegebedarfs des Patienten/Klienten (Datensammlung) Pflegeplanung Durchführung des Pflegeplans Erfolgskontrolle und Feedback
3. Verschiedene Pflegeprozessmodelle C) Pflegeprozessmodell nach Verena FIECHTER und Martha Meier Systematische patientenorientierte Pflegeplanung = Krankenpflegeprozess Problemlösungsprozess: 6 Schritte Beziehungsprozess: Der Problemlösungsprozess wird erst wirksam durch die Qualität der Beziehung, die zwischen Schwester und Patient zustande kommt. (Fiechter/Meier, 1992:32)
3. Verschiedene Pflegeprozessmodelle Juchli, 1994 (7. Auflage): Informationssammlung/ Pflegeanamnese Erfassen und Einschätzen der Probleme und Ressourcen des Patienten Formulieren von Pflegezielen Planung der Pflegehandlungen Beurteilung der Pflegewirkung, Pflegebericht Juchli, 1997 (8. Auflage): Informationssammlung/ Pflegeanamnese Problemdefinierung und Ressourcenklärung Zielvereinbarung/ Zielformulierung Ableiten von Pflegemaßnahmen/Planung der Pflegehandlungen Pflegeintervention/ Durchführung der Pflegemaßnahmen Beurteilung der Wirkung der Pflege
4. Einflussfaktoren auf den Pflegeprozess A) Qualifikation von Pflegenden Kommunikationsfähigkeiten (erforderlich für die Informationssammlung und den Austausch mit anderen) Einschätzungsfähigkeiten (um Probleme einschätzen zu können) Fundierte Kenntnisse aus der Pflegewissenschaft (um Einschätzungsinstrumente anzuwenden und geeignete Pflegemethoden zu wählen) Hintergrundwissen aus anderen Wissenschaften, z. B. Medizin, Psychologie (um den Zusammenhang von Pflegeproblemen zu deuten)
4. Einflussfaktoren auf den Pflegeprozess B) Arbeitsorganisation Pflegesystem (Zuordnung von Pflegenden zu den Pflegebedürftigen Stichwort: Beziehungsprozess) Personelle Voraussetzungen: eine gewisse Anzahl an ausgebildeten Pflegenden ist unabdingbar, ebenfalls die Unterstützung dieser Pflegenden in fachlichen Fragen durch kompetente Leitungen. (Ansätze: Fallbesprechungen, Pflegevisiten) Zeitliche Ressourcen Materielle Voraussetzungen: Ein logisch aufgebautes Pflegedokumentationssystem muss die Schritte des Pflegeprozesses leicht lesbar machen und übersichtlich präsentieren können.
5. Aktuelle Diskussionen rund um den Pflegeprozess In der 100. Jubiläumsausgabe der Zeitschrift Dr. med. Mabuse stellt Bartholomeyczik (1996) in einem Artikel zum aktuellen Stand der Pflege und Pflegewissenschaft fest: Dieser Pflegeprozess, der noch heute oft nur rudimentär umgesetzt wird, wurde zu Beginn der achtziger Jahre als Einzug wissenschaftlicher Kriterien in der Pflege gefeiert und als Lösung vieler Berufsprobleme überbewertet. (S. 43).
4. Aktuelle Diskussionen rund um den Pflegeprozess Gründe für das Scheitern einer erfolgreichen Einführung des Pflegeprozesses mangelnde Kompetenz/mangelnde Professionalität/ mangelnde Qualifikation der Pflegenden; Begrenztheit des Pflegeprozesses als Instrument; fehlerhafte Organisation bei der Einführung. (modifiziert nach Stratmeyer, 1997)
5. Schlussfolgerungen Der Pflegeprozess braucht die Verknüpfung mit geeigneten Assessmentinstrumenten zur objektiven Messung des Pflegebedarfes (Abbildung der Pflege als ein komplexes Geschehen) als Voraussetzung für eine optimale Planung und Bewertung pflegerischer Interventionen. Der Pflegeprozess hat eine didaktische Funktion, er muss verinnerlicht sein und kann dann handlungsleitend wirken. Die reine technokratische Anwendung z.b. in der Dokumentation ist abzulehnen (Stichwort: kritische Reflektion).
5. Schlussfolgerungen Die Pflegequalität verbessert sich nur, wenn zeitgleich die Arbeitsorganisation in Richtung Bezugspersonenpflege verändert wird. Aiken et al. (2002): Die Anzahl Todesfälle infolge von Komplikationen nimmt zu, je mehr Patienten eine Pflegefachperson betreuen muss. Die erfolgreiche Umsetzung des Pflegeprozesses in der Pflegepraxis braucht Pflegewissenschaft und Pflegeforschung (Stichworte: EBN, wissenschaftlich reflektierte Erfahrung, Theorie-Praxis-Transfer)
5. Aktuelle Diskussionen rund um den Pflegeprozess Insgesamt ist festzustellen, dass Kritik am Pflegeprozess zunehmend geäußert wird, die Ursachenforschung und die Erarbeitung angepasster Lösungen sich aber noch ganz am Anfang befinden. Von einem endgültigen Scheitern kann m.e. deshalb nicht gesprochen werden. Genau hier setzt jedoch unser Projekt an.